Vorwort (Zweite Fortsetzung)

Um das eben Gesagte auch schon hier im Vorworte einigermaßen zu belegen, will ich hier kurz einige Resultate meiner Beobachtungen und Forschungen andeuten.

Während die übrigen Staaten Europas in ihrem Ursprunge und ihrer Fortbildung als Feudalstaaten zu bezeichnen sind, muss man Russland einen Patriarchalstaat nennen.


Dieser einfache Satz schließt unermessliche Konsequenzen in sich, und erklärt im Wesentlichen fast den ganzen staatlichen und sozialen Zustand Russlands.

Die russische Familie ist der Mikrokosmus des russischen Volksstaats. In der russischen Familie herrscht vollkommene Gleichheit der Rechte; so lange sie aber ungeteilt zusammen sitzt, hat sie ein Haupt im Vater, oder nach dessen Tode im erstgeborenen Bruder, dem allein die unbeschränkte Disposition über alles Vermögen zusteht, und der jedem in der Gemeinschaft stehenden Familiengliede das Nötige nach eigenem Ermessen zuteilt. Die dann erweiterte Familie ist die russische Gemeinde. Der Grund und Boden gehört der Familie oder Gemeinde, der Einzelne hat nur Nutzungsrechte, und zwar auch in der Gemeinde jeder, der geboren wird, ganz gleiche mit allen übrigen Gemeindegliedern. Der Grund und Boden wird daher unter alle Lebende gleichmäßig zur jeweiligen Nutzung geteilt. Ein Erbrecht der Kinder auf den Anteil des Vaters kann daher nicht existieren. Die Söhne fordern vielmehr von der Gemeinde aus eignem Recht als Gemeindeglieder ihren (allen übrigen gleichen) Anteil. Auch die Gemeinde hat ihren fingierten Vater, den Alten, den Starosten, dem sie unbedingt gehorcht.

Russland gehört nach der traditionellen Volksüberzeugung dem in Gemeinden abgeteilten russischen Volke, als einer einzigen Familie unter ihrem Haupte, ihrem Vater, dem Zar, an, dem daher auch allein die Disposition über Alles zusteht und dem unbedingt gehorcht wird. Eine Einschränkung des Zaren ist dem russischen Volke völlig undenkbar. „Wie kann ein Vater anders als durch göttliche Gesetze eingeschränkt werden?" sagt der eigentliche Kern des Volks noch jetzt, wie bei der Erhebung der Romanows vor 230 Jahren. Alle damaligen wie späteren versuchten Einschränkungen der Machtvollkommenheit der Zarengewalt gingen ganz einfach und spurlos an jener tiefen traditionellen Überzeugung, jenem politischen Glauben des Volks unter! — Die staatsrechtliche Stellung des russischen Monarchen ist daher eine ganz andere, als die eines jeden andern Monarchen, wenigstens die des Zaren dem eigentlichen russischen Volke gegenüber. Als Kaiser der russischen Monarchie ist aber seine Stellung die der andern Monarchen. —

Da jeder Russe einer Gemeinde angehört und als Gemeindeglied zu einem gleichmäßigen Anteil am Grund und Boden berechtigt ist, so gibt es in Russland keine geborene Proletarier.
In allen übrigen Ländern Europas wühlen die Vorboten einer sozialen Revolution gegen Reichtum und Eigentum. — Aufhebung des Erbrechts, gleichmäßige Teilung des Grundes und Bodens ist ihr Schiboleth! In Russland ist eine solche Revolution unmöglich, da jenes Utopien der europäischen Revolutionäre dort, im Volksleben völlig begründet, vorhanden ist!

Der Liberalismus Europas strebt, jeden organischen Unterschied zwischen Stadt und Land zu verwischen, die mittelalterlichen Institute der Gilden, Zünfte etc. überall zu vernichten, allgemeine Gewerbefreiheit zu verbreiten. Dieser soziale Zustand war seit Uralters in Russland vorhanden, aber aller innere Fortschritt war dadurch gehemmt, und die Regierung hat durch Gesetzgebung entgegen zu wirken gesucht, Städte privilegiert und angelegt, Gilden und Zünfte geschaffen, und bis jetzt noch wenig gelungene Anstrengungen gemacht, einen wirklichen Bürgerstand zu schaffen.

Der Adel, ein vielleicht dem slawischen Volksstamme ursprünglich fehlendes Element, war vor Peter I. verhältnismäßig wenig zahlreich. Er verdankte in allen Geschichtsepochen seinen Einfluss und seine Wichtigkeit mehr dem Zutrauen der Fürsten, als seiner Stellung im Volke. Peter I. hat einen Verdienstadel geschaffen, der den alten Erbadel fast ganz in den Hintergrund gedrängt hat*). Die Laufbahn steht jedem offen, und Jeder aus dem Volke kann unter gewissen Bedingungen durch Verdienst den persönlichen und demnächst den erblichen Adel erwerben. Dies zeigt sich aber in der Erfahrung keineswegs als etwas Vortreffliches, und das Bedürfnis eines tüchtigen Landadels ist in Russland unverkennbar.

*) In allen andern Ländern wird der Adel durch die Gnade der Fürsten und nach deren Willkür erworben, selbst in den konstitutionellen. Im autokratischen Russland verleiht nicht der Kaiser willkürlich den Adel, sondern das Verdienst und das Gesetz! Und dennoch gibt es im Allgemeinen keinen schlechtem Adel, als diesen Verdienstadel (Tschinownikadel).

In neueren Zeiten hat Russland ungeheure Fortschritte im modernen Fabrikwesen gemacht. Ein großer Teil des Adels ist Fabrikunternehmer geworden. Moskau, der Mittelpunkt der Fabriktätigkeit, ist aus einer Adelsstadt eine Fabrikstadt geworden. Es ist sehr zweifelhaft, ob die Folgen hiervon überall als günstig zu preisen sind.

Zum Teil in Folge hiervon ist der Taglohn in Russland unermesslich gestiegen. Im Vergleich und mit Berücksichtigung aller Umstände steht er in keinem Lande so hoch, wie dort.

Die Rohprodukte des Landbaues stehen im Innern Russlands, entfernt von den europäischen Kornmärkten und der notwendigen Kommunikationsmittel entbehrend, sehr niedrig im Preise.

Da nun der Taglohn so hoch, überhaupt alle Arbeit unendlich teuer ist, so ist es klar, dass das am wenigsten lohnende Gewerbe der Landbau ist. Die Bodenrente ist auch wirklich, wenn mit gemieteten Leuten der Ackerbau betrieben werden sollte, völlig illusorisch. Die Folge ist, dass der Landbau in allen Zweigen ohne Energie und Fleiß betrieben wird und zurückgeht, statt Fortschritte zu machen. Er würde noch mehr zurückschreiten, wenn in vielen Gegenden die Leibeigenschaft mit ihren Fronden ihn nicht aufrecht erhielte. Die Fabriktätigkeit ist daher eins der mächtigsten Hemmnisse gegen die Auflösung der Leibeigenschaft, die außerdem auch in Russland allmählich eine Notwendigkeit zu werden beginnt.

Seit Uralters existiert in vielen Teilen Russlands eine Gewerbetätigkeit, die, auf die russische Gemeindeverfassung begründet, eine Art von nationalen Assoziations-Fabriken bildet. Diese stellen in der Tat dar, was die saintsimonistischen Theorien als zur sozialen Reform Europas gehörig ausgegrübelt und als Muster aufgestellt haben. Das Gouvernement hat aus Vorliebe für das moderne Fabrikwesen diese nationalen Assoziations-Fabriken bis jetzt viel zu wenig beachtet.

Russland geht in seiner inneren Entwicklung einer großen Zukunft entgegen. Seine staatliche Einheit ist eine Naturnotwendigkeit; das Land ist von der Natur in vier kolossale Abteilungen eingeteilt, die jede für sich, sobald sie einmal angemessen bevölkert sind, die Bedingungen einer wahren Selbstständigkeit nicht haben, sondern nur in ihrer Vereinigung einen mächtigen und unabhängigen Staat bilden. Der Norden hat nur Wälder, darunter z. B. einen zusammenhängenden Wald, der größer ist als das Königreich Spanien! Dann kommt ein Länderstrich von geringer oder mittelmäßiger Fruchtbarkeit vom Ural bis Smolensk, 18.000 Quadrat-Meilen groß mit mehr als 16 Millionen Menschen, voll der ausgedehntesten und verschiedenartigsten Gewerbetätigkeit, der aber ohne die darüber liegenden Wälder des Nordens und die darunter liegenden unendlich fruchtbaren Landstriche gar nicht existieren könnte. Südlich unter diesem Landstriche liegt jener Landstrich der sogenannten schwarzen Erde, der an Fruchtbarkeit und Ausdehnung seines Gleichen kaum auf dem Erdboden haben möchte! Er ist zweimal so groß als ganz Frankreich! Hier wächst der Weizen 100 Jahre hinter einander auf demselben ungedüngten Acker. Fast nirgends darf gedüngt, an manchen Stellen nicht einmal gepflügt, sondern die Erde nur leicht zur Saat aufgeritzt werden! Stroh und Dünger dienen nur zur Feuerung, denn Wälder gibt es nicht.

Südlich und südöstlich beginnen die ungeheuren Steppen, welche die Nomaden seit Jahrtausenden mit ihren Herden durchziehen, die aber, größtenteils fruchtbar, jetzt allmählich von einer sich überall oasenartig ansiedelnden Kolonisation aus dem Innern immer mehr kultiviert werden. Gelingt es einst, diese am schwarzen Meere gelegenen Länder zu bewalden und dann angemessen zu bevölkern, so möchten sie zu den blühendsten Europas zu zählen sein.

Dieser ungeheure, dem übrigen Europa an Größe nicht nachstehende, zwischen 4 Meeren gelegene Landstrich wird von einem völlig homogenen, kerngesunden und kräftigen Volke bewohnt.

Die Russen teilen sich in zwei Stämme, Großrussen und Kleinrussen, die aber im Dialekt nicht so fern auseinander stehen, als Niederdeutsche und Oberdeutsche. Die 34 Millionen Großrussen bilden die zahlreichste und kompakteste homogene Nationalmasse, die es in Europa gibt. In der Gesinnung des Volks ist nicht eine Spur von Eifersüchtelei, Absonderungs- und Trennungssucht, vielmehr ein Gesamtgefühl der Einheit des Volks und der Kirche, wie in keinem andern Volke. Nur die Kleinrussen, sinniger und geistig begabter, bilden eine leichte Schattierung der Absonderung und des Gegensatzes zu den Großrussen, jedoch mit großer Festhaltung der Einheit Russlands.

Die oberen Schichten dieses Volks haben seit einem Jahrhundert eine europäische, aber nicht nationale, nicht aus der Entwicklung des eigenen Volks hervorgegangene Bildung erhalten. In Bezug auf Bildung findet man daher in Russland zwei nebeneinander stehende Völker. Aber gegenwärtig regt sich bei den unteren Klassen, angeregt und gefördert durch die unermesslich zunehmende Gewerbetätigkeit, ebenfalls ein mächtiger Trieb nach intellektueller Bildung, und es wird eine der größten Aufgaben der Regierung werden, diesem Triebe und mächtigen Bedürfnisse die richtige Leitung zu gewähren. Diese Leitung kann nur die Nationalkirche übernehmen, aber der Klerus derselben bedarf selbst zuvörderst einer mehr praktischen Ausbildung, die ihn hierzu befähigt, und erst in neuester Zeit wird, angeregt vom Gouvernement, hiernach gestrebt.

Wenn ich die staatliche Einheit und Unteilbarkeit Russlands als eine Naturnotwendigkeit behaupten muss, so muss ich von der andern Seite aber auch behaupten, dass es keine erobernde Macht sein kann und darf. Es hat erobert und musste erobern, so lange es sich um den Gewinn einer inneren Einheit und Unabhängigkeit und einer äußern soliden Stellung handelte. Es konnte nun einmal ohne die Meeresküsten des baltischen und schwarzen Meeres niemals ein kompakter, in sich geschlossener und äußerlich mächtiger Staat werden! Aber jede fernere Eroberung ist ihm schon gegenwärtig mehr eine Last, als ein Vorteil und Zuwachs der Macht geworden. Wenn es sich mit der Würde des Staats vertrüge, so täte es besser, alle lästigen Eroberungen wieder aufzugeben! Jedes Dorf, das es aber gegenwärtig noch erobern möchte, würde eine nicht zu berechnende Vermehrung der Last und Schwächung der inneren Macht sein. — Russland hat mit der Eroberung seines Inneren noch länger als ein Jahrhundert zu tun! Was helfen ihm eine Million unzuverlässiger Untertanen in einem eroberten Lande, die es durch eine zahlreiche Armee bewachen lassen muss, während es durch Eroberung seines Inneren in wenigen Jahren 10 Millionen zuverlässiger und homogener Untertanen gewinnen kann?