London. Montag, den 6. bis Donnerstag, den 9.

Montag, 6. Juni. Wollte zu Figdor gehen, vorher aber meines Passes wegen ins Alien-office. Erhielt meinen Paß ohne Bezahlung einer Taxe, eine Folge der neuen Einrichtungen, zufolge deren das ganze Alien-office mit 1. Juli aufzuhören hat. Sehr würdig dieses freien Landes, nicht mehr die Fremden allein als Knechte zu behandeln. Besah die Westminsterhalle, die mir früher entgangen war. Groß, wüst, aber von ausgezeichneter Arbeit in den Skulpturen der ungeheuern Bogen und Tragsteine. Letztere Jagdgegenstände. Aus der Halle die Eingänge in die verschiedenen Gerichtshöfe. Vice-Chancellors court, court of common pleas, Kingsbench. Ging in jeden derselben und wohnte den Verhandlungen bei. Bewunderungswürdige Ueberlegenheit der Richter in Auseinandersetzung der Fälle und augenblicklicher Zurechtführung der Advokaten. Hierauf nach dem Strand. Die Adelaidengalerie besehen. Vor dem Eingange ein hübsches Mädchen von kaum fünfzehn Jahren, gut gekleidet, so betrunken, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Teilte demungeachtet Ohrfeigen und Riesenpüffe an die Vorübergehenden aus, die sie zum Gegenstande ihrer Neugier machten. Die Galerie höchst merkwürdig. Eine Masse mechanischer Erfindungen und physikalischer Experimente. Auffallende Beweise von der Einerleiheit der magnetischen und elektrischen Kraft. Dampfkanone, die mit sekundenübereilender Schnelligkeit einzelne Kugeln und mit fürchterlichem Geprassel ganze Hagel auf einmal fortschleudert. Verlor einige Stunden im Warten auf die mikroskopischen Darstellungen, da mehr Leute da waren, als das geräumige Zimmer auf einmal fassen konnte. Es war fünf Uhr, als ich herauskam, und ein schnell einfallender Platzregen nötigte mich, mit höchster Eile meine Wohnung zu suchen.

Nach Tisch ins Drurylanetheater. Das Mädchen von Artois, original englische Oper von Balfé. Einzelne hübsche Sachen. Das Ganze langweilig und bunt. Mde. Malibran vortrefflicher als jemals. Eine ihrer Arien, ein schönes Duett. Vor allem aber eine Art Walzer, der das Ganze höchst unschicklich schließt, den sie aber mit einer Virtuosität sang, die alles hinter sich läßt. Dieser leichte Wechsel von hohen und tiefen Tönen in dem schnellsten Zeitmaße, diese völlig ausgebildeten Pralltriller, dieser vollendete Geschmack im Uebergehen zu der wiederkehrenden Anfangsmelodie, dieses Aufjubeln, diese tiefe Empfindung. Die Pasta geht ihr gewiß an Tiefe und Großartigkeit vor, sie aber ist unendlich mannigfaltiger, frei genialer. In den Passagen nach aufwärts ist manchmal ein Anklang von Stoßweisen, überhaupt nicht die vollendete Nettigkeit der Fodor, manchmal ein stumpfer Ton in Verbindung der Höhe mit der Tiefe, der fortgesetzte Triller nicht so bestimmt, so tonreich als bei mancher ihrer großen Nebenbuhlerinnen, aber als Ganzes steht sie gewiß den Besten nicht nach und übertrifft sie alle als Theatersängerin in ausgedehntestem Bereich.


Als ich gegen Mitternacht nach Hause kam, fand ich einen Brief vom Legationsrat, der mir eine Karte zur Pairssitzung für diesen Abend übersendete. Natürlich nicht zu benützen. Sonderbare Gefälligkeit, mehr um eine Bitte abzuthun, als wirklich förderlich zu sein.

Dienstag, 7. Juni. Wollte die Familie Figdor vor ihrer Abreise sehen, ward durch einen Besuch Prägers weit über meine Absicht lange zu Hause gehalten. Nach Wallbrook-street. Fand die Figdors nicht. Trieb mich in der City herum, wo ich Rasiermesser und sonst einiges kaufte, von dem immer wieder losbrechenden Regen aber fortwährend in der Nähe der Börse gehalten wurde, wo doch der bedeckte Gang einigen Schutz darbot. Endlich, um nicht ganz durchnäßt zu werden, zeitlich nach Hause.

Abends trotz Regen ins italienische Theater; L'assedio di Corinto. Ich habe der Grisi bisher unrecht gethan. Das ist eine so vortreffliche Sängerin, als je eine war. Weniger stark leidenschaftlich, aber dafür immer wohltönend. Anfangs dieselbe Neigung zum Zuhochsingen, als da ich sie das erste Mal hörte. Später setzte sich alles zurecht. Ich habe diese Oper oft aufführen gesehen, aber erst heute gehört. Sie hat eine Leichtigkeit und Annehmlichkeit der Stimme wie selten eine Primadonna, die meistens schon halb ausgesungen sind, wenn sie zu den letzten Stufen gelangen. Der Chor schlecht. Von den übrigen liebe ich weder Tamburini besonders, noch Rubini überhaupt. Lablache taugt nicht mehr für den Priester, der ihm immer zu tief lag, besonders aber jetzt, wo seine Stimme sehr in Verfall ist. Aber ihr Zusammenwirken, wie natürlich, vortrefflich. Die Ausstattung viel kleinlicher als in Paris.

Mittwoch, 8. Juni. Frühmorgens kam der junge Figdor zu mir, dessen Angehörige eben abgereist waren und der mich nach dem Kolosseum abholte. Sahen das Panorama von London, das an Großartigkeit und Treue nichts zu wünschen übrig läßt, aber doch etwas gar zu bleich und verwaschen in der Farbe geraten ist. Wie ungeheuer! Aber der Eindruck Wiens vom Kahlenberge ist auch nicht kleiner. In den Straßen selbst merkt man, wie groß London ist. Drauf die Schweizer Hütte, eine Spielerei mit einigen artigen Einzelheiten. Darauf Straßen auf und ab. Corn-exchange, ein ungeheures Gebäude zum Behuf des Getreidehandels. Verabredeten für nächsten Samstag eine Partie nach Windsor. Morgen ist großes Dankfest der Pfarrschulen in St. Paul. Mittags zu Hause.

Abends ging ich in Astleys Theater, um es doch auch gesehen zu haben. Schlechte Spektakelstücke. Reiterkünste besser, als man sie irgend sieht. Eine Miß als Pferdeabrichterin, mit einem herrlichen Pferde voll Gelehrigkeit. Machte darauf im einfachen eleganten Reithabit die Reitschule zum wahren Genusse. Gruppierungen, Menschenpyramiden, von wirklichen oder vorgeblichen Beduinen dargestellt, bis zum Unglaublichen. Besondere Meister in den unmöglichsten Gliederverrenkungen, Seiltänzer ziemlich schlecht. Der eine fiel derb aufs Maul, daß er forthinkte. Ein königlicher Prachteinzug, nur in Paris überboten. Ein Wettrennen von Knaben auf kleinen Ponnies, den großen aufs täuschendste nachgeahmt. Ging endlich, übersatt.

Donnerstag, 9. Früh morgens mit Figdor und einem andern deutschen Kaufmanne in die St. Paulskirche, die mit endlosen Stufen zum Kinderfest hergerichtet war. Rings unter der ungeheuern Kuppel um das, was man bei uns Presbyterium nennt, die emporsteigenden Sitze, deren ich sechzehn übereinander zählte. Raum für achttausend Kinder. In der Mitte ein Predigtstuhl, im Fond die Orgel. Die Versammlung im ganzen bis vierzehntausend Menschen. Die Zuseher waren bald versammelt, unabsehbar, außer der Peterskirche in Rom nichts damit vergleichbar. Nach und nach stellten sich die Kinder ein. Nach den Pfarren in verschiedenen Farben gekleidet. Die Knaben höchst barock, die Mädchen, obwohl im Kostüme alter Weiber, doch durch die außerordentliche Reinlichkeit ihrer Hauben, Schürzen und Halskrägen nach Pilgerschnitt, sämtlich glänzend weiß, ein wohlthuender Anblick. Blau, grün, rot in allen Schattierungen, schwarz, braun, grau, die Mädchen von unten hinansteigend, die Knaben von oben herab. Als alle achttausend beisammen waren, gab es einen Anblick, dessen gleichen in der Welt nicht ist. Gegen die Orgel zu ein Fächer von lauter Mädchen, schneeweiß, von dunkeln Knaben eingesäumt, wahrhaftig wie eine Engelsglorie. Die andern saßen horizontal geteilt. Die weißen Mädchen bildeten die Schneeregion des Menschengebirges, nur fiel sie umgekehrt nach unten. Hie und da war die gleiche Linie durch einen Hauben- und Schürzenzwickel nach oben malerisch unterbrochen. Langweilige Gebete, von Chören unterbrochen, die die achttausend Kinder sangen, wie ein Donnerwetter, im Sopranschlüssel gesetzt. Die ziemlich schweren Sachen gingen besser, als ich gedacht hatte. Der protestantische Erzbischof über ganz Irland ( all Ireland, Gott verdamm ihn!) hielt eine Predigt, die er selbst verstanden haben mag. Der hundertdreizehnte Psalm recht gut komponiert. Ein Alleluja von Händel, das den Kindern denn doch zu bunt war. Endlich nach dritthalb Stunden ein nicht unwillkommenes Ende. Wir, die wir schon um zehn Uhr da waren, hatten eigentlich fünf Stunden ausgehalten.

