Nachrichten vom Lande.

Alle 20jährigen jungen Leute haben sich binnen drei Tagen beim Militär zu stellen. Agnes’ Bruder ist auch darunter. Die „Volkswehr“ soll aufs schleunigste organisiert und bewaffnet werden. Das Kriegsministerium, dessen weite Baulichkeiten in der Leipzigerstraße und Wilhelmstraße wegen des schönen Gartens zu einer großen Kindererziehungsanstalt umgewandelt werden sollten — meine Frau sollte in dieser Anstalt tätig sein — muss seiner früheren Bestimmung erhalten bleiben.

Die inneren Verhältnisse machen die Aufstellung der Volkswehr früher und umfangreicher, als beabsichtigt war, notwendig. Die neuen Landräte in den Provinzen verlangen dringend nach militärischer Unterstützung zur Durchführung der neuen Gesetze auf dem Lande und in den kleineren Städten. Deshalb wird am Orte jedes Landwehrbezirkskommandos ein Bataillon Infanterie, eine Eskadron und eine Batterie aufgestellt. Indess werden der größeren Sicherheit halber diese Truppenteile nicht aus Mannschaften desselben Ergänzungsbezirks gebildet.


Die Bauern müssen zur Raison gebracht werden. Sie widersetzen sich der Verstaatlichung oder, wie es jetzt amtlich heißt, der Vergesellschaftung ihres Privateigentums an Grund und Boden, Haus und Hof, Vieh und sonstigem Inventar. Solch' ein Bauer will durchaus auf seinem Eigenen sitzen bleiben, auch wenn er sich dabei von früh bis spät schinden und plagen muss. Man könnte die Leute ja ruhig sitzen lassen, wenn dadurch nicht die ganze planmäßige Organisation der Produktion für das Reich unmöglich würde. Darum müssen die Unverständigen jetzt zu ihrem eigenen Besten gezwungen werden. Wenn aber die ganze Organisation erst durchgeführt ist, dann werden auch die Bauern einsehen, welches angenehme Wohlleben ihnen die Sozialdemokratie bei kurzer Arbeitszeit verschafft hat.
Die Knechte und Tagelöhner auf dem Lande waren zuerst, als die großen Güter, auf denen sie bisher Arbeit fanden, für Nationaleigentum erklärt wurden, sehr bei der Sache. Nun ist aber plötzlich eine sonderbare Veränderungsluft in diese Leute gefahren. Sie drängen allesamt nach den großen Städten, womöglich nach Berlin. Hier in der Friedrichstraße und unter den Linden gewahrte man in den letzten Wochen die wunderbarsten, sonst hier nie gesehenen Gestalten aus den entlegendsten Bezirken Deutschlands. Zum Teil sind sie mit Frau und Kind angerückt gekommen, hatten wenig Mittel, verlangten aber Speise und Trank, Kleider und Schuhwerk vom Besten und Teuersten. Sie hatten gehört, daß hier alles in eitel Wohlleben schwelge, wenn es nur wahr wäre!

Natürlich müssen jetzt diese Hinterwäldler per Schub in die Heimat zurückgebracht werden, was allerdings viel Erbitterung hervorruft. Das fehlte auch noch, daß sich die Regierung ihre großartige Organisation der Produktion und Konsumtion durch ein beliebiges Hin- und Herwandern der Leute aus der Provinz kreuzen ließe. Bald würden sie wie Heuschrecken über die hier aufgespeicherten Vorräte herfallen und zu Hause die notwendige Arbeit im Stich lassen, bald wieder, wenn es ihnen anders passte, ausbleiben und die in Erwartung ihres Besuchs angeschafften Vorräte verderben lassen.

Es wäre freilich richtiger gewesen, wenn die erst jetzt erlassenen Bestimmungen schon früher gekommen wären, wonach niemand seinen Wohnort zu vorübergehender Abwesenheit ohne Urlaubskarte und zu dauernder Entfernung ohne Anweisung der Obrigkeit verlassen darf. Natürlich soll Berlin auch künftig Besuch und Zuzug erhalten, doch nicht willkürlich und planlos sondern, wie dies alles der „Vorwarts“ einfach und klar darlegt, nach Maßgabe der sorgfältig aufgestellten Berechnungen und Pläne der Regierung. Der sozialdemokratische Staat oder, wie es jetzt heißt, die Gesellschaft, nimmt die allgemeine Arbeitspflicht ernst und duldet deshalb keinerlei Vagabondage, auch keine Eisenbahnvagabondage.

Der „Vorwärts“ bringt auch heute einen sehr scharfen Artikel gegen die sogenannten Dezentralisten, d. h. eine kompromißsüchtige Richtung, zu der sich auch viele Berliner Weißbierphilister rechnen. Das sind Leute, die nicht begreifen können, daß die Berliner Stadtverordneten jetzt nicht mehr zu parlamenteln, sondern nur Ordre zu parieren haben. Den Stadtverordneten liegt es lediglich ob, für Berlin im Einzelnen auszuführen, was die Regierung für das ganze Land bestimmt. Berlin hat für seine im Reichshaltsetat festgesetzte Bevölkerungszahl so viel auszugeben, wie für jedes Jahr in diesem Etat für neue Häuser oder öffentliche Anlagen und kommunale Einrichtungen ausgeworfen werden wird, nicht mehr und nicht weniger.

Gestern hat der Reichskanzler wieder einmal, wie der „Vorwärts" mit Recht rühmt, in seiner zielbewussten Weise im Reichstag gesprochen, und einen einstimmigen Beschluss erzielt. Es handelte sich darum, ob ein Versuch gemacht werden soll, das platte Land dadurch zu beruhigen, daß das ländliche Privateigentum nicht zu Gunsten der Gesamtheit in Deutschland, sondern zu Gunsten sogenannter lokaler Produktivgenossenschaften aufgehoben wird, zu welchen die Einwohner jedes Ortes verbunden werden sollen.

„Solche aus Lassalles Zeit herrührenden und bereits 1891 vom Erfurter Parteitag abgetanen Irrtümer sollten doch nicht wieder aufleben. Aus einer solchen Organisation verschiedener Produktionsgenossenschaften würde ja eine selbständige Konkurrenz der einzelnen Orte unter einander mit Notwendigkeit folgen. Der Unterschied der Güte des Bodens in den verschiedenen Landstrichen und Ortschaften würde wieder Unterschiede von Reich und Arm mit sich bringen und damit dem Privatkapitalismus eine Hintertür öffnen. Eine planmäßige Organisation der Produktion und Konsumtion aber sowie eine sachgemäße Verteilung der Arbeitskräfte über das ganze Land duldet keinerlei Individualismus, keinerlei freie Konkurrenz, weder eine persönliche noch eine örtliche Selbständigkeit. Die Sozialdemokratie verträgt eben keine Halbheiten; man will sie entweder ganz oder man will sie nicht. Wir aber wollen sie voll oder ganz zur Wahrheit machen.“ (Lebhafter Beifall.)


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder