Heinrich Heine über Polen

Ueber Polen

Autor: Heinrich Heine (1797-1856), Erscheinungsjahr: 1823
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Polen, Heine, polnischer Adel, Ackerbau in Polen, Geschichte, Wirtschaft, Leben in Polen, Heinrich Heine
Erster Abschnitt Heinrich Heines über Polen

Seit einigen Monaten habe ich den preußischen Teil Polens die Kreuz und die Quer durchstreift; in dem russischen Teil bin ich nicht weit gekommen, nach dem österreichischen gar nicht. Von den Menschen hab ich sehr viele, und aus allen Teilen Polens, kennengelernt. Diese waren freilich meistens nur Edelleute, und zwar die vornehmsten. Aber wenn auch mein Leib sich bloß in den Kreisen der höheren Gesellschaft, in dem Schloßbann der polnischen Großen, bewegte, so schweifte der Geist doch oft auch in den Hütten des niedern Volks. Hier haben Sie den Standpunkt für die Würdigung meines Urteils über Polen.

Vom Äußern des Landes wüßte ich Ihnen nicht viel Reizendes mitzuteilen. Hier sind nirgends pikante Felsengruppen, romantische Wasserfälle, Nachtigallengehölze usw.; hier gibt es nur weite Flächen von Ackerland, das meistens gut ist, und dicke, mürrische Fichtenwälder. Polen lebt nur von Ackerbau und Viehzucht; von Fabriken und Industrie gibt es hier fast keine Spur. Den traurigsten Anblick geben die polnischen Dörfer: niedere Ställe von Lehm, mit dünnen Latten oder Binsen bedeckt. In diesen lebt der polnische Bauer mit seinem Vieh und seiner übrigen Familie, erfreut sich seines Daseins und denkt an nichts weniger als an die – ästhetischen Pustkuchen . Leugnen läßt es sich indessen nicht, daß der polnische Bauer oft mehr Verstand und Gefühl hat als der deutsche Bauer in manchen Ländern. Nicht selten fand ich bei dem geringsten Polen jenen originellen Witz (nicht Gemütswitz, Humor), der bei jedem Anlaß mit wunderlichem Farbenspiel hervorsprudelt, und jenen schwärmerisch-sentimentalen Zug, jenes brillante Aufleuchten eines Ossianschen Naturgefühls, dessen plötzliches Hervorbrechen bei leidenschaftlichen Anlässen ebenso unwillkürlich ist wie das Insgesichtsteigen des Blutes. Der polnische Bauer trägt noch seine Nationaltracht: eine Jacke ohne Ärmel, die bis zur Mitte der Schenkel reicht; darüber einen Oberrock, mit hellen Schnüren besetzt. Letzterer, gewöhnlich von hellblauer oder grüner Farbe, ist das grobe Original jener feinen Polenröcke unserer Elegants. Den Kopf bedeckt ein kleines rundes Hütchen, weißgerändert, oben wie ein abgekappter Kegel spitz zulaufend und vorn mit bunten Bandschleifen oder mit einigen Pfauenfedern geschmückt. In diesem Kostüm sieht man den polnischen Bauer des Sonntags nach der Stadt wandern, um dort ein dreifaches Geschäft zu verrichten: erstens, sich rasieren zu lassen; zweitens, die Messe zu hören, und drittens, sich vollzusaufen. Den durch das dritte Geschäft gewiß Seliggewordenen sieht man des Sonntags, alle viere ausgestreckt, in einer Straßengosse liegen, sinnberaubt und umgeben von einem Haufen Freunde, die, in wehmütiger Gruppierung, die Betrachtung zu machen scheinen, daß der Mensch hienieden so wenig vertragen kann! Was ist der Mensch, wenn – drei Kannen Schnaps ihn zu Boden werfen! Aber die Polen haben es doch im Trinken übermenschlich weit gebracht. – Der Bauer ist von gutem Körperbau, starkstämmig, soldatischen Ansehens und hat gewöhnlich blondes Haar; die meisten lassen dasselbe lang herunterwallen. Dadurch haben so viele Bauern die Plica polonica (Weichselzopf), eine sehr anmutige Krankheit, womit auch wir hoffentlich einst gesegnet werden, wenn das Lange-Haartum in den deutschen Gauen allgemeiner wird. Die Unterwürfigkeit des polnischen Bauers gegen den Edelmann ist empörend. Er beugt sich mit dem Kopf fast bis zu den Füßen des gnädigen Herrn und spricht die Formel: „Ich küsse die Füße.