Zehnte Fortsetzung

Eine derart hergerichtete Statistik gibt dann Politikern und Gelehrten die Grundlage für die Aufstellung von Thesen, die sie den ukrainischen nationalen Forderungen entgegenstellen. Zu diesen Thesen gehört in erster Linie die Behauptung, dass man Ostgalizien schon deshalb nicht als ukrainisches Gebiet ansehen könne, weil es dort Bezirke mit polnischer Mehrheit gebe. Solcher Bezirke wären fünf: der Lemberger, Peremysler, Skalater, Tarnopoler und Terebowler. Nach der Volkszählung von 1910 stellt sich die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung dieser Bezirke folgender maßen dar:

Bezirke: Ukrainer Polen Deutsche Lemberger (ohne Lemberg) 3G 6% 61*6% 1*8% Peremysler 44‘G% 52'2% 2'2% Skalater 47’7% 52‘0% 0’3% Tarnopoler 48'0% 51*4% 04% Terebowler 48'0% 51*7% 0*1%


*) Die reußische Welt.
**) Dr. W. Heeke, Volksvermehrung, Binnenwanderung und Umgangssprache. Stat. Monatshefte, N. F. XIX, S. 653—723.
†) Nach den Berechnungen von Hein.
††) Nach den Berechnungen in den Tafeln zur Statistik der Österreich:' sehen Monarchie.
†††) Offizielle Volkszählungen.

Es muss bemerkt werden, dass noch bei der Volkszählung von 1880 alle diese Bezirke eine ukrainische Mehrheit aufweisen. Im Jahre 1890 trat als erster der Skalater Bezirk sehr schüchtern mit einem ganz: kleinen polnischen Plus auf: 49,8% Polen und 48,5% Ukrainer. Im Jahre 1900 erscheint stattdessen der Lemberger Bezirk als überwiegend polnisch, dafür weist, der Skalater fast ganze 10.000 mehr ukrainischer Bevölkerung aus als polnischer. Dies alles sieht nach einem Manöver aus, als vorbereitende Versuche, um dann im Jahre 1910 mit fünf „polnischen“ Bezirken in Ostgalizien aufzutreten. Um die künstliche Schaffung des Polentums in jenen Bezirken richtig zu verstehen, sehen wir uns ihre konfessionelle Zusammensetzung an:

Bezirke: Griech.-kath. Lemberger (ohne Lemberg) 45 9% Peremysler « 50 0% Skalater 50*3% Tarnopoler 53 5% Terebowler 515% Rom. u. arm. kath. 43’4% ' 35*8% 36*6% • 32*5% 39*4% Juden 8*7% 14*1% 13*2% 13*9% 9*0%

Wie man sieht, würden, selbst wenn man annimmt, dass alle Römisch-Katholischen zur polnischen Nationalität gehören, die Polen auch dann in keinem der angeführten Bezirke nicht einmal die relative Mehrheit haben, dafür besitzen die griechisch-katholischen Ukrainer bloß im Lemberger Bezirke die relative, in den vier letzteren die absolute Mehrheit. Daher nützte hier auch die Eintragung aller Juden als Polen nichts und man musste noch ganze Scharen von Griechisch-Katholischen hinzunehmen. Die Vergleichung der Nationalitätentabelle mit der Konfessionstabelle zeigt, dass z. B. im Lemberger Bezirk die griechisch-katholischen „Polen“ fast 10% der Gesamtbevölkerung ausmachen, in anderen etwas weniger, je nach Bedarf. Auf diese Weise kann man mühelos alle ostgalizischen Bezirke in polnische um wandeln. In Wirklichkeit stellt sich die Sache so dar, dass z. B. im Tarnopoler Bezirk, den wir sehr genau kennen, höchstens ein Drittel der römischen Katholiken Polen sind, zwei Drittel hingegen unzweifelhafte Ukrainer, und daher beträgt der Prozentsatz der Polen in diesem Bezirk höchsten 11%, der der Ukrainer fast 75%. Die Vergleichung dieser Zahlen mit den offiziellen Angaben zeigt uns, bis zu welchem Ausmaße die Fälschung der Wahrheit bei den Volkszählungen in Galizien geht. Kein Wunder, dass selbst ein polnischer Gelehrter, der Professor Römer, in einem Vor trage, der am 4. Januar 1917 im „Kolo literackie“ in Lemberg gehalten wurde, die galizische amtliche Volkszählung als zu sehr zugunsten der Polen entstellt bezeichnete. Das benimmt uns auch jede Möglichkeit, irgendwie jene Daten der nationalen Statistik zu verwerten, und zwingt uns, unsere Berechnungen ausschließlich auf konfessioneller Grundlage aufzubauen. Wir werden daher auf galizischem Gebiete in unseren weiteren Ausführungen als Ukrainer nur die Griechisch-Katholischen ansehen und jenes Häuflein Griechisch-Orientalischer, die sich zu den Ukrainern bekannt haben. Die Juden rechnen wir, wie überall bisher, separat und zu den Polen alle Römisch-Katholischen, auch jene 42.822, welche die offizielle Volkszählung als Ukrainer anerkennt. Wir sind uns dabei bewusst, dass wir auf diese Weise die wirkliche Zahl der Ukrainer um einige Hunderttausende vermindern, aber wir wollen lieber wenigstens die Mindestzahl der Ukrainer ausweisen und dabei auf fester sachlicher Grundlage stehen, als uns in Vermutungen zu verlieren und mit fiktiven Zahlen zu operieren, welche nicht die nötige Beweiskraft hätten und zur Aufhellung der Sache nichts Positives beitragen würden.

