Der letzte Familientag.

Mit meinen beiden Frauensleuten, Frau und Schwiegertochter, habe ich heute einen schweren Stand gehabt. Es war Mutters Geburtstag, ein seit 26 Jahren mir lieber Gedenktag; aber eine frohe Stimmung kam heute nicht zur Geltung. Morgen reist Franz nach Leipzig, morgen müssen wir auch die beiden anderen Kinder abgeben. Großvater zieht in die Altersversorgungsanstalt.

Von alledem war mehr die Rede als vom Geburtstag. Großvater stimmte meine Frau schon vom frühen Morgen an weichmütig. Die Sozialdemokratie, so klagte er, ist unser aller Unglück; das habe ich immer kommen sehen. Ich schilderte ihm das gute, bequeme Leben, welches ihn in der Anstalt erwarte.


Was nützt mir dies alles, rief er aus. Ich soll dort mit fremden Leuten wohnen, essen und schlafen. Meine Tochter ist nicht um mich und sorgt nicht mehr für mich. Ich kann nicht rauchen wo und wie ich will. Mit Annie kann ich nicht mehr spielen, und Ernst erzählt mir nichts mehr aus der Schule. Auch aus deiner Werkstatt erfahre ich nichts. Wenn ich wieder einmal krank werde, dann bin ich ganz verlassen. Einen alten Baum soll man nicht versetzen; mit mir wird es nun bald zu Ende sein.

Wir trösteten ihn mit häufigen Besuchen. Ach, meinte er, mit solchen Besuchen ist es nur eine halbe Sache. Dabei ist man nicht recht unter sich und wird von andern gestört.

Wir ließen die kleine Annie, Großvaters Liebling, versuchen, ihn in ihrer schmeichlerischen Weise zu trösten. Das Kind war am muntersten von allen. Es hatte ihm jemand erzählt von vielem Kuchen, hübschen Puppen, kleinen Hunden, Bilderbüchern und allerlei schönen Sachen im Kinderheim. Davon plauderte sie in ihrer Art immer wieder aufs Neue.

Franz zeigte eine ruhige Entschlossenheit; er gefiel mir aber doch nicht. Es kommt mir vor, als ob er irgend etwas besonderes plant, was er nicht verraten will. Hoffentlich verträgt es sich mit unseren Sozialdemokratischen Grundsätzen.

Mein anderer Junge, der Ernst, lässt es sich nicht so merken, wie er denkt und fühlt. Gegen seine Mutter war er überaus zärtlich, was sonst nicht gerade seine Sache ist. Er sollte jetzt in die Lehre kommen und hatte sich darauf gefreut. Der Junge hat eine geschickte Hand, aber mit dem Studieren will es nicht recht bei ihm vorwärts. Nun sollten aber alle Kinder in diesem Alter gleichmäßig noch ein paar Jahre studieren und dann erst eine Fachausbildung erlangen.

Mutter bereitet uns immer zu ihrem Geburtstag einen schönen saftigen Kalbsbraten mit Backpflaumen, unsern historischen Kalbsbraten, wie ihn Franz immer scherzhaft nannte. Wenn Ihr auch, so meinte meine Frau wehmütig, als der Braten auf den Tisch erschien, nächstens zu Besuch kommt, einen Kalbsbraten kann ich Euch doch nicht vorsetzen, denn eine Küche haben wir dann nicht mehr. Alle Achtung vor Deinen Kalbsbraten, so schaltete ich ein, aber darum können wir doch unsere Ideale nicht preisgeben. Wir werden auch künftig Kalbsbraten essen und sogar öfter und noch manches andere Leckere dazu. Aber, so meinte sie, der eine bekommt dann hier, der andere dort zu essen. Was dem Herzen bei der Trennung verloren geht, kann das große Wohlleben nicht ersetzen. Es ist mir auch nicht um den Kalbsbraten, sondern um das Familienleben.

Also nicht um die Wurst, sondern um die Liebe, so scherzte ich. Tröste Dich, Alte, wir werden uns künftig auch recht lieb haben und noch mehr freie Zeit als bisher, es uns sagen zu können.

Ach, sagte meine Frau, ich wollte mich lieber wieder 10 und 12 Stunden hier im Hause für Euch plagen, als dort 8 Stunden für fremde Kinder, die mich nichts angehen.

Warum muß das alles sein, fragte sie dann scharf, und die Schwiegertochter, die immer meiner Frau beistimmt, wenn sie auf solche Kapitel kommt, wiederholte die Frrage noch schärfer. Wenn die beiden zusammen ein Duett reden, so ist für mich kein Aufkommen mehr, zumal wenn Franz sich so neutral verhält oder gar seiner Braut dabei zunickt.

Habt Ihr denn nicht mehr in Erinnerung die schönen Vorträge von Fräulein W. über die Emanzipation des Weibes, ihre Gleichberechtigung in der Gesellschaft mit dem Mann? Damals haben Euch doch diese Reden ebenso begeistert, wie Bebels Buch!

Ach Fräulein W. ist eine alte Jungfer, die immer nur Chamber garnie oder in Schlafstellen gewohnt hat, erhielt ich darauf zur Antwort.

Darum aber kann sie doch recht haben, erwiderte ich. Gleiches Arbeitsrecht und gleiche Arbeitspflicht ohne Unterschied des Geschlechts ist die Grundlage der sozialisierten Gesellschaft. Unabhängigkeit der Frau vom Manne durch gleichen und selbständigen Erwerb der Frau außer dem Hause, keine Haussklaven mehr, weder Sklavendienste der Frau noch der Dienstboten. Darum äußerste Beschränkung der Häuslichkeit durch Übertragung häuslicher Arbeit auf große Anstalten der Gesellschaft. Keine Kinder und keine älteren Personen mehr in der Häuslichkeit, damit nicht die ungleiche Zahl solcher Pfleglinge in der Familie die Unterschiede von Arm und Reich aufs Neue hervorbringt. So hat es uns Bebel gelehrt.

Das mag ja alles rechet mathematisch ausgedacht sein, meinte Großvater, aber glücklich, August, macht das nicht. Denn warum? DieMenschheit ist keine Hammelherde.

Großvater hat Recht, rief Agnes, und damit fiel sie Franz um den Hals mit der Versicherung, sie wolle gar nicht von ihm emanzipiert werden.

Da war es denn freilich mit einer vernünftigen Auseinandersetzung zu Ende. — Ich wollte doch, der morgige Trennungstag wäre schon überstanden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder