14. Der Zerfall. - Von allen diesen Freuden weg mußte Ivo aber- und abermals in das Kloster. ...
14. Der Zerfall. - Von allen diesen Freuden weg mußte Ivo aber- und abermals in das Kloster. Er traf Klemens nicht mehr. Dieser hatte die Erlaubnis erhalten, ein Jahr früher auszutreten, um sich in ein königlich bayrisches Kloster zu begeben.
Einen neuen Schmerz erfuhr Ivo in dem Schicksal Bartels, den wir mit ihm seit einiger Zeit aus den Augen verloren haben. Der gutmütige Jüngling hatte sich seit lange im voraus einem geheimen Laster ergeben, das seine ganze Körperkraft unterwühlte; er kaute immer an den Nägeln und dann rieb er sich wieder die Hände, als ob es ihn friere, sein Gang war schwankend und unstät, die Farbe seines Gesichts war weißlichgrün, eingefallene Wangen, eine rote Nase und der stets weit aufgerissene Mund machten den lang aufgeschossenen, lendenschwachen Jüngling zu einer Schreckgestalt. Er war dem Blödsinn nahe und wurde nun im Lazarett untergebracht. Man wollte noch den Versuch zu seiner Herstellung machen und ihn andernfalls aus dem Kloster entlassen. Ivo schauderte, als er ihn besuchte, denn die einzelnen kräftigen Erhebungen Bartels waren nur dazu, um sein eigenes Thun mit den heftigsten Gewissensbissen anzuklagen.
Immer mächtiger drängte alles auf Ivo herein, die Luft um ihn her schien ihm verpestet. Er schrieb endlich einen Brief an seine Eltern, worin er ihnen seinen unabänderlichen Entschluß eröffnete, aus dem Kloster auszutreten, denn er könne nicht Geistlicher werden; weiter ließ er sich auf keine Erörterung der Gründe ein, denn er wußte wohl, daß diese doch nichts verschlagen würden, auch hätte man ihn gottlos gescholten, wenn er sie darlegte, und das hätte doppelten Schmerz gebracht. Mit fester Hand schrieb er den Brief, mit zitternder aber warf er ihn im Abenddunkel in die Brieflade. Als er das Papier den Schieber hinabgleiten hörte, war es ihm, als ob sein vergangenes Leben damit ins Grab hinabsinke, und jedes Leben, sei es auch noch so schmerzlich und verloren, krümmt sich im Tode; entschlossen richtete er sich dann wieder auf, der Zukunft entgegenschauend.
Einige Tage später erhielt Ivo Besuch von seinen Eltern. Sie nahmen ihn mit in das Wirtshaus zum Lamm. Dort ließ sich Valentin ein Zimmer anweisen, und als sie alle darin waren, verriegelte er die Thüre.
„Was geht mit dir vor?“ fragte er Ivo streng.
„Ich kann nicht Geistlich werden, lieber Vater; sehet mich nicht so grimmig an, Ihr seid doch auch einmal jung gewesen.“
„So? da steckt der Putzen? Du vermaledeiter Bub’, warum hast du denn das nicht vor acht Jahren gesagt?“
„Ich hab’s damals nicht so verstanden und hätt’ auch die Kurasche nicht gehabt.“
„Wart, ich will dich kuraschen. Mit dir mach’ ich kurzen Handel, du wirst Pfarrer und damit basta!“
„Eh spring’ ich ins Wasser.“
„Ist nicht nötig, du kommst nicht lebendig aus der Stub’, wenn du mir nicht in die Hand hinein versprichst, Geistlich zu werden.“
„Das thu’ ich nicht.“
„Was? das thust du nicht?“ schrie Valentin, Ivo an der Gurgel packend.
„Vater!“ schrie Ivo, „um Gottes willen, Vater! lasset mich los, machet nicht, daß ich mich wehren muß, ich bin kein Kind mehr.“
Christine hing sich an ihren Mann: „Valentin!“ klagte sie, „ich schrei’ Feuerjo zum Fenster ‘naus, wenn du nicht gleich losläßt.“ Valentin ließ ab, und Christine fuhr fort: „Ist das die Sanftmut, die du mir versprochen hast? Ivo, verzeih ihm, er ist nicht so bös, er ist ja dein Vater, Gott hat ihm die Macht über dich gegeben. Valentin, wenn du noch ein laut Wörtle redst, hast du mich gesehen, ich lauf’ auf und davon. Ivo, thu’s mir zulieb und gib ihm die Hand.“
Ivo stand da und preßte die Lippen zusammen und weinte große Tropfen. „Vater,“ schluchzte er, „ich hab’ mich ja nicht selber zum Geistlichen bestimmt, und Ihr seid auch unschuldig, Ihr habt nicht wissen können, daß ich nicht dazu taug’; wir wollen einander keine Vorwürf’ machen.“
Er ging auf Valentin zu und wollte seine Hand fassen, dieser aber sagte: „Schon recht. Was will denn der hoffärtig Herr werden?“
„Lasset mich noch ein halb Jahr die Tierarzneischul’ besuchen, und dann will ich mich als Tierarzt und Bauer schon irgendwo niederlassen.“
„Hast’s gut vor, und ich soll dem Kloster ‘rausbezahlen? für jed’ Jahr zweihundert Gulden? Da kann man mir mein Haus ausschellen. Das wird schön klingen, und da wird’s heißen: ja, der Ivo wird ein Katzendoktor, da kann man das Häusle schon dafür springen lassen – und von was willst du denn studieren? Willst du auf den alten Kaiser ‘nein leben, oder meinst gar, ich geb’ dir Geld? Du kannst einen Prozeß mit mir anfangen, kannst dein Mütterliches verlangen; ich will dir aber hernach schon eine Rechnung machen, was du mich kostest.“
„Ich werde es beim Ministerium dahin bringen, daß man die Vergütung an das Kloster auf mein einstiges Vermögen überträgt.“ –
„Wir haben miteinander ausgeredet, brauchst mir nichts mehr zu sagen,“ unterbrach ihn Valentin. „Wenn du nicht folgst, denk nur nicht, daß du noch einen Vater auf der Welt hast. Du bist mein Stolz gewesen, jetzt darf ich keinem Menschen mehr unter die Augen treten; ich muß froh sein, wenn die Leut’ so gut sind und nicht von dir reden.“ Dem harten Manne quollen Thränen aus den Augen; das Gesicht in beide Hände drückend, fuhr er fort: „Wenn mich nur ein siedig Donnerwetter in Boden ‘nein verschlagen hätt’, eh ich den Tag erlebt,“ – er legte den Kopf auf das Fenstergesims, stampfte gewaltig gegen die Wand und kehrte sich nicht mehr um.
