A2. Die Gegensätze suchen und lieben sich.

Den klugen Griechen scheinen diese Schwierigkeiten nicht unbemerkt geblieben zu sein; denn schon früh sehen wir ihre Weisen auf den entgegengesetzten Satz geraten, wonach alles in der Welt in Gegensätze auseinander treten soll, die sich dann wieder suchen und lieben müssen. So sei z. B., sagen sie, Holz gegen Holz gleichgültig, aber nicht gegen Feuer, sondern das Feuer stürze sich darauf und vereinige sich damit in verzehrender Liebe. Ebenso sind der Mann und das Weib entgegengesetzt und gerade deshalb durch Liebe verbunden. Der Reiche liebt den Dürftigen, um seinen Reichtum verwerten zu können; der Dürftige den Reichen, um seine Leere auszufüllen. So liebe nicht der Arzt den Arzt, sondern der Arzt suche die Kranken, und die Kranken den Arzt. So beruhe die ganze menschliche Gesellschaft auf Gegensätzen von Adel und Pöbel, von Reichthum und Armuth, Freien und Sklaven, Wissenden und Unwissenden, Guten und Schlechten, Heeren und Knechten, die alle einander wechselseitig bedürften und deshalb wegen des Gegensatzes zur Vereinigung gezwungen würden, die Gesellschaft und der Staat sei aber ein Werk der Liebe.

Diese Erklärung hat nun denselben Mangel wie die früheren, indem sie bloß eine Tatsache verallgemeinert, ohne doch einen einleuchtenden Grund für die Tatsache zu gewinnen; denn weshalb die Gegensätze, die sich doch ausschließen und von einander entfernen, je mehr sie entgegengesetzt sind, sich gerade umgekehrt suchen und lieben sollen, das kann nicht klar werden. An den einzelnen Beispielen sieht man diesen Mangel ganz deutlich; denn der Arzt liebt den Patienten und der Patient den Arzt nicht wegen des Gegensatzes, sondern weil der eine hilft und der andere dankt; der Mann liebt das Weib und das Weib den Mann nicht wegen des Gegensatzes, sondern weil sie einander bedürfen. Der hohe Ton liebt nicht den tiefen, und das Gerade nicht das Krumme, und so überhaupt kein Gegensatz den andern: es muss also noch ein besonderes Geheimniß dabei sein, ein anderer Grund, weshalb die Gegensätze gezwungen sind, sich wieder zu vereinigen; denn es ist ja klar, daß die Gegensätze sich gewissermaßen hassen, da sie auseinandertreten, wie der Böse den Guten hasst und der Gute nicht das Böse in dem Bösen liebt, auch wenn er ihm Gutes erweist. Darum sagt man ja auch, daß die Liebe den Hass gegen das Entgegengesetzte einschließt; denn man könne nicht das Gute lieben, ohne das Böse zu hassen, und wer den Frieden sucht, der müsse den Streit fliehen. Der Satz also, daß die Gegensätze den Grund der Liebe bildeten, ist, wie es scheint, nicht wahr oder jedenfalls unbewiesen und unverständlich, da es ebenso richtig ist, daß die Gegensätze den Grund des Hasses bilden.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Wesen der Liebe.