Vorwort (Erste Fortsetzung)

Wenn man z. B. die Begriffe der Wörter: Gemeinde, Kommune, oder: Pächter, Farmer, Fermier, zergliedert, so bedeuten sie in jeder der drei Sprachen im Wesentlichen dasselbe Lebens- und Rechtsverhältnis, und man kann in jeder Sprache dies darstellen, und wird auch vom fremdem Volke richtig verstanden werden.

Anders ist dies mit den slawischen Volksstämmen. Auf die Polen und Böhmen haben deutsche Sitten, Gebräuche, Begriffe, seit Jahrhunderten eingewirkt. Deutsche und römische Rechtsbegriffe und Verhältnisse sind adoptiert, die Gesetzgebung hat seit Jahrhunderten denselben Charakter, wie bei den germanischen und romanischen Völkern ausgebildet, so sind hier die urslawischen Verhältnisse bedeutend modifiziert, und das ganze Verfassungs- und Rechtsleben dieser Völker ist dem der germanischen und romanischen Völker so nahe gebracht, dass auch im Allgemeinen von ihnen das Obgedachte gilt, und wenn polnische oder böhmische Bücher die Rechtsverhältnisse schildern, so werden diese, in germanische oder romanische Sprachen übersetzt, diesen Völkern im Allgemeinen ganz verständlich sein, so wie auch ein Deutscher wohl über polnische und böhmische Rechtsverhältnisse in seiner Sprache zu schreiben vermag, was, ins Polnische übersetzt, den Polen völlig verständlich wäre. Der Umfang der Rechts- und Lebensverhältnisse, z. B. einer deutschen, einer französischen, einer polnischen Stadt lässt sich ganz gut in jeder Sprache darstellen, weil auf die Entwicklung der polnischen Städteverfassung deutsche und römische Rechtsbegriffe dominierend eingewirkt haben.


Anders ist dies aber mit den slawischen Völkern, die entweder noch gar nicht sich dem Ideen- und Kulturkreise der übrigen europäischen Völker genähert, und dieselben in ihr Volksleben aufgenommen haben, wie die Serben, Bosnier, Bulgaren, oder wo dies erst in neuern Zeiten der Fall gewesen ist, dergestalt, dass zwar die oberen Schichten des Volks diese Kultur sich angeeignet haben, dieselbe aber nicht in die tieferen Schichten, den eigentlichen Kern des Volks, eingedrungen ist, und vor Allem die Lebens- und Rechtsverhältnisse der ländlichen Verfassung nicht wesentlich berührt und modifiziert hat, wie dies bei den Russen der Fall ist.

Die Lebens- und Rechtsverhältnisse dieser von der neueuropäischen Kultur unberührten slawischen Volksstämme sind von denen dieser übrigen Völker so völlig und im ersten Prinzip, wie (in dessen Ausbildung) verschieden, dass wir in unsern Sprachen oft nicht die völlig und klar bezeichnenden Worte haben, um die Verhältnisse richtig zu benennen. Wir müssen beschreiben und umschreiben, um den richtigen Ausdruck zu finden. — Der Sprach- und Rechtsbegriff des Worts Gemeinde, Kommune ist z. B. bei uns und in allen europäischen Sprachen scharf und so gleichmäßig ausgebildet, dass man in jeder Sprache, ohne Furcht, missverstanden zu werden, es gebrauchen kann. Wie ungemein verschieden ist aber hiervon der Begriff einer altslawischen und russischen Gemeinde! Dort ist es ein Aggregat, eine Einteilung von oben herab, eine Abteilung zufällig zusammenwohnender Menschen, deren Zusammenleben durch ordnende Sitten, Gebräuche und Gesetze geregelt ist. Hier ist es ein Familienorganismus, ursprünglich eine erweiterte patriarchalische Familie, und noch jetzt wenigstens eine fingierte, auf Gesamteigentum gegründete Familie mit ihrem Haupt an der Spitze.

Bei den von der Kultur völlig unberührt gebliebenen slawischen Stämmen, wie den Serben, Bulgaren etc., fällt dies zu sehr ins Auge, als dass nicht gelehrte und geistreiche Männer dies schon sollten längst gefunden, und daher den Fehler, ihre Zustände mit fremdem Auge aufzufassen, vermieden haben. Die Werke von Ranke liberale Serben, von Cyprian Robert über die Slawen im Allgemeinen geben hiervon ein rühmliches Zeugnis, um so mehr als Ranke, so viel wir wissen, nie in Serbien gewesen ist und das Volksleben unmittelbar angeschaut hat.

Anders verhält es sich mit den Darstellungen russischer Zustände. Russland hat schon früh eine staatliche Einheit gebildet, es erhielt auch schon sehr früh staatliche Einrichtungen von Konstantinopel und selbst wohl durch germanische (warägische) Einwirkungen. Seit dem sechzehnten Jahrhundert, seit Abwerfung des Mongolenjochs, hat es sich entschieden Westeuropa genähert. Seit 140 Jahren aber hat es sich mit Energie der modernen Kultur zu bemächtigen gesucht. Die höheren Stände sind ganz auf europäische Weise erzogen und gebildet worden, alle Staatseinrichtungen sind denen Westeuropas nachgebildet. Die Gesetzgebung hat nicht bloß den Charakter, sondern selbst die Formen der übrigen europäischen angenommen, aber die Wirkung hiervon hat im Allgemeinen sich nur bei den oberen Schichten des Volks geäußert. In die untern Schichten, in die Sitten und Gewohnheiten derselben, in die Familienverfassung, in die Verfassung der Gemeinden, des Ackerbaues, überhaupt in die ganze ländliche Verfassung, ist die fremde Kultur nicht eingedrungen, hat selbst durch die Gesetzgebung sie fast gar nicht, durch die Verwaltung nur wenig berührt.

Aber durch diesen Zwiespalt zwischen der Bildung der oberen und der unteren Schichten des Volks hat das Verständnis der inneren Landesverfassung selbst bei den ersteren unendlich gelitten. Sie, an fremde Sprache und Sitte gewöhnt, ihre Ausbildung nur auf die Kenntnis fremder Jurisprudenz, fremder Institutionen und Einrichtungen gründend, sahen auch alle vaterländischen Institutionen nur mit wenigstens entfremdetem Auge an, suchten sie aus den oberflächlich ähnlichen fremden zu entwickeln oder gar nach deren Muster, wo sie etwa auf die Gesetzgebung einzuwirken vermochten, auszubilden und umzumodeln. Erst in neuester Zeit, wo ein mehr nationaler Sinn sich auch in Russland, wie in allen Ländern Europas, zu bilden beginnt, wo in der russischen Gelehrtenwelt sich ein tüchtiges Streben, die vaterländischen Zustände in ihren Quellen und ihrer wahren Natur zu erforschen*), offenbart, beginnt es in dieser Beziehung anders zu werden. Aber auch noch jetzt steht die einmal eingeführte fremde Bildung, die gebildete Sprache der höheren Stände, welche einmal den russischen Worten in der Bezeichnung vaterländischer Institutionen einen von Fremden entliehenen Begriff aufgeprägt hat, überall hemmend entgegen.

Wenn ich nun behaupten muss, dass selbst die geborenen und gelehrten Russen das Verständnis der echtrussischen Zustände und Institutionen nicht mehr oder noch nicht wieder haben**), dass sie ihrer Sprache noch nicht den Geist haben aufzuprägen vermocht, um jene Zustände uns und sich selbst klar darzustellen, dass ihre Dichter erst jetzt beginnen (nachdem sich auch dort eine Walter Scott'sche und Irving'sche Dichterschule gebildet hat), das Volks- und Familienleben, seine Sitten und Eigentümlichkeiten aufzufassen und zu schildern, so muss man dies natürlich noch in einem viel höheren Grade von Fremden und Ausländern behaupten, die über Russland geschrieben haben.

*) Man muss es vorzugsweise deutschen Gelehrten nachrühmen, dass sie zu dieser Richtung den ersten Anstoß gegeben haben. Männer wie Schlüter, Müller, Ewers, Georgi, Storch etc., und in neuerer Zeit vor Allen Reutz, sind die Lehrer der jüngeren russischen Gelehrten gewesen, und haben die Liebe zu den vaterländischen Institutionen und den Eifer zu ihrer Erforschung zumeist geweckt.
**) Ein merkwürdiges Beispiel hiervon war der jetzt verstorbene Alexander Turgenjew. Ausgerüstet mit einer ganz europäischen kosmopolitischen, Bildung, voll der tiefsten und glühendsten Vaterlandsliebe, mit großer Gelehrsamkeit in den historischen Wissenschaften seines Vaterlandes, war ihm doch das Verständnis des eigentlichen russischen Volkslebens beinahe abhanden gekommen!

Wer nach Russland reisen, die dortigen Zustände gründlich untersuchen, mit unbefangenem Auge das Volksleben anschauen will, muss zuvörderst Alles vergessen, was er in der Fremde darüber gelesen hat.

Der Verfasser dieses Buchs ist nicht viel über ein Jahr in Russland gewesen, er kann daher sich keineswegs rühmen, das russische Volksleben, die russischen Zustände in ihrer Tiefe vollständig aufgefasst zu haben. Er ist aber, wie ihm sein Gewissen sagt, bei seinen Beobachtungen unbefangen und ohne Vorurteil zu Werke gegangen; er hat dort, wie überall auf seinen Reisen, mit Liebe beobachtet, denn er hat von jeher die tiefste Ehrfurcht und Liebe vor allem wahren und ungeschwächten, nicht übertünchten Natur- und Volksleben gefühlt! — Mehr als zwanzigjährige Studien und Reisen haben dabei eben für diese Art von Beobachtungen sein Auge geschärft, und so hofft er denn in diesem Buche nicht bloß manches Neue und völlig Unbekannte, sondern auch manches zum Nachdenken und Forschen Anregende und manches Brauchbare gegeben zu haben; ja er meint gewissermaßen für die Beobachtungsweise russischer Zustände eine neue Bahn angedeutet zu haben. Er verwahrt sich aber ausdrücklich dagegen als ob er etwas Vollständiges, Allgemeingeltendes, Unumstößliches hätte geben wollen oder können. Sein Buch enthält Studien, es ist keine kritische Arbeit, er will nicht verantwortlich für einzelne Unrichtigkeiten sein; aber er glaubt die Punkte angegeben zu haben, auf welche ein Jeder fußen muss, der es unternähme, die gegenwärtigen sozialen Zustände Russlands von innen heraus und ihrem volkstümlichen Prinzipe gemäß darzustellen, oder wo er dazu berufen und in der angemessenen Stellung wäre, sie wahrhaft national zu entwickeln, und nicht bloß formal und auf dem Papiere zu verbessern oder zu fördern. Mögen aufgeklärte und wohlwollende Männer seine Methode beobachten und seine gefundenen Resultate prüfen (er wünscht dies vorzugsweise auch von Seiten der russischen Regierung!); mögen sie ihm beistimmen oder ihn rektifizieren, er wünscht nur, dass das Buch Veranlassung zu Verbesserungen, Anregung zu Fortschritten gewähren möchte.