Da sieht man’s wieder, wie’s die Menschen machen: seinen Haß und seinen Zorn ganz offen an seinem Sohne auszulassen, trug Valentin keine Scheu; seine Liebe und Zufriedenheit aber zu offenbaren, schämte er sich stets und verschloß sie in sich. Machen’s nicht die meisten gebildeten und ungebildeten Menschen so?
Die Mutter Christine hatte bis jetzt immer nur mit beiden erhobenen Händen Stille und Beruhigung herabbeschworen, nun sagte sie mit festerer Stimme, als man ihrem Antlitze nach hätte vermuten sollen: „Ivo, lieber Ivo, du bist doch allfort brav und gottesfürchtig gewesen, es ist ja kein bös Aederle in dir. Ich will nichts davon sagen, daß ich mir denkt hab’, wie mir das eine Staffel im Himmel ist, wenn du Geistlich wirst, davon ist jetzt kein’ Red’, es ist mir um deinetwegen; um Jesu Christi Blut willen geh in dich, sei gut, bet rechtschaffen, und unser Herrgott wird dir helfen und dein Herz von allem, was nicht ‘nein gehört, reinigen. Ach! du hast ja immer einen frommen Sinn gehabt. Guck, ich kann nicht viel reden, es stoßt mir schier das Herz ab; sei wieder so fromm und gut, wie du gewesen bist, sei wieder der lieb’ Ivo,“ – sie fiel an seinen Hals und weinte. Ivo umarmte sie und sagte:
„Mutter lieb, Mutter lieb, ich kann nicht Geistlich werden; glaubet Ihr denn, ich hätt’ Euch den Kummer gemacht, wenn ich anders könnt’? Ich kann nicht.“
„Sag nicht: ich kann nicht. Das ist nicht fromm; will du nur recht, nimm dich recht fest zusammen und schüttel’ all das böse Gelüst von dir, es muß gehen. Der Allbarmherzige wird dir helfen, und du bist wieder unser Glanz und unser’ Freud’, und bist ein fromm Kind vor Gott und den Menschen.“
„Ich bin nicht schlecht, liebe Mutter, aber ich kann nicht Geistlich werden. Zerreißet mir das Herz nicht so. Ach! ich möcht’ Euch ja so gern folgen, aber ich kann nicht.“
„Laß ihn zum Teufel gehen, den Halunk’!“ sagte der Vater, Christinen von ihrem Sohne wegreißend, „ kannst du denn dein’ Mutter so bitten und betteln sehen?“
„Zerreißet mich!“ rief Ivo, „aber Geistlich kann ich nicht werden.“
„‘naus, fort, ‘naus, oder ich vergreif’ mich an deinem Leben!“ rief Valentin, der Schaum stand ihm vor dem Munde, er riegelte die Thüre auf und schob Ivo hinaus.
„Es ist vorbei,“ sagte Ivo tief aufatmend und schwankte die Treppe hinab. Von droben vernahm man ein Poltern, die Thüre wurde aufgerissen, und die Mutter kam herab; Hand in Hand ging sie mit ihrem Sohne bis vor das Kloster, sie redete kein Wort; nur als sie jetzt Abschied nahm, sagte sie:
„Gib mir dein’ Hand drauf, daß du’s noch überlegen willst, und daß du dir kein Leid an deinem Leben anthust.“
Ivo versprach’s und ging still in seine Klause, der Boden wankte unter ihm, aber in dem tiefsten Kern seiner Seele stand der Gedanke fest und aufrecht, sich durch keinerlei kindliche Bewegungen zu einem Lebensberufe hindrängen zu lassen. „Ich habe Pflichten gegen mich selber und muß selber für mich einstehen,“ sagte er zu sich. „In den Tod könnte ich gehen, um meiner Mutter zu willfahren, aber ein Leben, zu dem der innerste Beruf allein berechtigt, kann und darf ich ohne diesen nicht über mich nehmen.“
In der Nacht aber erwachte Ivo plötzlich, es war ihm, als ob er durch einen Schrei seiner Mutter aufgeweckt worden wäre; er richtete sich in seinem Bette auf, und jetzt gedachte er, welch einen hohen, heiligen Beruf er zu verlassen gedenke, die ganze Herrlichkeit des geistlichen Amtes stand vor seiner Seele: ein liebender, tröstender, hilfreicher Freund der Armen und Bedrängten, ein Vater der Waisen und Verlassenen, ein Spender des Lichts und des Heils in allen Seelen. Er sah über all die theologischen Satzungen weg, ja, er gedachte, mitzukämpfen den heiligen Kampf der Befreiung von Aberwitz und Menschensatzung und den kommenden Geschlechtern das reine Licht des Himmels zu sichern; er kämpfte alle Erdenlust und alle Selbstsucht in sich nieder, er wollte leben für andre und für die andre Welt – kein Tag sollte vorübergehen, an dem er nicht eine Seele erquickt, ein Herz erfreut.
„Wo ein armes Erdenkind in schwerem Harme weint, da will ich sein Wehe in mein Herz aufnehmen und es darin auskämpfen lassen. Ich will die Thränen der Trauernden trocknen, und du, o Herr! trockne die Thränen von meinem Antlitze, wenn mein Geist erlahmt und ich nächtlich weine über mein armes, verlassenes Leben!“
So sprach Ivo vor sich hin, und ihm war so leicht und frei; es war ihm, als ob er, aller irdischen Schwere entbunden, sich jetzt hinaufschwingen müsse zum Urquell der Seligkeit. Und dann fühlte er sich wieder so siegesmutig, so kraftdurchströmt, als müsse er sich plötzlich in das heißeste Gewühl der Schlachten stürzen; entzückt dachte er an den Jubel, den seine Rückkehr zu seinem Berufe im elterlichen Hause erwecke – aus seligem Entzücken wurde er wieder hinübergetragen in das Reich des Traumes.
Andern morgens schrieb Ivo einen Brief nach Hause, worin er mit tiefem Ernste und siegesfroher Zerknirschung die Rückkehr zu seinem Berufe verkündete und die Hoheit seines Wirkens pries. Was er aus Nachgiebigkeit gegen seine Eltern nicht thun konnte, das hatte er jetzt aus freier Selbstbestimmung vollführt. Als er wiederum an dem Briefschalter stand und das Schreiben durch den Schieber hinabglitt, da deuchte ihm dies wie der scharfe Schnitt eines Richtschwertes, er hatte sich selbst das Urteil geschrieben und vollzogen; kopfschüttelnd ging er nach dem Kloster zurück, die Kraft seines Wesens war gebrochen und klaffte im Zwiespalt auseinander. Mit allem Aufgebot seiner Willenskraft gab er sich nun wiederum dem Studium hin, es gelang ihm, für einige Zeit Friede und Beruhigung darin zu finden.
Zu Hause erregte der Brief das höchste Entzücken. Kaum aber war die erste Freude der Botschaft vorüber, da lächelte die Mutter oft schmerzlich vor sich hin; sie ging gedankenvoll im Hause umher und redete wenig. Oft ließ sie sich abends, wenn ihr die Augen übergingen, den Brief von Emmerenz vorlesen, und wenn sie an die Stelle kam: „Ich will mein Leben Gott opfern, der mir es gegeben, ich will Euch, meine liebe Mutter, die höchste Freude Eures Lebens gewähren,“ da seufzte Christine schwer.
Einst, am Samstagabend, saßen Christine und Emmerenz bei einander und schälten Kartoffeln auf morgen; Emmerenz hatte den Brief wieder vorgelesen, und sie sagte nun:
„Bas, es ist mir immer, als ob Ihr Euch nicht grundmäßig freuen könntet, daß der Ivo Geistlich wird; saget’s nur frei von der Leber weg, ich merk’s wohl, vor mir brauchet Ihr ja kein Hehling haben.“
„Du hast recht, guck, ich will dir’s nur sagen, vor ihm (sie meinte hiermit ihren Mann) dürft’ ich davon nicht schnaufen, da wär’ gleich Feuer und Flamm’ auf dem Dach. Guck, mir ist es halt immer, wie wenn ich eine schwere Sünd’ begangen hätt’; guck, ich hab’ ihm sein Herz so schwer gemacht, und er ist gar ein gut Kind, es ist kein bös Blutströpfle in ihm, und da wird er mir zulieb Geistlich, und sein Herz hängt doch an der Welt, und das ist eine schwere Sünd’.“
„Das ist ja ganz erschrecklich, da hätt’ ich kein’ ruhige Stund’, da müßt’ mir geholfen sein.“
„Ja, aber wie? Guck, ich möcht’ ihm das gern zu wissen thun, und hinter ihm (sie meinte hiermit wieder ihren Mann) mag ich mich doch dem Schullehrer nicht anvertrauen, und ich kann doch selber nicht mehr schreiben.“
„Da ist leicht geholfen, da schreib’ halt ich, ich kann’s ganz gut, und Ihr saget mir alles vor.“
„Ja, das ist ja wahr, daran hab’ ich gar nicht dacht. Du bist ein lieb’ Kind, komm, wir wollen gleich.“
Nun war aber großer Jammer, denn nirgends war eine geschnittene Feder zu finden; so geringfügig dies auch erscheinen mag, so war es doch ein großer Mangel. Emmerenz wollte zum Schullehrer gehen und sich eine schneiden lassen, sie wollte der fragenden Frau Schulmeisterin schon was vorlügen, aber Christine duldete es nicht. „Wir dürfen nicht mit einer Sünd’ anfangen,“ sagte sie. Die gleiche Antwort gab sie auch, als Emmerenz sagte, sie wisse, wo der Schullehrer seine Federn liegen habe, sie wolle eine stehlen und dafür ein Dutzend ungeschnittene Eckfedern hinlegen. Endlich rief Emmerenz, sich erhebend: „Ich kriege eine. Meiner Schwester ihr Bub’, der Karle, geht ja in die Schul’, der muß mir eine geben.“ Sie sprang fort und kehrte jubelnd, eine Feder in der Hand, zurück.
Nun setzte sie sich an den Tisch, zog mit einer Kluf (Kluf – Stecknadel) den Docht an der Lampe besser heraus, legte alles zurecht und sagte:
„So, jetzt machet mir die Diktate.“
Die Mutter saß hinter dem Tisch in der Ecke unter dem Kruzifix und versuchte es, noch eine Kartoffel zu schälen, sie sagte:
„Schreib: ›Lieber Ivo‹. Hast das?“
„Ja.“
„›Ich denk’ alleweil an Dich; es vergeht kein’ Stund’ im Tag, und nachts, wenn ich im Bett: lieg’ und wach’, sind meine Gedanken bei Dir, herzlieber Ivo.‹“
„Nicht so schnell, sonst komm’ ich nicht nach,“ jammerte Emmerenz; sie hob ihr hocherrötend Antlitz, blickte in das Licht und kaute eine Weile an der Feder; gerade so hätte sie ja auch für sich selber an den Ivo geschrieben; ihr Angesicht fast ganz auf das Papier legend, schrieb sie dann und sagte endlich: „herzlieber Ivo – weiter.“
„Nein, lies mir zuerst vor, was du geschrieben hast.“
Emmerenz las.
„So ist’s recht, jetzt schreib weiter: ›Es ist mir nicht recht wohl dabei, daß Du Dich wieder so schnell andere resolviert hast.‹ – Halt, das schreib noch nicht . . . so darf man nicht anfangen.“
Emmerenz stützte das Kinn auf die Hand und blickte harrend drein; die Mutter aber sagte:
„Du hast jetzt schon gehört, wie mir’s ums Herz ist, schreib du jetzt alles, so macht’s der Schullehrer auch.“
„Ich will Euch was sagen,“ begann Emmerenz, sich erhebend, „so ein Brief kann in unrechte Händ’ kommen, er kann verloren gehen, und wir können’s ja doch nicht so recht aufsetzen; das best’ wird sein, ich geh’ zum Ivo und sag’ ihm alles. Morgen ist Sonntag, da versäum’ ich nichts, Kurzfutter hab’ ich geschnitten, ich will dem Vieh noch schnell über Nacht geben, und den einzigen Tag kann’s mein’ Schwester schon versorgen; die Grundbirnen sind geschält, ich richt’s hin, daß Ihr bloß das Fleisch ans Feuer zu stellen braucht. Dem Thal nach sind es ja nur sieben Stund’ bis Tübingen, und ich will laufen wie ein Feuerreiter; so ein Sonntag ist lang, und morgen abend bin ich wieder zeitlich da.“
„So ganz allein willst fort? und in der Nacht?“
„Allein? unser Herrgott ist überall, und der hält seine Hand über ein armes Mädchen.“ Fast unwillig setzte Emmerenz hinzu: „In der Nacht muß ich ja fort, sonst käm’ ich ja morgen nicht wieder heim, und er thät balgen“ (Balgen, so viel als scharf zanken)
„Ich kann nicht nein sagen, es ist mir, als müßt’ das so sein; geh in Gottes Namen. Da, nimm mein Nuster mit, da ist ein Stückle Zedernholz vom Berg Libanon drin, das stammt von meiner Urahne, das wird dich beschützen.“ Sie nahm den Rosenkranz, der an der Pfoste der Stubenthüre über dem Weihkesselchen hing, reichte ihn Emmerenz und fuhr fort:
„Ueberlauf dich nicht; wenn du müd bist, komm erst übermorgen, es ist noch Zeit. Ich hab’ auch noch einen Sechsbätzner, den will ich dir geben, und da nimm das Brot mit, Brot aus der Schublade bringt Segen. Aber was sag’ ich denn den Leuten, wenn sie nach dir fragen? Ich darf doch nicht lügen?“
„Ihr saget halt, ich hätt’ was Notwendiges zu schaffen; die Leut’ brauchen ja nicht alles zu wissen. Ich will nur machen, daß ich fort bin, eh er heimkommt.“
Mit wunderbarer Behendigkeit sprang Emmerenz treppauf und treppab und besorgte alles, wie sie gesagt, dann ging sie in ihre Kammer, um sich sonntagsmäßig anzukleiden. Die Mutter half ihr, und als das Mädchen sein schönstes Koller aus der Kiste hervorzog, fiel etwas, das in ein Papier gewickelt war, klingend auf den Boden.
„Was ist das?“ fragte die Mutter.
„Das ist ein Stückle Glas, das hat mir der Ivo einmal geschenkt, wie wir noch ganz kleine Kinder gewesen sind,“ sagte das Mädchen, mit Hast das Kleinod wieder verbergend.
Als Emmerenz endlich angekleidet war, sagte die Mutter, ihr Schürzenband auf- und wieder zuknüpfend: „Ich weiß nicht, du solltest eben doch dableiben.“
„Dableiben? Mich halten keine zehn Gäul’ mehr. Bosget nur nicht, Ihr habt mir’s einmal versprochen, daß ich gehen soll; das wär’ das erste Mal, daß Ihr Euer Wort nicht halten thätet.“
Nachdem Emmerenz nochmals in die Stube gegangen und sich aus dem Weihkesselchen an der Thüre im Zeichen des Kreuzes besprengt hatte, machte sie sich auf den Weg.
Noch unter der Hausthüre suchte Christine die Emmerenz zurückzuhalten, diese aber schritt schnell mit einem „B’hüt Euch Gott!“ davon. Christine sah ihr mit frommen Segenswünschen nach, wie sie durch den Garten in das Feld ging.
Emmerenz wählte diesen Weg, damit niemand im Dorfe ihr begegnete. Als sie nun durch das Schießmauernfeld so dahinschritt, war der Mond von einer großen Wolke bedeckt: sie betrat den dunklen Bergwald, um nach dem Neckar hinabzugehen, ihr schauderte ein wenig, ringsum war alles so still und so „finster wie in einer Kuh“. Sie schaute sich um, es war ihr, als schritte etwas hinter ihr drein, aber es war nur ihr eigener Schritt, den sie vernommen; mutig hüpfte sie, ohne zu straucheln, über die Wurzeln weg, die sich über den schmalen Waldweg schlängeln. Emmerenz war gut geschult, sie glaubte nicht mehr an Geister und Gespenster, aber an den Mocklepeter glaubte sie steif und fest, hatten ihn ja schon so viele Leute hockeln müssen. Sie hob oft ihre Schultern, um sich zu vergewissern, daß der Geist nicht auf ihr sitze. Auch an das Nickesle glaubte sie, das sich oft den Leuten wie eine wilde Katze oder wie ein Holzblock vor die Füße rollt, so daß, wenn man sich daraufsetzen will, man in feuchten Schlamm versinkt. Sie hielt den Rosenkranz fest um ihre Hand gewunden.
An der Lichtung des Waldes, wo die schöne Buche steht, an deren glattem Stamm ein Muttergottesbild befestigt ist, dort kniete Emmerenz nieder, faßte den Rosenkranz zwischen ihre gefalteten Hände und betete inbrünstig. Der Mond trat, wie man sagt, mit vollen Backen aus den Wolken hervor und überglänzte wie mit Wohlgefallen die Betende, die sich dann gestärkt erhob und ihres Weges fortschritt.
Längs des Neckars zog sich nun die Straße hin, zu beiden Seiten standen die schwarzen Tannenwälder bis zum Bergesgipfel hinan, das Thal war meist so eng, daß es nur für schmale Wiesen, für den Fluß und die Straße Raum bot. Alles lag in stiller Ruhe, nur bisweilen zirpte ein Vogel wie aus dem Schlafe, als wollte er sagen: „Ahdele, da ist’s recht gut im Nest.“ Die Hunde schlugen an, wenn Emmerenz an den einsamen Gehöften vorüber schritt; immer wiederkehrende Mühlen klapperten und pochten emsig, aber das Herz des Mädchens pochte noch viel schneller.
Emmerenz war noch nie weiter als zwei Stunden von ihrem Geburtsorte fortgekommen, viele Gedanken bewegten nun ihre Seele. Zuerst lobte sie ihre liebe Heimat, „da ist’s doch anders, das liegt auf dem Berg und hat Felder mit Boden wie Speck“. Emmerenz wünschte nur, daß der Neckar über den Berg fließen möchte, damit der Wassermangel nicht so groß sei.
Die Sterne glitzerten hell, Emmerenz blickte hinauf und sagte: „Es ist doch goldig, wie viel Millionen Stern’ da oben sind, das ist grad, wie wenn an einer rußigen Pfann’ so viel tausend Lichtle funkeln, aber viel, vielmal schöner und heiliger, und da droben sitzt unser Herrgott und hält Wacht. Man verschlaft doch das ganze Jahr recht viel Schönes, und wenn man nicht recht um sich guckt, merkt man’s auch nicht, wenn man die Augen offen hat. Er hat recht gehabt, ich merk’ jetzt viel besser auf alles auf, und es macht mir auch viel Freud’.“ Da fiel eine Sternschnuppe, Emmerenz hob die Hände empor und rief: „Ivo!“ Sie stand still und blickte schamhaft zur Erde, sie hatte den tiefsten Wunsch ihres Herzens offenbart, denn es ist wohlbekannt: was man beim Fallen einer Sternschnuppe wünscht, geht in Erfüllung.
Rasch ihres Weges fortgehend, dachte Emmerenz wieder: „Ach Gott! Wenn ich nur so eine Mühl’ hätt’, da wollt’ ich schaffen wie ein Gaul. Ach, lieber Heiland! es muß doch prächtig sein, wann man so ein Gütle anguckt und sagen kann: das ist mein. Ich möcht’ nur wissen, wen er heiraten thät’, wenn er kein Geistlich wird? Unser Herrgott ist mein Zeug’, ich lauf grad so gern für ihn, wenn er auch eine andre nähm’; grad so gern? nein, das doch nicht, aber doch rechtschaffen gern. Er hat recht, daß er kein Geistlich wird: so niemand auf der Welt haben und niemandes sein, das ist doch ein schwer Kreuz. Wenn unser Herrgott gewollt hätt’, daß man kein Weib nehmen sollt’, hätt’ er lauter Mannsleut’ gemacht und ließ er die Menschen auf den Bäumen wachsen. Ei, das sind doch recht gottlose Gedanken“ – schloß Emmerenz ihr Selbstgespräch und lief schneller, als wollte sie ihren eigenen Gedanken entfliehen. Sie richtete mit Gewalt ihr Sinnen auf die Außenwelt und, auf das Rauschen des Flusses horchend, gleich ihm unaufhaltsam fortschreitend, dachte sie: „Es ist doch gar ein wunderiges Ding, so ein Wässerle, das lauft und lauft immerfort. Gelt, du möchtest nur so für passlethan dein’s Wegs fort und nichts schaffen? Aber Mulle blas Gerste, das geht nicht, guck, du mußt halt auch die Floß tragen und da mußt du die Mühlen treiben: schaffen muß alles auf der Welt, und das ist auch recht. Das ist ja auch sein (sie meinte Ivo) Kreuz, er möcht’ auch schaffen und nicht bloß predigen und Meß verrichten und in denen Büchern lesen, da hat man ja noch nichts geschafft. Ich will ihm schon alles sagen, aber von mir darf er nichts merken.“
Es tagte, und nun erst wurde es Emmerenz recht leicht. Sie strich sich ihre Kleider glatt, ging hinab an den Fluß, wusch sich die Augen hell und glättete ihr Haar; träumerisch stand sie eine Weile da und schaute nach ihrem Bilde, das der Fluß widerspiegelte, ihre Augen waren starr auf die Wellen gerichtet, aber sie sah nichts, sie hatte, was man so sagt, „den Glotzer“; da ist es, als ob ein Gedanke den leiblichen Blick von der nächsten Umgebung entführt, um ihn auf einen Gegenstand zu lenken, der vor der Seele schwebt, damit man ihn lebendiger erschaue. Weiterschreitend schaute sich Emmerenz oft verwundert in der Gegend um, es war ihr ganz eigen zu Mute, so allein beim ersten Sonnenstrahl auf fremdem Boden zu stehen, wo niemand sie kennt, niemand etwas von ihr weiß; trotzdem sie den Gang wohl spürte, war es ihr doch, wie wenn sie urplötzlich dahergezaubert wäre.
Es war ein schöner, heller Augustmorgen, die Lerchen jubelten froh in den Lüften, im Walde zwitscherten die Amseln; alles das machte keinen Eindruck auf Emmerenz, sie war das gewohnt, und im Weitergehen sang sie:
Die hohen hohen Berge,
Das tiefe tiefe Thal!
Jetzt seh’ ich mein schön Schätzle
Zum allerletztenmal.
In Rottenburg machte sie eine Weile Rast, dann ging sie wieder neu gestärkt weiter. Erst als sie Tübingen sah, fiel es ihr schwer aufs Herz, wie sie es anfangen sollte, den Ivo im Kloster zu sehen. Sie erinnerte sich indes, daß des Christians Lisbeth beim Prokurator dient; die Magd eines Prokurators, dachte sie, wird schon leicht Rat wissen, lauft ja alles zu ihrem Herrn, wenn es nicht mehr weiß, wo aus noch ein. Nach vielem Umherfragen fand Emmerenz die Lisbeth, diese wußte aber keinen Rat und trug den schwierigen Fall dem Knechte vor. Der Knecht, schnell überrechnend, daß ein Mädchen, das einen katholischen Geistlichen heimlich sprechen wolle, nicht heikel sein möge, sagte: „Komm Sie mit, ich will’s Ihr zeigen.“ Er versuchte es, seinen Arm um den Hals der Emmerenz zu schlingen, Emmerenz schlug ihm aber auf die Brust, daß es laut dröhnte. Etwas von „holzigen Schwarzwäldern“ brummend, ging der Knecht von dannen.
„Weißt du was?“ sagte nun Lisbeth, die gescheite Advokatenmagd, „bleib ein’ Stund da, bis es zusammenläutet und man in die Kirch’ geht, in der Kirch’ setzst du dich links vorn hin, und da siehst du den Ivo oben auf dem Empor, dann gibst ihm ein Zeichen, daß er nach der Kirch zu dir ‘rauskommen soll.“
„In der Kirch’?“ sagte Emmerenz, laut die Hände zusammenschlagend, „Jesus Maria Joseph! Du bist aber recht verdorben in der Stadt. Lieber thät’ ich unverrichteter Sach wieder heimgehen.“
„Nu, so hilf dir anders, du Scheinheilige.“
„Das will ich auch,“ sagte Emmerenz fortgehend. Sie begab sich nun geradeswegs in das Kloster, ließ sich beim Direktor melden und sagte aufrichtig, sie habe was mit dem Ivo zu sprechen.
„Bist du seine Schwester?“ fragte der Direktor.
„Nein, ich bin nur die Magd im Haus.“
Der Direktor sah Emmerenz starr in das Gesicht, sie blickte ihn treuherzig an, keine Miene zuckte; der Direktor befahl dem Famulus, sie zu Ivo zu führen.
In einer Fenstervertiefung auf der langen gewölbten Hausflur wartete Emmerenz, bis Ivo herauskam; er schreckte ersichtlich zusammen, als er sie erblickte.
„Grüß Gott, Emmerenz, was machst du hier – es ist doch alles wohl daheim?“ fragte Ivo, nichts Gutes ahnend.
„Alles wohlauf, ich bin von der Mutter geschickt, viel tausend herzliche Grüß’, und ich soll sagen, der Ivo braucht nicht Geistlich zu werden, wenn er’s nicht von Herzen gern thut. Die Mutter kann nicht ruhen und rasten, sie meint, sie häb’ ihm das Gemüt zu schwer gemacht, und er thät’s ihr zulieb, und das bräucht’ er nicht, und er wär’ doch ihr lieber Sohn, wenn er auch nicht Geistlich wird und . . . ja, das ist alles.“
„Sei nur nicht so erschrocken, sprich herzhaft mit mir, gib mir deine Hand,“ sagte Ivo, als eben einer seiner neugierigen Kameraden vorbeigehuscht war, „ich bin dir ja nicht so fremd, wir sind ja alte gute Freund’, gelt?“
Nun erzählte Emmerenz mit wunderbarer Geläufigkeit, wie sie den Brief habe schreiben wollen und wie sie die Nacht durch zu ihm hergewandert sei; sie blickte manchmal zur Erde und drehte den Kopf, als suche sie etwas. Die Augen Ivos ruhten mit tiefer Innigkeit auf ihr, und wenn ihre Blicke sich begegneten, erglühten die Wangen beider, aber ein jedes scheute sich vor dem andern, sie sagten sich nichts von dem, was ihre Seele bewegte. Als Emmerenz ihre Erzählung geendet, sagte Ivo: „Ich dank’ dir von Grund des Herzens, es kann wohl einmal die Zeit kommen, wo ich dir deine Gutthat vergelten kann.“
„Das ist ja nicht der Red’ wert. Wenn’s zu deinem Besten wär’, und du thätst sagen: lauf jetzt für mich nach Stuttgart zum König, ich thät mich nicht lang besinnen und ging’ eben grad, es ist mir jetzt so . . . so wie . . .“
„Nun, wie denn?“ fragte Ivo das stockende Mädchen.
„Wie . . . wie wenn mir jetzt grad halt alles gut ausgehen müßt’.“
Ohne ein Wort zu reden, standen die beiden eine Weile einander gegenüber, im Innersten aber wechselten sie die traulichsten Reden; endlich sagte Ivo, sich mit einem schweren Seufzer erhebend:
„Sag meiner Mutter, ich müss’ mir das alles noch überlegen, sie soll ruhig sein, schlecht werde ich nicht; sorg recht für sie und laß sie mit ihrem kranken Arm nicht zu viel schaffen. Nächst meiner Mutter bist du . . . und der Nazi mir die liebsten Menschen auf der Welt.“ Sowohl Ivo als Emmerenz blickten zur Erde bei diesen Worten, jener aber fuhr fort: „Hast nichts von Nazi gehört?“
„Nein.“
Ohne daß es die beiden merkten, war die ihnen zugemessene Zeit vorübergegangen, es läutete. „Du gehst doch auch in die Kirch’?“ fragte Ivo.
„Ja, aber hernach muß ich tapfer machen, daß ich wieder heim komm’.“
„Wenn ich’s machen kann, seh’ ich dich noch einmal nach der Kirch’, drunten in der Neckarhalde, wo man nach Hirschau geht, wenn’s aber nicht sein kann, so sag’ ich dir Ade. B’hüt dich Gott, lauf nicht zu arg und . . . und . . . bleib rechtschaffen.“
Sie trennten sich. Trotzdem Emmerenz vor einer Stunde so scharf über die Lisbeth losgezogen hatte, setzte sie sich in der Kirche doch links und freute sich, daß ihr der Ivo so mit den Augen zuwinkte.
Fast eine Stunde wartete Emmerenz nach der Kirche in der Neckarhalde, aber niemand kam. Sie ging nun ihres Weges, indem sie noch oft zurückschaute; endlich gelobte sie sich, dies nicht mehr zu thun. „Es ist besser so,“ sagte sie, „ich mein’ zwar immer, ich hätt’ ihm die Sach’ nicht recht gesagt, aber es ist doch besser so.“ Sie schaute sich nicht mehr um, setzte sich aber, ihr Brot verzehrend, auf eine Anhöhe, von wo sie den ganzen Weg bis zur Stadt übersehen konnte. Die Brosamen von ihrem Kleide abschüttelnd, stand sie endlich rasch auf und verfolgte ihren Weg.
Wir können sie nicht begleiten und können nur soviel berichten, daß sie wohlbehalten und munter nach Hause gelangte. Wir bleiben beim Ivo, der in schweren Gedanken umherwandelte. Er hatte sich wieder in seinem angewiesenen Berufe zurechtgefunden, nun aber hatten die Ermahnungen der Mutter den festen Grund seines Willens wieder ganz aufgelockert und ihn an sich selber unsicher gemacht. Die Erscheinung des Mädchens, dem sich sein Herz zuwendete, hatte einen schweren Kampf in ihm erregt. Er hätte wohl noch nach der Kirche in die Neckarhalde kommen können, aber er fürchtete sich vor sich selber, vor andern und blieb weg.
Der reine, frische Willensbeschluß, den Ivo früher gegen seine Eltern durchführt hatte, war durch seine nachmalige freie Umkehr jetzt anbrüchig und morsch; er hatte kein rechtes Vertrauen zu seiner eigensten Kraft mehr. – Es ist immer schwer, wenn man sich etwas fest vorgesetzt und wieder davon abgelassen, abermals dazu zurückzukehren; es fehlt dann das frische Mark, die rechte Erquickung, es ist wie das Nachgras, das wird wohl feiner und zarter, gibt aber keine feste Nahrung mehr.
Einen neuen Schmerz erfuhr Ivo in dem Schicksal Bartels, den wir mit ihm seit einiger Zeit aus den Augen verloren haben. Der gutmütige Jüngling hatte sich seit lange im voraus einem geheimen Laster ergeben, das seine ganze Körperkraft unterwühlte; er kaute immer an den Nägeln und dann rieb er sich wieder die Hände, als ob es ihn friere, sein Gang war schwankend und unstät, die Farbe seines Gesichts war weißlichgrün, eingefallene Wangen, eine rote Nase und der stets weit aufgerissene Mund machten den lang aufgeschossenen, lendenschwachen Jüngling zu einer Schreckgestalt. Er war dem Blödsinn nahe und wurde nun im Lazarett untergebracht. Man wollte noch den Versuch zu seiner Herstellung machen und ihn andernfalls aus dem Kloster entlassen. Ivo schauderte, als er ihn besuchte, denn die einzelnen kräftigen Erhebungen Bartels waren nur dazu, um sein eigenes Thun mit den heftigsten Gewissensbissen anzuklagen.
Immer mächtiger drängte alles auf Ivo herein, die Luft um ihn her schien ihm verpestet. Er schrieb endlich einen Brief an seine Eltern, worin er ihnen seinen unabänderlichen Entschluß eröffnete, aus dem Kloster auszutreten, denn er könne nicht Geistlicher werden; weiter ließ er sich auf keine Erörterung der Gründe ein, denn er wußte wohl, daß diese doch nichts verschlagen würden, auch hätte man ihn gottlos gescholten, wenn er sie darlegte, und das hätte doppelten Schmerz gebracht. Mit fester Hand schrieb er den Brief, mit zitternder aber warf er ihn im Abenddunkel in die Brieflade. Als er das Papier den Schieber hinabgleiten hörte, war es ihm, als ob sein vergangenes Leben damit ins Grab hinabsinke, und jedes Leben, sei es auch noch so schmerzlich und verloren, krümmt sich im Tode; entschlossen richtete er sich dann wieder auf, der Zukunft entgegenschauend.
Einige Tage später erhielt Ivo Besuch von seinen Eltern. Sie nahmen ihn mit in das Wirtshaus zum Lamm. Dort ließ sich Valentin ein Zimmer anweisen, und als sie alle darin waren, verriegelte er die Thüre.
„Was geht mit dir vor?“ fragte er Ivo streng.
„Ich kann nicht Geistlich werden, lieber Vater; sehet mich nicht so grimmig an, Ihr seid doch auch einmal jung gewesen.“
„So? da steckt der Putzen? Du vermaledeiter Bub’, warum hast du denn das nicht vor acht Jahren gesagt?“
„Ich hab’s damals nicht so verstanden und hätt’ auch die Kurasche nicht gehabt.“
„Wart, ich will dich kuraschen. Mit dir mach’ ich kurzen Handel, du wirst Pfarrer und damit basta!“
„Eh spring’ ich ins Wasser.“
„Ist nicht nötig, du kommst nicht lebendig aus der Stub’, wenn du mir nicht in die Hand hinein versprichst, Geistlich zu werden.“
„Das thu’ ich nicht.“
„Was? das thust du nicht?“ schrie Valentin, Ivo an der Gurgel packend.
„Vater!“ schrie Ivo, „um Gottes willen, Vater! lasset mich los, machet nicht, daß ich mich wehren muß, ich bin kein Kind mehr.“
Christine hing sich an ihren Mann: „Valentin!“ klagte sie, „ich schrei’ Feuerjo zum Fenster ‘naus, wenn du nicht gleich losläßt.“ Valentin ließ ab, und Christine fuhr fort: „Ist das die Sanftmut, die du mir versprochen hast? Ivo, verzeih ihm, er ist nicht so bös, er ist ja dein Vater, Gott hat ihm die Macht über dich gegeben. Valentin, wenn du noch ein laut Wörtle redst, hast du mich gesehen, ich lauf’ auf und davon. Ivo, thu’s mir zulieb und gib ihm die Hand.“
Ivo stand da und preßte die Lippen zusammen und weinte große Tropfen. „Vater,“ schluchzte er, „ich hab’ mich ja nicht selber zum Geistlichen bestimmt, und Ihr seid auch unschuldig, Ihr habt nicht wissen können, daß ich nicht dazu taug’; wir wollen einander keine Vorwürf’ machen.“
Er ging auf Valentin zu und wollte seine Hand fassen, dieser aber sagte: „Schon recht. Was will denn der hoffärtig Herr werden?“
„Lasset mich noch ein halb Jahr die Tierarzneischul’ besuchen, und dann will ich mich als Tierarzt und Bauer schon irgendwo niederlassen.“
„Hast’s gut vor, und ich soll dem Kloster ‘rausbezahlen? für jed’ Jahr zweihundert Gulden? Da kann man mir mein Haus ausschellen. Das wird schön klingen, und da wird’s heißen: ja, der Ivo wird ein Katzendoktor, da kann man das Häusle schon dafür springen lassen – und von was willst du denn studieren? Willst du auf den alten Kaiser ‘nein leben, oder meinst gar, ich geb’ dir Geld? Du kannst einen Prozeß mit mir anfangen, kannst dein Mütterliches verlangen; ich will dir aber hernach schon eine Rechnung machen, was du mich kostest.“
„Ich werde es beim Ministerium dahin bringen, daß man die Vergütung an das Kloster auf mein einstiges Vermögen überträgt.“ –
„Wir haben miteinander ausgeredet, brauchst mir nichts mehr zu sagen,“ unterbrach ihn Valentin. „Wenn du nicht folgst, denk nur nicht, daß du noch einen Vater auf der Welt hast. Du bist mein Stolz gewesen, jetzt darf ich keinem Menschen mehr unter die Augen treten; ich muß froh sein, wenn die Leut’ so gut sind und nicht von dir reden.“ Dem harten Manne quollen Thränen aus den Augen; das Gesicht in beide Hände drückend, fuhr er fort: „Wenn mich nur ein siedig Donnerwetter in Boden ‘nein verschlagen hätt’, eh ich den Tag erlebt,“ – er legte den Kopf auf das Fenstergesims, stampfte gewaltig gegen die Wand und kehrte sich nicht mehr um.
Da sieht man’s wieder, wie’s die Menschen machen: seinen Haß und seinen Zorn ganz offen an seinem Sohne auszulassen, trug Valentin keine Scheu; seine Liebe und Zufriedenheit aber zu offenbaren, schämte er sich stets und verschloß sie in sich. Machen’s nicht die meisten gebildeten und ungebildeten Menschen so?
Die Mutter Christine hatte bis jetzt immer nur mit beiden erhobenen Händen Stille und Beruhigung herabbeschworen, nun sagte sie mit festerer Stimme, als man ihrem Antlitze nach hätte vermuten sollen: „Ivo, lieber Ivo, du bist doch allfort brav und gottesfürchtig gewesen, es ist ja kein bös Aederle in dir. Ich will nichts davon sagen, daß ich mir denkt hab’, wie mir das eine Staffel im Himmel ist, wenn du Geistlich wirst, davon ist jetzt kein’ Red’, es ist mir um deinetwegen; um Jesu Christi Blut willen geh in dich, sei gut, bet rechtschaffen, und unser Herrgott wird dir helfen und dein Herz von allem, was nicht ‘nein gehört, reinigen. Ach! du hast ja immer einen frommen Sinn gehabt. Guck, ich kann nicht viel reden, es stoßt mir schier das Herz ab; sei wieder so fromm und gut, wie du gewesen bist, sei wieder der lieb’ Ivo,“ – sie fiel an seinen Hals und weinte. Ivo umarmte sie und sagte:
„Mutter lieb, Mutter lieb, ich kann nicht Geistlich werden; glaubet Ihr denn, ich hätt’ Euch den Kummer gemacht, wenn ich anders könnt’? Ich kann nicht.“
„Sag nicht: ich kann nicht. Das ist nicht fromm; will du nur recht, nimm dich recht fest zusammen und schüttel’ all das böse Gelüst von dir, es muß gehen. Der Allbarmherzige wird dir helfen, und du bist wieder unser Glanz und unser’ Freud’, und bist ein fromm Kind vor Gott und den Menschen.“
„Ich bin nicht schlecht, liebe Mutter, aber ich kann nicht Geistlich werden. Zerreißet mir das Herz nicht so. Ach! ich möcht’ Euch ja so gern folgen, aber ich kann nicht.“
„Laß ihn zum Teufel gehen, den Halunk’!“ sagte der Vater, Christinen von ihrem Sohne wegreißend, „ kannst du denn dein’ Mutter so bitten und betteln sehen?“
„Zerreißet mich!“ rief Ivo, „aber Geistlich kann ich nicht werden.“
„‘naus, fort, ‘naus, oder ich vergreif’ mich an deinem Leben!“ rief Valentin, der Schaum stand ihm vor dem Munde, er riegelte die Thüre auf und schob Ivo hinaus.
