Bei allen Gefühlsverletzungen, die der Lehrer durch die Art und Weise der Bauern empfand, wendete er sich aber nicht mehr an die Mutter Natur, sondern ...

Bei allen Gefühlsverletzungen, die der Lehrer durch die Art und Weise der Bauern empfand, wendete er sich aber nicht mehr an die Mutter Natur, sondern an die Großmutter Maurita, die ihm über die Art, wie die Menschen hier lebten, manchen Aufschluß gab. Viele Leute sagten daher, die alte Frau habe den Lehrer behext. Dem war aber nicht so. So gerne er sich auch an ihrem liebevollen Herzen erlabte, konnte man doch eher sagen, die Hedwig hätte es ihm angethan, obgleich er sie nur einmal gesehen und noch kein Wort mit ihr gesprochen hatte. „Hent Ihr guate Roat, Ahne?“ Diese Worte wiederholte er sich oft, sie klangen ihm so innig, so melodisch, trotzdem sie in dem derben Dialekte gesprochen waren, ja, dieser selber hatte eine gewisse Milderung und Anmut dadurch erhalten.

Mit aller Macht seiner früheren Vorsätze stemmte sich unser Freund gegen die Hinneigung zu einem Bauernmädchen, aber wie es immer geht, die Liebe findet Auswege genug; so sagte sich auch der Lehrer: „Gewiß ist sie das wiedergeborene Ebenbild der guten Großmutter, nur frischer, von der Sonne der neuern Zeit durchleuchtet. Hent Ihr guate Roat, Ahne?“


Eines Abends saß der Lehrer wiederum bei der Alten, da kam das Mädchen hochgeröteten Antlitzes mit der Sichel in der Hand vom Felde heim, seine Schürze hielt es behutsam aufgeschlagen; es trat nun zur Großmutter und reichte ihr aus der Schürze die in Haselblätter eingehüllten Brombeeren.

„Du weißt doch, was der Brauch ist, Hedwig, zuerst wartet man den Fremden auf,“ sagte die Großmutter.

„Langet naun zua, Herr Lehrer,“ sagte das Mädchen frei aufschauend; der Lehrer nahm errötend eine Brombeere.

„Iß auch mit,“ sagte die Großmutter.

„I dank, esset’s naun ihr miteinander, ‘s soll euch wohl bekommen.“

„Wo hast’s denn brochen?“ fragte die Großmutter.

„Neabe aunserm Acker im Grund, Ihr kennet jo die Heck,“ sagte das Mädchen und ging in das Haus.

Es war dem Lehrer ganz eigen zu Mute, daß von der Hecke, die er am ersten Mittage seines Hierseins gezeichnet, ihm Hedwig jetzt die reife Frucht brachte.

Hedwig kam bald wieder aus dem Hause, die weiße Henne folgte ihr auf dem Fuße.
„Wohin so schnell wieder, Jungfer Hedwig?“ fragte der Lehrer, „wollt Ihr Euch nicht ein wenig zu uns setzen?“

„Ich dank’ schön, ich will noch bis zum Nachtessen ein bißle ‘nüber zum alten Lehrer.“ (Hedwig sprach zwar immer ganz im Dialekt, zum bessern Verständnis geben wir es aber möglichst hochdeutsch wieder.) „Wenn’s erlaubt ist, begleit’ ich Euch,“ sagte unser Freund, und ohne eine Antwort abzuwarten, ging er mit.

„Kommet Ihr oft zum alten Lehrer?“

„Freilich, er ist ja mein Vetter, sein Weib ist die Schwester von meiner Ahne gewesen.“

„So, das freut mich herzlich.“

„Warum? Habt Ihr mein’ Bas’ gekannt?“

„Nein, ich mein’ nur so.“

Man war an dem Garten des alten Lehrers angelangt, Hedwig schloß schnell die Gartenthüre hinter sich und ließ die Henne draußen, die wie eine Schildwache hier harrte.

„Wie kommt’s,“ fragte der Lehrer, „daß Euch das Huhn so nachläuft? Das ist ja etwas ganz Seltenes.“

Hedwig stand verlegen da und zupfte an ihren Kleidern.

„Dürfet Ihr mir’s nicht sagen?“ fragte der Lehrer wieder.

„Ja, ich darf, ich kann, aber – Ihr dürfet mich nicht auslachen und müsset mir versprechen, daß Ihr’s nicht weiter saget; sie thäten mich sonst foppen.“

Der Lehrer faßte schnell die Hand des Mädchens und sagte: „Ich versprech’s Euch hoch und heilig.“ Er ließ die Hand nicht mehr los, und verlegen zur Erde schauend, sagte das Mädchen:

„Ich, ich hab’, ich hab’ das Hühnle an meiner Brust ausgebrütet; die Gluckhenn’ ist verscheucht worden, und da hat sie die Eier liegen lassen, und wie ich das einzig Ei’le gegen das Licht gehalten hab, hab’ ich gesehen, daß schon ein Köpfle drin ist, und da hab’ ich’s halt zu mir genommen . . . . Ihr müsset mich nicht auslachen, aber wie das Hühnle ‘rauskommen ist, da hab’ ich mich vor Freud’ gar nicht zu halten gewußt; ich hab’ ihm ein Federbettle gemacht, hab’ ihm Brot gekaut und hab’s geäzt, und es ist schon am andern Tag auf dem Tisch ‘rumgelaufen. Es weiß niemand was davon, als mein’ Ahne. Da ist mir jetzt das Hühnle so treu, wenn ich in’s Feld geh’, muß ich’s einsperren, daß es mir nicht nachlauft. Geltet, Ihr lachet mich nicht aus?“

„Gewiß nicht,“ sagte der Lehrer und ging noch eine Strecke Hand in Hand mit Hedwig, dann aber verwünschte er die Ordnungsliebe und Sparsamkeit des alten Lehrers, der den fernern Weg so eng gemacht hatte, daß nicht zwei nebeneinander gehen konnten.

Unser Freund war sehr erzürnt, als der alte Schullehrer mit ungewöhnlich schnellem Lachen den beiden Ankommenden zurief:

„Kennet ihr schon einander? Hab’ ich dir’s nicht schon lang gesagt, Hedwig, du mußt einen Schullehrer kriegen.“

Dieses unzeitige Anfassen einer kaum knospenden Blüte that unserm Freunde in tiefster Seele weh, doch er bemeisterte seine Empfindlichkeit und schwieg; er staunte aber, daß Hedwig, als ob nichts gesagt worden wäre, begann:

„Vetter, Ihr müsset morgen Eure Sommergerste in den Holzschlägeläckern schneiden, sie ist überzeitig und fällt sonst ganz um.“

Es wurde wenig gesprochen, Hedwig schien sehr müde, sie setzte sich auf die Bank vor einem Baume. Die beiden Lehrer sprachen nun miteinander, aber unser junger Freund sah das Mädchen dabei immer so durchdringend an, daß es sich mehrmals mit der Schürze über das Gesicht fuhr: es meinte, es müsse in der Küche, als es die Kartoffeln ans Feuer gestellt hatte, sich rußig gemacht haben. Unser Freund hatte aber ganz andre Dinge zu bemerken. Es fiel ihm jetzt zum erstenmal auf, daß Hedwig mit dem linken Auge ein wenig schielte; dies war aber keineswegs unangenehm, vielmehr gab es dem Ausdrucke etwas Weiches und Scheues, was zu der übrigen Bildung des Gesichtes wohl paßte; die feine schlanke Nase, der überaus kleine Mund mit den kirschroten Lippen, die runden, zartroten Wangen – die Blicke des jungen Mannes ruhten mit Wohlgefallen darauf. Endlich, da er seinem Kollegen mehrere verkehrte Antworten gegeben hatte, merkte er, daß es Zeit zum Gehen sei; er verabschiedete sich, und Hedwig sagte:

„Gut’ Nacht, Herr Lehrer.“

„Erhalte ich nicht auch noch eine Gutnachthand?“

Hedwig versteckte schnell beide Hände hinter dem Rücken.

„Bei uns fragt man nicht, bei uns nimmt man sich die Hand, he, he,“ sagte der alte Lehrer.

Unser Freund ließ sich diese Weisung nicht zweimal geben, er sprang hinter den Baum, um die Hand Hedwigs zu fassen, diese aber wendete ihre Hände schnell nach vornen.

Der Lehrer getraute sich nicht, mit ihr zu ringen, und so sprang er noch mehrmals vor und rückwärts, bis er zuletzt stolperte und vor Hedwig niederfiel; sein Haupt lag in ihrem Schoße auf ihrer Hand, schnell besonnen drückte er einen heißen Kuß auf diese Hand und nannte sie im Geiste sein. So blieb er eine Weile, ohne sich zu erheben, bis endlich Hedwig mit beiden Händen seine Wangen bedeckend ihn emporhob; verworren um sich schauend, sagte sie:

„Stehet auf, Ihr habt Euch doch nichts gethan? Gucket, das kommt von denen Späß’; Ihr müsset Euch nur von meinem Vetter da nichts anlernen lassen.“

Der Lehrer stand auf, und Hedwig bückte sich schnell nieder, um ihm mit der innern Seite ihrer Schürze die beschmutzten Kniee zu reinigen; der Lehrer aber duldete das nicht, sein Herz pochte schnell, da er diese demutvolle Bescheidenheit sah. Bald stand er wieder gesäubert da und sagte Hedwig abermals gute Nacht; sie blickte zur Erde, weigerte ihm aber ihre Hand nicht mehr.

Schwebenden Ganges ging der Lehrer dahin, es war, als ob er den Boden kaum berührte, als ob eine höhere Macht ihn trüge; ein unnennbares Kraftgefühl durchströmte sein innerstes Mark, ihm war leicht und frei, alle Leute schauten ihn verwundert an, denn er lächelte ihnen ganz offen zu. –

So schnellem Wechsel ist aber ein Menschengemüt hingegeben, daß bald nach dem ersten Jubel der Lehrer in trüber Selbstanklage zu Hause saß: „Du hast dich von einer Leidenschaft zu schnell hinreißen lassen,“ sagte er sich. „Ist das die Festigkeit? An ein ungebildetes Bauernmädchen hast du dich hingegeben, weggeworfen. – Nein, nein, aus diesem Antlitze spricht die Majestät einer zarten, sanften Seele.“ Noch mancherlei Gedanken stiegen in ihm auf, er kannte jetzt das Bauernleben, und noch spät schrieb er in sein Taschenbuch: „Das silberne Kreuz auf ihrem Busen ist mir ein schönes Sinnbild der Heiligkeit, Unnahbarkeit und Unberührtheit.“

Hedwig aber hatte zu Hause keinen Bissen zu Nacht gegessen, ihre Leute zankten, sie habe zuviel geschafft, sie habe gewiß noch dem Lehrer in der Gartenarbeit geholfen; sie verneinte und machte sich bald zu ihrer Großmutter, mit der sie in einem Zimmer schlief.

Noch lange nach dem Nachtgebet sagte sie, als sie die Großmutter husten hörte und nun wußte, daß sie auch noch wach sei:

„Ahne, was hat denn das zu bedeuten, ein Kuß auf die Hand?“

„Daß man die Hand gern hat.“

„Weiter nichts?“

„Nein.“

Wieder nach einer Weile sagte Hedwig: „Ahne.“

„Wasele „Verkleinerungsform von „was“)?“

„Ich hab’ was fragen wollen, ich weiß aber nimmer.“

„Nun, so schlaf jetzt, du bist müd; wenn’s was Guts ist, wird’s morgen früh auch nicht zu spät sein; es wird dir schon einfallen.“

Hedwig wälzte sich aber schlaflos im Bett umher. Sie überredete sich, daß sie nicht schlafen könne, weil sie den Hunger übergangen habe; sie würgte nun mit aller Gewalt ein Stück Brot hinab, das sie für alle Gefahren bereit gehalten hatte.

Der Lehrer war indes auch mit sich ins reine gekommen. Anfangs hatte er sich vorgenommen, sich selber und seine Neigung zu prüfen, eine Zeitlang Hedwig gar nicht mehr zu sehen; endlich aber gelangte er doch zu dem weisern und erfreulichern Entschlusse, Hedwig im Gegenteil recht oft zu sehen und ihre Geistesbildung auf allerlei Weise zu prüfen.

Andern Tages ging er nun zu seinem alten Kollegen und forderte ihn zum Spaziergange auf; er sah es wohl, schon um Hedwigs willen mußte er hier in ein näheres Verhältnis treten. Der alte Mann ging eigentlich nie spazieren, die Gartenarbeit verschaffte ihm Bewegung genug; die Einladung unsres Freundes erschien ihm jedoch als Ehrenbezeigung, und er ging mit.

Es war auffallend, wie wenig Gesprächsstoffe bei dem alten Manne Feuer fingen; sie waren immer wieder ebenso schnell aus als seine Pfeife, für die er alle fünf Minuten Feuer schlug. Von Hedwig wollte der junge Mann nicht unmittelbar sprechen, aus den Bestrebungen des Alten selber wollte er schon manches schließen.

„Leset Ihr auch bisweilen noch etwas?“ fragte er daher.

„Nein, fast gar nichts, es kommt mir auch doch nichts dabei heraus; wenn ich auch alle Bücher auswendig könnte, was hätt’ ich davon? Ich bin pensioniert.“

„Ja,“ erwiderte der junge Mann, „man vervollkommnet seinen Geist doch nicht bloß um des äußern Nutzens willen, den man daraus ziehen mag, sondern um ein erhöhtes, inneres Leben zu gewinnen, um immer tiefer und klarer zu schauen. Alles auf Erden und zumal das höhere Geistesleben muß zuerst Zweck für sich –“

Der Alte schlug sich mit großer Gemütsruhe Feuer, unser Freund hielt mitten in einer Auseinandersetzung inne, die ihm erst seit kurzem aufgegangen war. Eine Weile schritten die beiden wortlos nebeneinander, dann fragte der jüngere wieder:

„Nicht wahr, aber Musik macht Ihr immer gern?“

„Das will ich meinen, da sitz’ ich oft halbe Nächt’ und feile, da brauch’ ich kein Licht, verderb’ mir die Augen nicht, hab’ Unterhaltung und brauch’ keinen Menschen dazu.“

„Und Ihr vervollkommnet Euch darin, soweit Ihr könnt?“

„Warum nicht? Gewiß.“

„Ihr habt doch aber auch keinen Nutzen davon,“ sagte der junge Mann. Der Alte schaute ihn verwundert an; jener aber fuhr fort: „Wie Euch die Musik und Eure Ausbildung darin Freude bereitet, ohne daß Ihr einen Nutzen davon wollt, so könnte und sollte es wohl auch mit dem Lesen und der Geistesbildung sein; aber es geht hiermit oft gerade so wie vielen Leuten, die sich nicht mehr mit der gehörigen Sorgfalt kleiden, weil sie niemanden haben, auf dessen Gefallen sie ein besonderes Gewicht legen. Ich hörte vorgestern, wie ein junger Bursche einer jungen Frau über ihren nachlässigen Anzug Vorwürfe machte. ›Ei,‹ sagte sie, ›was liegt jetzt da dran? Ich bin jetzt schon verkauft, der mein’ muß mich halt haben, wie ich bin.‹ Als ob man sich eines äußern Zweckes, nur andrer wegen sorgfältig kleide, und nicht, weil es die eigene Natur, die Selbstachtung verlangt. So geht es auch vielen mit der Geistesbildung; weil sie solche bloß des äußern Zweckes wegen betrieben, lassen sie davon ab, sobald der nächste Zweck erreicht oder nicht mehr da ist. Wer aber seine geistige Natur, seinen geistigen Leib, wenn ich so sagen kann, achtet und schätzt, wird ihn immer schön und rein erhalten und ihm stets mehr Kraft zu geben suchen.“

Der junge Mann erkannte erst jetzt, daß er eigentlich ein lautes Selbstgespräch gehalten hatte; er fürchtete indes nicht, den Alten beleidigt zu haben, denn er sah dessen vollkommene Gleichgültigkeit. Mit schwerem Herzen erkannte er von neuem, wie mühevoll es sei, die höhern allgemeinen Gedanken und Anschauungen an Mann für Mann zu verzapfen. „Wenn der alte Lehrer so harthäutig ist, wie wird es dir erst bei den Bauern gehen,“ dachte er. So schritten sie eine stille Weile dahin, bis der jüngere wieder begann:

„Meinet Ihr nicht auch, daß man in unsrer Zeit viel frommer, oder wenigstens grad so fromm ist, als in der alten Zeit?“

„Frommer? Ins Teufels Namen, man war in der alten Zeit auch nicht letz (Verkehrt), aber man hat nicht so viel Aufhebens, so viel Geschmus (Geschmus, von den Juden entlehnter Ausdruck, so viel als unnötige Redensart) davon gemacht; z’litzel und z’viel verdirbt alle Spiel, he, he.“

Wieder war Stille.

Endlich fand der junge Mann den rechten Gegenstand, indem er fragte:

„Wie war’s denn in früheren Zeiten mit der Musik?“

Da lebte der Alte ganz auf, er hielt Zunder und Stahl in der Hand, ohne sich Feuer zu schlagen, denn er sagte:

„Das ist heutigestags nur noch ein Gedudel. Ich war dritthalb Jahr’ Unterorganist im Münster zu Freiburg, Herr! Das ist eine Orgel, ich hab’ den Abt Vogler drauf gehört, im Himmel kann’s nicht schöner sein, als der gespielt hat. Hernach hab’ ich auch auf mancher Kirchweih aufgespielt. Früher hat man meist Geigen gehabt, auch eine Harf’ und ein Hackbrett, jetzt haben sie nichts als Blasinstrumente: große Trompeten, kleine Trompeten, Klappentrompeten, alles nichts als Wind und viel Geschrei. Und was verdient jetzt so ein Musikant bei einer Kirchweih? Vorzeiten waren drei Mann vollauf, jetzt müssen’s sechs, sieben sein; sonst waren kleine Stuben, kleiner Baß und groß Geld, – jetzt große Stuben, großer Baß und klein Geld. Ich bin einmal mit zwei Kameraden im Schappacherthal ‘rumzogen, da sind uns die Federnthaler von allen Seiten zugeflogen. Einmal haben sich zwei Orte schier totgeschlagen, weil mich ein jedes hat zur Kirchweih haben wollen.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 2