Nun erzählte der Alte eine seiner Hauptgeschichten, wie ihn nämlich ein Ort wegen seines guten Geigenspiels als Lehrer angenommen, ...

Nun erzählte der Alte eine seiner Hauptgeschichten, wie ihn nämlich ein Ort wegen seines guten Geigenspiels als Lehrer angenommen, die Regierung aber einen andern mit Dragonern einsetzen wollte, wie das ganze Dorf revoltierte, so daß es am Ende doch bei seiner Bestallung blieb.

„Hat denn Euer Ansehen als Lehrer nicht darunter gelitten, wenn Ihr auf den Kirchweihen spieltet?“ fragte der junge Mann.


„Im Gegenteil, ich hab’ hier im Ort mehr als fünfzigmal gespielt, und Ihr werdet keinen sehen, der nicht die Kapp’ vor mir lupft.“

Der Redefluß des Alten war in ununterbrochenem Gange, bis man wieder in den Garten zurückgekehrt war; unser Freund harrte aber umsonst auf die Ankunft Hedwigs, sie kam nicht. So ward doch der anfängliche Vorsatz erfüllt, er sah Hedwig eine lange, lange Zeit nicht, nämlich einen ganzen Tag.

Andern Tages ging unser Freund wieder allein in das Feld, er sah den Buchmaier auf einem großen, breiten Acker mit einem Pferde, das vor eine Art Walze gespannt war, arbeiten.

„Fleißig, Herr Schultheiß?“ sagte der Lehrer; er hatte sich nun schon die bräuchlichen Anreden gemerkt.

„So a bißle,“ erwiderte der Buchmaier und trieb seinen Gaul noch bis ans Ende des Feldes nach dem Wege zu, dann hielt er an.

„Ist das der Fuchs,“ fragte der Lehrer, „den Ihr selben Tag, als ich angekommen bin, eingewöhnt habt?“

„Ja. der ist’s, das freut mich, daß Ihr auch daran denket; ich hab’ gemeint, Ihr denket allfort bloß an Eure Geschriften. Gucket, mit dem Gaul ist mir’s ganz besonders gangen. Ich hab’ meinem Oberknecht seinen Willen gelassen und hab’ ihn gleich anfangs zweispännig eingewöhnen wollen, aber es ist nicht gangen. So ein Füllen, das sein Lebtag noch kein Geschirr auf dem Leib gespürt hat, das schafft sich ab und zieht und thut und bringt doch nichts Rechts zuweg; wenn es scharf anzieht und mit den Sträng’ ein bißle vor ist, so macht es den Nebengaul nur irre, daß er gar nichts mehr thut und nur so neben her lottert; wenn man’s allein hat, so lernt es stet thun und zappelt sich nicht so für nichts ab. Wenn ein Gaul einmal allein gut ist, nachher geht er auch selbander gut, und man kann schon eher ‘rauskriegen, wie stark der Nebengaul sein muß.“

Aus mancherlei Anwendungen, die der Lehrer von dieser Rede machte, sagte er nur diese laut:

„Es geht auch bei den Menschen so: zuerst muß man für sich allein etwas gewesen sein, ehe man in Gemeinschaft gut arbeitet und tüchtig ist.“

„Daran hab’ ich noch nicht dacht, aber es ist wahr.“

„Ist das die neue Säemaschine, die Ihr da habt? Was säet Ihr denn?“

„Raps.“

„Findet Ihr es nun mit der Maschine nützlicher, als mit der früheren Art zu säen?“

„Wohl, es wird gleicher, ist aber nur für große Aecker; Bauern, die nur ein klein Schnipsele haben, das man wohl mit einer Handvoll überlangen kann, die säen besser mit der Hand.“

„Ich muß gestehen, für mich hat das Säen mit der Hand etwas Ansprechendes; es liegt eine sinnige Deutung darin, daß das Samenkorn zuerst unmittelbar in der Hand des Menschen ruht, dann hingeschleudert eine Weile frei in der Luft schwebt, bis es von der Erde angezogen in den Boden fällt, um zu verwesen und neu aufzugehen. Findet Ihr das nicht auch?“

„Es kann sein, ich merk’ aber eben erst, daß man den Säespruch nicht mehr gut sagen kann mit der Maschine; nun, man kann’s doch dabei denken.“

„Welchen Säespruch?“

„Früher hat man, wie man das Saatkorn so aus der Hand gestreut hat, dabei gesagt:

