Formen von Bildung im Verlauf unseres Strebens. 06 bis 08

                                        06.

Ob aber eine besondere Form von Bildung eine der Eigentümlichkeit unserer Anlagen entsprechende sei, stellt sich immer erst im Verlauf unseres Strebens darnach heraus; und eben so die Angemessenheit der Mittel, durch welche wir sie zu erreichen suchen. Es ist vorzüglich in Beziehung auf die letzteren, dass allzu große Zuversicht und Eigensinn uns nachteilig werden. Wenn wir nämlich die Wege zum Ziele im Allgemeinen, oder im Verhältnis zu unseren Anlagen ohne genügende Einsicht gewählt haben; wenn wir sie nicht mit steter Umsicht prüfend im Auge behalten, oder wohl auch den als falsch erkannten Weg mit eigensinniger Beharrlichkeit dennoch verfolgen: so ist es klar, dass wir entweder gar nicht, oder nur mit entschiedenem Verlust an Zeit und Kraft ans Ziel gelangen werden. — „Es ist hart, einen bereits lange verfolgten Weg aufzugeben, um einen neuen zu betreten, oder diesen wohl auch erst zu suchen.“ — Ganz gewiss; aber dennoch ist es in solchem Fall barer Gewinn, die Trägheit, wie den Unmut und den Eigensinn, zu überwinden, und sich rasch zum neuen Auslauf zu entschließen. Dass übrigens jene Beharrlichkeit, die ein mit Besonnenheit gewähltes Mittel nicht ohne dringende Gründe aufgibt, nicht mit dem Eigensinn oder der übermäßigen Zuversicht verwechselt werden dürfe, vor welcher hier gewarnt wird, versteht sich von selbst; da aber, wo solche Gründe aus gereifterer Einsicht, oder aus dringenden äußeren Veranlassungen hervorgehen: da wird ein eigensinniges Beharren bei den früher gewählten Mitteln die Erfolge unserer Bestrebungen gewiss nicht weniger gefährden, als Wankelmut und Bestandlosigkeit.



                                        07.

Eben so nachteilig aber, als ein Übermaß von Zuversicht, die Zwecke der Bildung im Allgemeinen zu erreichen, und als eine bis zum Eigensinn gesteigerte Entschiedenheit in dem Streben nach einer besonderen Form von Bildung, muss es uns werden, wenn wir in der einen oder in der anderen Beziehung unter dem rechten Maße bleiben. Feigheit ist überall das schlimmste aller Übel; und ohne Mut und Vertrauen auf unsere Kräfte lässt sich nichts, also auch keine Bildung erstreben.

Am meisten gilt das natürlich rücksichtlich der Abhängigkeit alles Strebens nach Bildung von dem Einfluss der äußeren Umstände. Der Mangel einer festen Ansicht über diesen Einfluss greift weit häufiger und weit tiefer in alle Selbstbildung, so wie in alles Bilden Anderer ein, als sich auf den ersten Anblick darlegt. Keine andere Bemerkung machen wir so früh und so oft, als dass wir bei dem Versuch, uns selbst, oder Andere zu bilden, vielfältig von dem Einfluss und dem Drange äußerer Umstände abhängen. Allein, wie heut gezwungen, geben wir morgen diesem Drange ohne Not nach; aus Lässigkeit, aus schwanker Weichheit und Flauheit der Willenskraft; dann aus wachsendem Hange uns den äußeren Impulsen hinzugeben, oder ihnen zu weichen; zuletzt aus der anfangs mit halben, dann mit ganzem Bewusstsein ergriffenen Ansicht, es sei eben das Beste, sich ihnen zu überlassen. Gegen solche Lässigkeit und Geistesflauheit bewahrt nichts, als ein sicheres Wissen, wie viel wir dem Drange äußerer Umstände nachgeben müssen; und wie viel wir ihrer Ungunst abringen können. Auch bei einem solchen Wissen, und bei dem kräftigsten Wollen, wird der Erfolg unsers Strebens, uns selbst, oder Andere zu bilden, immer noch von tausend äußeren Einflüssen abhängig bleiben; allein nie werden wir das Ziel, welches wir uns vorgesetzt, dann gänzlich verfehlen; wie ein geschickter und rüstiger Seemann bei ungünstigen Winden, vielleicht den Punkt verfehlt, auf welchem er landen wollte: allein nicht weit ab von seiner Bahn auf das wüste Meer hinausgetrieben, oder an eine ganz fremde Küste verschlagen wird.

                                        08.

Die Zwecke aller Bildung sind entweder allgemeine oder besondere. Jene werden durch die Einrichtung unserer geistigen Natur und durch den letzten Zweck unseres Daseins; diese durch äußere Lebensverhältnisse und durch Neigung bestimmt. Die wesentlichsten allgemeinen Zwecke unserer Bildung sind demnach: die Entwicklung unserer Anlage zur Religiosität, zur Sittlichkeit, zur Humanität, zur Geselligkeit, zur Wissenschaft und zur Empfindung und Beurteilung des Schönen. Die besonderen Zwecke der Bildung sind: die Entwicklung unserer Anlagen für einen bestimmten Lebensberuf; und die Entwicklung solcher Anlagen, zu deren Ausbildung wir durch eine besondere Neigung bestimmt werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Über Bildung und Selbstbildung.