Ging mit Figdor ins London-Kaffeehaus, wo er mich traktierte. Vortreffliche englische Küche. Salm, für einen Kaiser zu gut. Roastbeef über alle Vorstellung. Johannisbeertorte für einen großbritannischen Gaumen. Grüne Erbsen, in Wasser abgekocht. Grüner Salat, roh zu essen, was wir bleiben ließen. Stilskäse, dem nichts gleichkommt. Das Couvert vier Schillinge. Dazu Ale, Hochheimer und zum Schluß etwas Sherry. Hernach in den Zigarrendiwan, wo für einen Schilling die Person eine Zigarre und eine Tasse schlechten Kaffee erhält. Zeitungen in Ueberfluß. Sah und las seit beinahe drei Monaten zum erstenmale wieder die Allgemeine Zeitung. Unter anderm, der Kaiser von Oestreich habe den Erzherzog Ludwig zum Mitglied des Staatsministeriums ernannt, ihn, der so lange die obersten Geschäfte halb selbständig leitete. Ist das eine Erhöhung oder Erniedrigung?

Ging darauf in die italienische Oper. Marino Falieri von Donizetti. Hübsche Sachen. Die Grisi gefiel mir nicht. Tamburini hat offenbar seine Stimme verloren. Lablache der Beste, ohne sonderlich zu sein. Die Chöre ein Skandal. Mit mir in derselben Loge ein recht artiger Engländer, der recht leidlich französisch sprach und die Musik zu goutieren schien. Zwei seltene Eigenschaften in diesem Lande.

Ich komme um Mitternacht nach Hause und finde, daß die jungen Leute sich eine kleine Abend- oder Morgenunterhaltung machen, wobei sie einen Höllenlärm verbringen. Ich will noch ein wenig schreiben, vielleicht kriegen sie's mittlerweile satt.

Die Ordnung war bewundernswürdig in der Paulskirche, nur störte, was aber nicht anders sein konnte, das Kommandomäßige gewisser Handlungen. So bedeckten bei manchen Stellen der Gebete die Kinder auf ein Tempo sich die Augen mit Händen und Schürzen, was ein wenig heuchlerisch aussah, high-church-mäßig. Die Prinzessin Viktoria war da mit ihrer Mutter und dem Herzog von Oranien. Sie saß anfangs zu unterst, mitten unter den Kindern. Da nun aber die Leute auf die Bänke stiegen, um sie zu sehen, trotz der Stewards, die unermüdlich die Obenstehenden mit ihren Stäben berührten und zur Anständigkeit aufforderten, verließ sie ihren Platz und setzte sich in den Chor. Da kehrten sich denn die dort sitzenden Mädchen mit dem Gesichte nach ihr und machten in einem Tempo ihr unablässige Verneigungen, so daß das Ganze aussah wie ein wallendes Meer. Mitten unter den Gebeten fiel es auf einmal ein paar Schulbuben ein, ihr ein lautes Hurra (Hurräh) zu bringen, in das das ganze Kinderheer einstimmte, zum offenbaren Mißvergnügen des Erzbischofs von Armagh (eines hochtoristischen Lords Beresford); auch scheinen die Kleinen einen Wink zur Unterlassung bekommen zu haben, denn es blieb bei diesem einmaligen Ruf, was sonst nicht in der hiesigen Sitte ist.

Die jungen Leute lärmen noch immer fort. Mein Licht ist zu Ende, ich will mich daher zu Bette legen, vielleicht nimmt es doch bald ein Ende.