Ich säe diesen Samen
Hier in Gottes Namen,
Für mich und die Armen.“

„Dieser Spruch sollte nicht aufhören.“

„Ja, wie gesagt, man kann’s ja auch so denken, oder auch sagen; es ist eben nützlicher mit der Maschine.“

„Finden solche neue Erfindungen hier leicht Eingang?“

„Nein. Wie ich zum erstenmal meine Ochsen jeden in ein besonder Joch gespannt hab’, ist das ganze Dorf nachgelaufen; wie ich nun gar das Ding da vom landwirtschaftlichen Fest heimbracht hab’ und zum erstenmal mit ‘naus bin, da haben mich die Leute für närrisch gehalten.“

„Es ist doch traurig, daß die Verbesserungen so schwer bei dem gewöhnlichen Volke Eingang finden.“

„Oh, Fuchs, oha!“ schrie der Buchmaier seinem unruhig scharrenden Pferde zu; dann es fester haltend, fuhr er fort: „Das ist gar nicht traurig, Herr Lehrer, im Gegenteil, das ist recht gut. Glaubet mir, wenn die Bauersleut’ nicht so halsstarrig wären und jedes Jahr das Versucherles machen thäten, das die studierten Herren aushecken, wir hätten schon manches Jahr hungern müssen. Oha, Fuchs. Ihr müsset Euch in der Landwirtschaft ein bißle umsehen, ich will Euch ein paar Bücher geben.“

„Ich will zu Euch kommen, ich sehe, das Pferd will nicht mehr stillhalten; ich wünsch’ gesegnete Arbeit.“

„B’hüt’s Gott,“ sagte der Buchmaier, über den letzten Gruß lächelnd.

Der Lehrer ging seines Weges, der Buchmaier fuhr in seiner Arbeit fort. Kaum war aber jener einige Schritte entfernt, als er den Buchmaier den Lauterbacher pfeifen hörte, er schreckte ein wenig zusammen, denn er war noch nicht frei von Empfindlichkeit und war geneigt, dies für Spott zu halten; bald aber sagte er sich wieder: der Mann denkt gewiß nichts Arges dabei – und darin hatte er recht, denn der Buchmaier dachte nicht nur nichts Arges, sondern gar nichts dabei, die lustige Weise war ihm eben so in den Mund gekommen.

In einer Feldschlucht, wo er sich zuerst umgesehen, ob ihn niemand bemerke, schrieb der Lehrer in sein Taschenbuch:

„Die stetige und fast unbewegliche Macht des Volkstums, des Volksgeistes, ist eine heilige Naturmacht; sie bildet den Schwerpunkt des Erdenlebens, und ich möchte wiederum sagen, die vis inertiae im Leben der Menschheit.

Welchen unglückseligen Schwankungen wäre die Menschheit hingegeben, wenn alsbald jede sittliche, religiöse und wirtschaftliche Bewegung die der Gesamtheit würde! Erst was die Schwankung verloren, erst was Stetigkeit, ich will sagen, was ruhige Bewegung geworden, kann hier einmünden; hier ist das große Weltmeer, das sich in sich bewegt . . .

Ich will das Leben und die Denkweisen dieser Menschen heilig achten, aber ich will es versuchen . . .“

Was der Lehrer versuchen sollte, war hier nicht ausgedrückt, aber er hatte auf glückliche Weise an manchen Enden des Dorflebens angeknüpft.

Hedwig sprach er mehrere Tage nicht, er sah sie wohl einigemal, als er bei der Großmutter war, aber sie schien sehr beschäftigt und huschte nur immer mit kurzen Reden vorbei, ja, sie schien ihm fast auszuweichen; er wartete in Geduld eine Zeit der Ruhe ab.

Wohl bewegte die Liebe zu dem Mädchen mächtig sein Herz, aber auch die ganze Welt des Volkstums, die sich ihm aufschloß, schwellte ihm die Brust. Er ging oft wie traumwandelnd umher, und doch hatte er noch nie so sicher und fest im Leben gestanden als eben jetzt.

Manche Trübsal und Störung erfuhr auch der Lehrer durch den Studentle. Dieser war begierig, zu erfahren, was der Lehrer mit seiner Großmutter zu „basen“ habe; er gesellte sich daher mehrmals zu den beiden. Wenn ein tieferer Gemütston angeschlagen wurde, fuhr er mit lustigen Spöttereien drein.

Als der Lehrer fragte: „Großmutter, gehet Ihr gar nie in die Kirche?“ erwiderte der Studentle schnell: „Ja, Großmutter, Euch gedenkt’s vielleicht noch, wer die Kirch’ gebaut hat; der Herr Lehrer möcht’s gern wissen, er will aber doch die Kirch’ im Dorf lassen.“

„Sei still, du,“ entgegnete die Großmutter, „wenn du was nutz wärest, wärst du jetzt Meister in der Kirch’ und wärst Pfarrer.“ Zu dem Lehrer gewendet, fuhr sie fort: „Schon seit fünf Jahren bin ich nicht in der Kirch’ gewesen, aber am Sonntag merk’ ich schon daheim am Läuten, wenn das Heilig gezeigt wird und wann die Wandlung ist; da sag’ ich dann die Litanei allein. Alle Jahr zweimal kommt der Pfarrer und gibt mir das Abendmahl; er ist gar ein herziger Mann, unser Pfarrer, er kommt auch sonst zu mir.“

„Meinet Ihr nicht, Herr Lehrer,“ begann der Studentle, „daß meine Großmutter eine Aebtissin comme il faut wäre?“
Die Großmutter schaute den beiden verwundert ins Gesicht, da sie so fremde Worte über sich hörte, sie wußte nicht, was das zu bedeuten habe.

„Allerdings,“ sagte der Lehrer, „aber ich glaube, daß sie auch eben so fromm sein und eben so selig werden kann.“

„Gucket Ihr’s, Ahne,“ sagte der Studentle frohlockend, „der Herr Lehrer sagt’s auch, daß die Pfarrer kein Brösele mehr sind als andre Menschen.“

„Ist das wahr?“ fragte die Alte betrübt.

„Ich meine so,“ begann der Lehrer, „es können ja alle Menschen selig werden, aber ein echter Geistlicher, der fromm und gut ist und eifrig für das Seelenheil seiner Nebenmenschen sorgt, der hat eine höhere Stufe.“

„Das mein’ ich auch,“ sagte die Alte. Dem Lehrer stand der Angstschweiß auf der Stirn, der Studentle aber fragte wieder:

„Sind Ihr nicht auch der Meinung, Herr Lehrer, daß die Geistlichen heiraten sollten?“

„Es ist Kirchengesetz, daß sie nicht heiraten dürfen, und wer bei vollem Bewußtsein Geistlicher geworden ist, muß sein Gesetz halten.“

„Das mein’ ich auch,“ sagte die Alte mit großer Heftigkeit, „die, wo heiraten wollen, das sind Fleischteufel, und man heißt’s Geistlich und nicht Fleischlich. Ich will Euch was sagen, gebet dem da kein’ Antwort mehr, lasset Euch Euer gut Gemüt nicht verderben, der hat heut wieder seinen gottlosen Tag, er ist aber nicht so schlecht, wie er sich stellt.“

Der Studentle sah, daß bei seiner Großmutter nichts auszurichten war, und ging mißmutig davon, auch der Lehrer entfernte sich bald; wieder war ihm ein schönes zartes Verhältnis hart angefaßt worden. Erst zu Hause gelangte er zur Ruhe und stählte sich gegen die unvermeidlichen Eingriffe von außen.

Am Sonntag gelang es unserm Freunde endlich wieder, Hedwig in Ruhe zu sprechen; er traf sie bei dem alten Lehrer im Garten, sie saß mit ihm auf der Bank, die beiden schienen nichts gesprochen zu haben.

Nach einigen gewöhnlichen Redeweisen begann der Lehrer: „Es ist doch eine hohe erhabene Sache, daß der siebente Tag durch die Religion geheiligt und aller Arbeit ledig ist; wenn wir uns vorstellen, daß das nicht so wäre, die Leute würden vor übermäßiger Anstrengung sterben. Wenn man in dieser hohen Erntezeit z. B. Tag für Tag ohne Unterlaß arbeiten würde, bis alles vollbracht wäre, niemand könnte es aushalten.“

Hedwig und der alte Mann sahen zuerst über diese Rede verwundert drein, dann aber sagte Hedwig:

„Ihr sind wohl schon hier gewesen, wie’s der Pfarrer in der Heuet erlaubt hat, daß man am Sonntag das Heu wenden darf, weil es so lange geregnet hat und alles erstickt wär’. Ich bin auch mit ‘naus ins Feld, aber es ist mir gewesen, wie wenn jede Gabel voll Heu doppelt so schwer sei; es ist mir gerad’ gewesen, wie wenn mich einer am Arm halten thät, und den andern Tag und die ganz’ Woch’ war mir’s, wie wenn die ganze Welt verkehrt wär’ und schon ein Jahr lang kein Sonntag mehr gewesen sei.“

Freudestrahlend blickte der Lehrer Hedwig an, ja, das war die Großmutter; zu dem alten Manne gewendet, sagte er aber:

„Ihr müsset Euch noch der Zeit erinnern, als man in Frankreich die Dekaden einführte.“

„Dukaten? die kommen ja aus Italien.“

„Ich meine Dekaden. Man verordnet nämlich, daß nur alle zehn Tage ein Ruhetag sein solle, da wurden ebenfalls alle Menschen krank. Die Zahl Sieben wiederholt sich auf eine geheimnisvolle Weise in der ganzen Natur und darf nicht verrückt werden.“

„Das war ja verrückt, alle zehn Tage einen Sonntag, he, he,“ sagte der alte Mann.

„Wisset Ihr auch die Geschicht’ von dem Herrn, wo in der hiesig’ Kirch’ in Stein gehauen ist mit dem Hund?“ fragte Hedwig.

„Nein, erzählet sie.“

„Das war auch so einer, der den Sonntag nicht heilig gehalten hat. Es war ein Herr –“

„Der Herr von Isenburg und Nordstetten,“ ergänzte der Alte.

„Ja,“ fuhr Hedwig fort, „man sieht in Isenburg nur noch ein paar Mauern von seinem Schloß; der hat nun auch nichts auf keinen Sonntag und keinen Feiertag gehalten und hat nichts auf der Welt lieb gehabt als seinen Hund, der war so groß und bös wie ein Wolf. Am Sonntag und Feiertag hat er die Leut’ zwungen, daß sie haben alles schaffen müssen, und wenn sie nicht gutwillig gangen sind, ist der Hund von ihm selber auf sie gesprungen und hat sie schier verrissen, und da hat er, der Herr, gelacht und hat dem Hund den Namen Sonntag geben. Er ist nie in die Kirch’ gangen als ein einzigmal, wie man sein’ einzig’ Tochter kopuliert hat; er hat den Hund, wo Sonntag geheißen hat, mit in die Kirch’ nehmen wollen, der ist aber nicht dazu zu bringen gewesen und hat sich vor der Kirch’ auf die Schwell’ hingelegt, bis sein Herr wieder ‘rauskommen ist. Wie nun der ‘rausgeht, stolpert er über den Hund, fällt hin und ist maustot, und da ist auch sein’ Tochter gestorben, und die sind jetzt beide mitsamt dem Hund in der Kirch’ in Stein gehauen. Man sagt, der Hund sei der Teufel gewesen, und sein Herr hab’ sich ihm verschrieben gehabt.“

Der Lehrer suchte zu beweisen, daß diese Sage sich erst durch das Vorhandensein des Denkmals gebildet habe, daß die Adeligen sich gern mit Wappentieren abbilden lassen u. s. w.; er fand aber wenig Anklang und schwieg.

Niemand war geneigt, das Gespräch fortzusetzen. Hedwig machte mit ihrem Fuße ein Grübchen in den Sand, der Lehrer nahm hier zum erstenmal Gelegenheit, die Kleinheit ihres Fußes zu bemerken.

„Leset Ihr nicht auch mitunter am Sonntag?“ begann er so vor sich hin; niemand antwortete; er blickte Hedwig bestimmt an, worauf sie erwiderte:

„Nein, wir machen uns so Kurzweil.“

„Ja, womit denn?“

„Ei, wie Ihr nur so fragen könnet; wir schwätzen, wir singen, und hernach gehen wir spazieren.“

„Nun, was sprechet Ihr denn?“

Das Mädchen lachte laut und sagte dann: „Das hätt’ ich mein Lebtag nicht denkt, daß man mich das fragt. Geltet, Vetter, wir besinnen uns nicht lang drauf? Jetzt wird bald mein Gespiel’, des Buchmaiers Agnes, kommen, da werdet Ihr nimmer fragen, was man schwätzt, die weiß eine Kuhhaut voll.“

„Habt Ihr denn noch gar keine Bücher gelesen?“

„Ja freilich, das G’sangbuch und die biblisch’ G’schicht’.“

„Sonst nichts’?“

„Und das Blumenkörble und die Rosa von Tannenburg.“

„Und noch?“

„Und den Rinaldo Rinaldini. Jetzt wisset Ihr alles,“ sagte das Mädchen, mit beiden Händen über die Schürze streifend, als hätte es sein gesamtes Wissen jetzt vor dem Lehrer ausgeschüttet; dieser aber fragte wieder:

„Was hat Euch denn am besten gefallen?“

„Der Rinaldo Rinaldini, ‘s ist jammerschad’, daß das ein Räuber gewesen ist.“

„Ich will Euch auch Bücher bringen, da sind viel schönere Geschichten darin.“

„Erzählet uns lieber eine, aber auch so eine recht grauselige; oder wartet lieber, bis die Agnes auch da ist, die hört’s für ihr Leben gern.“

Da kam ein Knabe und sagte dem alten Lehrer, er solle sogleich zum Bäck kommen und seine Geige mitbringen, des Bäcken Konrad habe einen neuen Walzer bekommen; schnell erhob sich der Alte, sagte: „Wünsch’ gute Unterhaltung,“ und ging von dannen.

Als nun der Lehrer mit Hedwig allein war, erzitterte sein Herz; er wagte es nicht, aufzuschauen. Endlich sagte er so vor sich hin:

„Es ist doch ein recht guter alter Mann.“

„Ja,“ sagte Hedwig, „und Ihr müsset ihn erst recht kennen. Ihr müsset es ihm nicht übel nehmen, er ist gegen alle Lehrer ein bißle bös und brummig; er kann’s noch nicht verschmerzen, daß er abgesetzt worden ist, und da meint er, ein jeder, der jetzt als Lehrer hierher kommt, der sei jetzt gerad’ dran schuld, und der kann doch nichts dafür, das Konsistore schickt ihn ja. Es ist eben ein alter Mann, man muß Geduld mit den alten Leuten haben.“

Der Lehrer faßte die Hand des Mädchens und blickte es innig an; dieses liebende Verständnis fremden Schicksals belebte seine ganze Seele. Plötzlich fiel ein toter Vogel vor den beiden nieder, sie schreckten zusammen; Hedwig bückte sich aber alsbald und hob den Vogel auf.

„Er ist noch ganz warm,“ sagte sie, „du armes Tierle, bist krank gewesen und hat dir niemand helfen können; es ist nur eine Lerch’, aber es ist doch ein lebigs Wesen.“

„Man möchte sich gern denken,“ sagte der Lehrer, „ein solcher Vogel, der singend himmelan steigt, müßte beim Sterben gleich in den Himmel fallen; er schwebt so frei über der Erde, und nun berührt ihn der Tod, und von der Schwerkraft der Erde angezogen, fällt alles

immer wieder
zur Erd’ hernieder.“

Hedwig sah ihn groß an, diese Worte gefielen ihr, obgleich sie dieselben nicht recht begriff; sie sagte nach einer Pause:

„‘s ist doch arg, daß sich seine Verwandten, seine Frau oder Kinder gar nichts um ihn kümmern und ihn nur so ‘rabfallen und liegen lassen; es kann aber auch sein, sie wissen noch gar nicht, daß er gestorben ist.“

„Die Tiere,“ sagte der Lehrer, „wie die Kinder verstehen den Tod nicht, weil sie nicht über das Leben nachdenken; sie leben bloß und wissen nichts davon.“

„Ist das auch g’wiß so?“ fragte Hedwig.

„Ich meine,“ erwiderte der Lehrer. Hedwig erörterte die Sache nicht weiter, wie sie überhaupt nicht gewohnt war, anhaltend etwas zu ergründen; der Lehrer aber dachte: hier sind die Elemente einer großen Bildungsfähigkeit, hier ist schon der Stamm eines selbständigen Geistes. Den Vogel aus des Mädchens Hand nehmend, sagte er dann:

„Ich möchte diesen Bewohner der freien Lüfte nicht in die dunkle Erde versenken, hier an diesen Baum möchte ich ihn heften, damit er im Tode in einzelne Stücke verfliege.“

„Nein, das gefällt mir nicht; an des Buchmaiers Scheuer ist eine Eul’ angenagelt, und ich möcht’s allemal, wenn ich vorbeigeh’, ‘runter nehmen.“

Stille begruben nun die beiden den Vogel. Der Lehrer, der heute so glücklich in seinen Entdeckungen war, ging schnell einen Schritt weiter; er wollte erproben, wie weit sich Hedwig einer feinern Bildung fügen würde.

„Ihr sagt so gescheite Sachen,“ begann er, „daß es jammerschade ist, daß Ihr das holperige Bauerndeutsch sprecht, Ihr könntet es sicherlich auch anders, und das würde Euch viel besser anstehen.“

„Ich thät mich in die Seel’ ‘nein schämen, wenn ich anders reden thät, und es versteht mich ja auch ein jedes.“

„Allerdings, aber gut ist gut, und besser ist besser. In welcher Sprache betet Ihr denn?“

„Ei, wie’s geschrieben steht, das ist ganz was anders.“

„Keineswegs, wie man mit Gott redet, sollte man auch mit den Menschen reden.“

„Das kann ich halt nicht, und das will ich auch nicht. Gucket, Herr Lehrer, ich wüßt’ ja gar nichts mehr zu schwätzen, wenn ich mich allemal besinnen müßt’, wie ich schwätzen soll; ich thät mich vor mir selber schämen. Nein, Herr Lehrer, Euer Wort auf ein seiden Kissen gelegt, aber das ist nichts.“

„Saget doch nicht immer Herr Lehrer, saget auch meinen Namen.“

„Das kann wieder nicht sein, das geht nicht.“

„Ja warum denn?“

„Es geht halt nicht.“

„Es muß doch einen Grund haben, warum?“

„Ei, ich weiß ja Euern Namen nicht.“

„So? Ich heiße Adolf Lederer.“

„Also, Herr Lederer, das ist fast gleich, Herr Lederer oder Herr Lehrer.“

„Nein, heißet mich Adolf.“

„Ach, machet jetzt keine so Sachen; was thäten denn die Leut’ sagen?“

„Daß wir uns gern haben,“ sagte der Lehrer, die Hand des Mädchens an sein Herz drückend, „habt Ihr mich denn nicht auch lieb?“

Hedwig bückte sich und brach eine Nelke. Da öffnete sich die Gartenthüre.

„Gott sei’s getrommelt und gepfiffen, daß ich erlöst bin,“ rief des Buchmaiers Agnes. „Guten Tag, Herr Lehrer! Hedwig sei froh, daß du nimmer in die Christenlehr’ brauchst. Herr Lehrer, das solltet Ihr machen, daß so große Mädle nimmer drein müssen; freilich mich nutzt’s wenig mehr, ich komm’ schon nächsten Herbst draus.“

„Schenkt mir doch die Nelke,“ sagte der Lehrer mit zart bittendem Tone zu Hedwig; sie gab ihm mit errötendem Antlitze die Blume, und er drückte sie als Zeichen der Erwiderung seiner Liebe inbrünstig an seine Lippen.

„Du würdest schön ankommen,“ sagte Agnes, „wenn der alte He he sehen thät, daß du eine Blum’ abbrochen hast; ‘s ist gut; drinnen sitzt er beim Bäck und spielt den neuen Walzer. Den wollen wir aber auch rechtschaffen tanzen an der Kirchweih’. Ihr tanzet doch auch, Herr Lehrer?“

„Ein wenig, aber ich hab’ mich schon lange nicht geübt.“

„Probieren geht über Studieren, lalalalala,“ trällerte Agnes, im Garten umherhüpfend, „was machst du für ein Gesicht, Hedwig? Komm!“ Sie riß Hedwig, die ihrer Gewalt nicht widerstehen konnte, ebenfalls mit sich fort; sie waren aber so ungeschickt, daß sie in ein Beet traten. Agnes lockerte singend den Boden wieder auf und sagte dann:

„Jetzt komm, mach fort, wir wollen aus dem Garten ‘naus, wo man sich nicht regen kann; die andern Mädle sind alle schon draußen im Kirschenbusch, und er wartet gewiß schon lang auf uns.“

„Wer?“ fragte der Lehrer.

„Ei, er,“ erwiderte Agnes, „wenn Ihr mit wollet, könnet Ihr ihn umsonst sehen; wir werden Euch doch nicht zu gering sein, daß Ihr mit uns gehet?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 2