“ Wer den Gehorsam personifiziert haben will, sehe einen polnischen Bauer vor seinem Edelmann stehen; es fehlt nur der wedelnde Hundeschweif. Bei einem solchen Anblick denke ich unwillkürlich: Und Gott erschuf den Menschen nach seinem Ebenbilde! – und es ergreift mich ein unendlicher Schmerz, wenn ich einen Menschen vor einem andern so tief erniedrigt sehe. Nur vor dem Könige soll man sich beugen; bis auf dieses letztere Glaubensgesetz bekenne ich mich ganz zum nordamerikanischen Katechismus. Ich leugne es nicht, daß ich die Bäume der Flur mehr liebe als Stammbäume, daß ich das Menschenrecht mehr achte als das kanonische Recht und daß ich die Gebote der Vernunft höher schätze als die Abstraktionen kurzsichtiger Historiker; wenn Sie mich aber fragen, ob der polnische Bauer wirklich unglücklich ist und ob seine Lage besser wird, wenn jetzt aus den gedrückten Hörigen lauter freie Eigentümer gemacht werden, so müßte ich lügen, sollte ich diese Frage unbedingt bejahen. Wenn man den Begriff von Glücklichsein in seiner Relativität auffaßt und sich wohl merkt, daß es kein Unglück ist, wenn man von Jugend auf gewöhnt ist, den ganzen Tag zu arbeiten und Lebensbequemlichkeiten zu entbehren, die man gar nicht kennt, so muß man gestehen, daß der polnische Bauer im eigentlichen Sinne nicht unglücklich ist: um so mehr, da er gar nichts hat und folglich in der großen Sorglosigkeit, die ja von vielen als das höchste Glück geschildert wird, sein Leben dahinlebt. Aber es ist keine Ironie, wenn ich sage, daß, im Fall man jetzt die polnischen Bauern plötzlich zu selbständigen Eigentümern machte, sie sich gewiß bald in der unbehaglichsten Lage von der Welt befinden und manche gewiß dadurch in größeres Elend geraten würden. Bei seiner jetzt zur zweiten Natur gewordenen Sorglosigkeit würde der Bauer sein Eigentum schlecht verwalten, und träfe ihn ein Unglück, wär er ganz und gar verloren. Wenn jetzt ein Mißwachs ist, so muß der Edelmann dem Bauer von seinem eigenen Getreide schicken; es wäre ja auch sein eigener Verlust, wenn der Bauer verhungerte oder nicht säen könnte. Er muß ihm aus demselben Grunde ein neues Stück Vieh schicken, wenn der Ochs oder die Kuh des Bauers krepiert ist. Er gibt ihm Holz im Winter, er schickt ihm Ärzte, Arzneien, wenn er oder einer von der Familie krank ist; kurz, der Edelmann ist der beständige Vormund desselben. Ich habe mich überzeugt, daß diese Vormundschaft von den meisten Edelleuten sehr gewissenhaft und liebreich ausgeübt wird, und überhaupt gefunden, daß die Edelleute ihre Bauern milde und gütig behandeln; wenigstens sind die Reste der alten Strenge selten. Viele Edelleute wünschen sogar die Selbständigkeit der Bauern – der größte Mensch, den Polen hervorgebracht hat und dessen Andenken noch in allen Herzen lebt, Thaddäus Kosciuszko, war eifriger Beförderer der Bauernemanzipation, und die Grundsätze eines Lieblings dringen unbemerkt in alle Gemüter. Außerdem ist der Einfluß französischer Lehren, die in Polen leichter als irgendwo Eingang finden, von unberechenbarer Wirkung für den Zustand der Bauern. Sie sehen, daß es mit letzteren nicht mehr so schlimm steht und daß ein allmähliches Selbständigwerden derselben wohl zu hoffen ist. Auch die preußische Regierung scheint dies durch zweckmäßige Einrichtungen nach und nach zu erzielen. Möge diese begütigende Allmählichkeit gedeihen; sie ist gewisser, zeitlich nützlicher als die zerstörungssüchtige Plötzlichkeit. Aber auch das Plötzliche ist zuweilen gut, wie sehr man dagegen eifere. – –

Zwischen dem Bauer und dem Edelmann stehen in Polen die Juden. Diese betragen fast mehr als den vierten Teil der Bevölkerung, treiben alle Gewerbe und können füglich der dritte Stand Polens genannt werden. Unsere Statistikkompendienmacher, die an alles den deutschen, wenigstens den französischen Maßstab legen, schreiben also mit Unrecht, daß Polen keinen tiers état habe, weil dort dieser Stand von den übrigen schroffer abgesondert ist, weil seine Glieder am Mißverständnisse des Alten Testaments – Gefallen finden – – und weil dieselben vom Ideal gemütlicher Bürgerlichkeit, wie dasselbe in einem Nürnberger Frauentaschenbuche, unter dem Bilde reichsstädtischer Philiströsität, so niedlich und sonntäglich schmuck dargestellt wird, äußerlich noch sehr entfernt sind. Sie sehen also, daß die Juden in Polen durch Zahl und Stellung von größerer staatswirtschaftlicher Wichtigkeit sind als bei uns in Deutschland und daß, um Gediegenes über dieselben zu sagen, etwas mehr dazu gehört als die großartige Leihhausanschauung gefühlvoller Romanenschreiber des Nordens oder der naturphilosophische Tiefsinn geistreicher Ladendiener des Südens. Man sagte mir, daß die Juden des Großherzogtums auf einer niedrigeren Humanitätsstufe ständen als ihre östlicheren Glaubensgenossen; ich will daher nichts Bestimmtes von polnischen Juden überhaupt sprechen und verweise Sie lieber auf David Friedländers „Über die Verbesserung der Israeliten (Juden) im Königreich Polen“, Berlin 1819. Seit dem Erscheinen dieses Buches, das, bis auf eine zu ungerechte Verkennung der Verdienste und der sittlichen Bedeutung der Rabbinen, mit einer seltenen Wahrheit- und Menschenliebe geschrieben ist, hat sich der Zustand der polnischen Juden wahrscheinlich nicht gar besonders verändert. Im Großherzogtum sollen sie einst, wie noch im übrigen Polen, alle Handwerke ausschließlich getrieben haben; jetzt aber sieht man viele christliche Handwerker aus Deutschland einwandern, und auch die polnischen Bauern scheinen an Handwerken und andern Gewerben mehr Geschmack zu finden. Seltsam aber ist es, daß der gemeine Pole gewöhnlich Schuster oder Bierbrauer und Branntweinbrenner wird. In der Wallischei, einer Vorstadt Posens, fand ich das zweite Haus immer mit einem Schuhmacherschilde verziert, und ich dachte an die Stadt Bradford in Shakespeares „Flurschütz von Wakefield“. Im preußischen Polen erlangen die Juden kein Staatsamt, die sich nicht taufen lassen; im russi schen Polen werden auch die Juden zu allen Staatsämtern zugelassen, weil man es dort für zweckmäßig hält. Übrigens ist der Arsenik in den dortigen Bergwerken auch noch nicht zu einer überfrommen Philosophie sublimiert, und die Wölfe in den altpolnischen Wäldern sind noch nicht darauf abgerichtet, mit historischen Zitaten zu heulen.


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