Wie bekannt, schiebt sich das ukrainische Territorium in den Karpaten und im Karpaten Vorland auf ungarischer und galizischer Seite in schmalem Keil viel weiter nach Westen vor als in den Tälern und scheidet das polnische Sprachgebiet vom slowakischen. Auf galizischer Seite treffen wir gleichsam als Vorposten des ukrainischen Siedlungsgebietes im Gerichtsbezirk Kroscienko des politischen Bezirkes Nowytarg, vier rein ukrainische Gemeinden: Bila und Corna Voda, Javorky und Slachtova, welche gleichsam eine Halbinsel inmitten des polnischen Meeres bilden, nur durch die ungarische Ukraine mit dem übrigen ukrainischen Territorium verbunden. Dann kehrt die ethnographische Grenze zur ungarisch-galizischen Grenze zurück, aber gleich noch am rechten Ufer des Poprad wendet sie sich wieder nach Norden und geht bis hart an die Eisenbahnlinie, welche Nowy Sqcz mit Hrybiv verbindet, wobei sie in das ukrainische Terri torium den ganzen Musynaer und acht Gemeinden des Nowy S^czer Gerichtsbezirkes (Kotiv, Labova, Labovyci, Matijeva, Nove Selo, Mala Roztoka, Skladyste und Uhryn) einbezieht. Hier biegt sie nach Osten um und indem sie hart südwestlich an Hrybiv vorbeigeht, zerschneidet sie den Hrybover Bezirk diagonal in zwei Teile: einen südlichen, größeren, ukrainischen, und einen nördlichen, kleineren, polnischen. Ebenso teilt sie auch den Gorlicer Gerichtsbezirk südlich von Gorlice und erreicht im östlichen Teile dieses Bezirkes die Reichsstraße, welche Gorlice mit Zmyhorod verbindet. Mit dieser Straße läuft sie bis vor Zmyhorod, den Hauptort eines Gerichtsbezirkes im politischen Bezirk Jaslo, umgeht die Stadt in einem Halbbogen von Siidwesten her und indem sie sich auf 3 — 4 km Entfernung von der Reichsstraße Zmyhorod — Dukla hält, gelangt sie über die Berge Danja und Hyrava bis zur Jasolka südlich des Städtchens Dukla. Einige Kilometer südlich der Jasolka betritt sie den Sanoker Bezirk, biegt von da etwas nach Norden ab, kehrt dann beim bekannten Badeort Ivonic wieder zur alten östlichen Richtung zurück, geht von Süden her hart an Rymaniv vorbei, durch schneidet östlich dieses Städtchens die Eisenbahnlinie Korosno — Sanik und den Fluss Vysloka und erreicht nördlich von Sanik den oberen San. Am Anfänge sehr scharf, so dass sie ein Gebiet mit annähernd 90% ukrainischer Bevölkerung abgrenzt, wird sie im Sanoker Bezirk, von Rymaniv angefangen, weniger scharf ausgeprägt. Hier finden sich diesseits und jenseits der ethnographischen Grenze Ansiedlungen mit gemischter Bevölkerung und ethnographische Inseln, nördlich von ihr ukrainische, südlich polnische. Eine ziemlich große ukrainische Insel, welche mehrere Gemeinden umfasst, befindet sich im nördlichen Teil des Gerichtsbezirkes Korosno. Wie bisher berücksichtigen wir diese Inseln nicht und zählen sie zu dem Territorium, innerhalb dessen sie liegen, wo durch der Prozentsatz der polnischen, besser gesagt, der römisch-katholischen Bevölkerung im ukrainischen Teile des Sanikschen bis zu 30% hinaufgeht. Man muss bemerken, dass wir hier in den westlichen Grenzgebieten der galizischen Ukraine fast überall statt eines Zuwachses eine Abnahme der Bevölkerungszahl wahrnehmen. Das sind die Folgen der massenhaften Auswanderung nach Amerika, welche unter den Lemken am frühesten um sich gegriffen hat. Nur das Nowy Saczsche weist einen schwachen, das Saniksche mit Ausnahme des Gerichtsbezirkes Bukivsko einen etwas an sehnlicheren Zuwachs auf.

Am oberen San unterhalb Sanik angelangt, wendet sich die Grenze des geschlossenen ukrainischen Gebietes in nördliche Richtung und geht den San stromabwärts, indem sie den östlich des Flusses gelegenen Teil des Bezirkes Bereziv für das ukrainische Territorium abschneidet. Erst unterhalb der Mündung der Barycka entfernt sie sich ein wenig ostwärts vom San, um zwei polnischen Ansiedlungen Platz zu machen, die gegenüber Dyniv am rechten Flussufer gelegen sind. Zwei große ukrainische Dörfer auf dem linken Ufer des San, Hlidno und Lubno, bilden eine ethnographische Insel im polnischen Gebiet. Eine polnische Insel auf ukrainischem Territorium ist das Dorf Dylongova. Unterhalb Dyniv kehrt die ethnographische Grenze zum San zurück und biegt mit dem Fluss nach Osten um. Beim Dorfe Babyc, östlich von Dubecko, geht sie auf das linke Ufer des San über und, sich nach Norden wendend, verlässt sie den Fluss, welcher weiter in östlicher Richtung fließt. So kommt sie zur Wasser scheide zwischen dem San und Wyslok, biegt über den Bukovvjberg in nordöstliche Richtung ab und geht mit der Grenze der Bezirke Jaroslav und Peremysl bis zu den Quellen des Kasyckibaches, eines linken Nebenflusses der Rada. Hier dreht sie wieder nach Norden um, längs des Baches Rokytnycja, wendet sich mit ihm nach Osten, springt zur Mündung des Kasyckibaches in die Rada über und gelangt mit der Rada wieder zum San unterhalb Radymno. Nachdem sie den San durchschnitten, springt sie plötzlich ostwärts bis über die untere Vysnja hinaus, zwei polnischen Gemeinden Platz machend: Michalowka und Dunkowice; aber gleich kehrt sie mit der Vysnja wieder zum San zurück. Von der Mündung der Vysnja angefangen, hält sie sich beständig an den San, indem sie nur unmerklich bei Nelepkowice (unter halb Jaroslav) und Sinjava nach Osten ausweicht, um dann wieder ukrainische Ansiedlungen auf dem linken Flussufer zu erfassen, wie Dubno an der Mündung des Vyslok und Syljanka bei Lezajsk. So gelangt sie mit dem San bis zur Mündung der Zolota und die Zolota stromaufwärts zur galizisch-russischen Grenze.

Hier betritt sie das Cholmer Gouvernement, welches von Polen abgetrennt und aus den Gebieten zusammengesetzt wurde, in denen nach der Volkszählung vom 1. Januar 1909 die Griechisch-Orthodoxen (Ukrainer und Großrussen) das zahlenmäßige Übergewicht über die Römisch-Katholischen (Polen) hatten.

Indessen, wenn wir die Bezirke näher untersuchen, so sehen wir, dass von den acht Bezirken dieses Gouvernements die Ukrainer nur in sechs Bezirken die Mehrheit der Bevölkerung bilden: die absolute in Bila, Volodava, Hrubesiv und Konstantyniv, die relative in Cholm und Tomäsiv. In den beiden am weitesten nach Südwesten vorgeschobenen Bezirken, Bilhoraj und Zamostje, haben die Polen das Übergewicht. Daher scheiden wir diese zwei Bezirke aus dem geschlossenen ukrainischen Territorium aus, da wir keine entsprechenden Daten besitzen, um die Grenze von Gemeinde zu Gemeinde zu ziehen, welche hier in Bezug auf die nationale Zusammensetzung stark gemischt sind. Daher wird also die weitere westliche Grenze der ethnographischen Ukraine längs des galizisch-russischen Kordons in östlicher Richtung bis zum Quellgebiet der Tanva, eines rechten Nebenflusses des San, gehen. Hier biegt sie nach Norden um, geht dann mit dem westlichen Abhang der Wasserscheide zwischen dem Vepr und Buh, durchschneidet das Quellgebiet des Vepr und seines rechten Nebenflusses, der Topornycja, und erreicht bei Krasnostav wieder den Vepr. Von hier an folgt sie der westlichen Grenze des Cholmer Gouvernements bis zum Buh unterhalb Melnyk, dann geht sie buhabwärts bis zur Mündung des Nurec und schließlich den Nurec stromaufwärts erreicht sie, in gerader Linie nordwärts verlaufend, die Narev.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Territorium und Bevölkerung der Ukraine