„Es ist vorbei,“ sagte Ivo tief aufatmend und schwankte die Treppe hinab. Von droben vernahm man ein Poltern, die Thüre wurde aufgerissen, und die Mutter kam herab; Hand in Hand ging sie mit ihrem Sohne bis vor das Kloster, sie redete kein Wort; nur als sie jetzt Abschied nahm, sagte sie:
„Gib mir dein’ Hand drauf, daß du’s noch überlegen willst, und daß du dir kein Leid an deinem Leben anthust.“
Ivo versprach’s und ging still in seine Klause, der Boden wankte unter ihm, aber in dem tiefsten Kern seiner Seele stand der Gedanke fest und aufrecht, sich durch keinerlei kindliche Bewegungen zu einem Lebensberufe hindrängen zu lassen. „Ich habe Pflichten gegen mich selber und muß selber für mich einstehen,“ sagte er zu sich. „In den Tod könnte ich gehen, um meiner Mutter zu willfahren, aber ein Leben, zu dem der innerste Beruf allein berechtigt, kann und darf ich ohne diesen nicht über mich nehmen.“
In der Nacht aber erwachte Ivo plötzlich, es war ihm, als ob er durch einen Schrei seiner Mutter aufgeweckt worden wäre; er richtete sich in seinem Bette auf, und jetzt gedachte er, welch einen hohen, heiligen Beruf er zu verlassen gedenke, die ganze Herrlichkeit des geistlichen Amtes stand vor seiner Seele: ein liebender, tröstender, hilfreicher Freund der Armen und Bedrängten, ein Vater der Waisen und Verlassenen, ein Spender des Lichts und des Heils in allen Seelen. Er sah über all die theologischen Satzungen weg, ja, er gedachte, mitzukämpfen den heiligen Kampf der Befreiung von Aberwitz und Menschensatzung und den kommenden Geschlechtern das reine Licht des Himmels zu sichern; er kämpfte alle Erdenlust und alle Selbstsucht in sich nieder, er wollte leben für andre und für die andre Welt – kein Tag sollte vorübergehen, an dem er nicht eine Seele erquickt, ein Herz erfreut.
„Wo ein armes Erdenkind in schwerem Harme weint, da will ich sein Wehe in mein Herz aufnehmen und es darin auskämpfen lassen. Ich will die Thränen der Trauernden trocknen, und du, o Herr! trockne die Thränen von meinem Antlitze, wenn mein Geist erlahmt und ich nächtlich weine über mein armes, verlassenes Leben!“
So sprach Ivo vor sich hin, und ihm war so leicht und frei; es war ihm, als ob er, aller irdischen Schwere entbunden, sich jetzt hinaufschwingen müsse zum Urquell der Seligkeit. Und dann fühlte er sich wieder so siegesmutig, so kraftdurchströmt, als müsse er sich plötzlich in das heißeste Gewühl der Schlachten stürzen; entzückt dachte er an den Jubel, den seine Rückkehr zu seinem Berufe im elterlichen Hause erwecke – aus seligem Entzücken wurde er wieder hinübergetragen in das Reich des Traumes.
Andern morgens schrieb Ivo einen Brief nach Hause, worin er mit tiefem Ernste und siegesfroher Zerknirschung die Rückkehr zu seinem Berufe verkündete und die Hoheit seines Wirkens pries. Was er aus Nachgiebigkeit gegen seine Eltern nicht thun konnte, das hatte er jetzt aus freier Selbstbestimmung vollführt. Als er wiederum an dem Briefschalter stand und das Schreiben durch den Schieber hinabglitt, da deuchte ihm dies wie der scharfe Schnitt eines Richtschwertes, er hatte sich selbst das Urteil geschrieben und vollzogen; kopfschüttelnd ging er nach dem Kloster zurück, die Kraft seines Wesens war gebrochen und klaffte im Zwiespalt auseinander. Mit allem Aufgebot seiner Willenskraft gab er sich nun wiederum dem Studium hin, es gelang ihm, für einige Zeit Friede und Beruhigung darin zu finden.
Zu Hause erregte der Brief das höchste Entzücken. Kaum aber war die erste Freude der Botschaft vorüber, da lächelte die Mutter oft schmerzlich vor sich hin; sie ging gedankenvoll im Hause umher und redete wenig. Oft ließ sie sich abends, wenn ihr die Augen übergingen, den Brief von Emmerenz vorlesen, und wenn sie an die Stelle kam: „Ich will mein Leben Gott opfern, der mir es gegeben, ich will Euch, meine liebe Mutter, die höchste Freude Eures Lebens gewähren,“ da seufzte Christine schwer.
Einst, am Samstagabend, saßen Christine und Emmerenz bei einander und schälten Kartoffeln auf morgen; Emmerenz hatte den Brief wieder vorgelesen, und sie sagte nun:
„Bas, es ist mir immer, als ob Ihr Euch nicht grundmäßig freuen könntet, daß der Ivo Geistlich wird; saget’s nur frei von der Leber weg, ich merk’s wohl, vor mir brauchet Ihr ja kein Hehling haben.“
„Du hast recht, guck, ich will dir’s nur sagen, vor ihm (sie meinte hiermit ihren Mann) dürft’ ich davon nicht schnaufen, da wär’ gleich Feuer und Flamm’ auf dem Dach. Guck, mir ist es halt immer, wie wenn ich eine schwere Sünd’ begangen hätt’; guck, ich hab’ ihm sein Herz so schwer gemacht, und er ist gar ein gut Kind, es ist kein bös Blutströpfle in ihm, und da wird er mir zulieb Geistlich, und sein Herz hängt doch an der Welt, und das ist eine schwere Sünd’.“
„Das ist ja ganz erschrecklich, da hätt’ ich kein’ ruhige Stund’, da müßt’ mir geholfen sein.“
„Ja, aber wie? Guck, ich möcht’ ihm das gern zu wissen thun, und hinter ihm (sie meinte hiermit wieder ihren Mann) mag ich mich doch dem Schullehrer nicht anvertrauen, und ich kann doch selber nicht mehr schreiben.“
„Da ist leicht geholfen, da schreib’ halt ich, ich kann’s ganz gut, und Ihr saget mir alles vor.“
„Ja, das ist ja wahr, daran hab’ ich gar nicht dacht. Du bist ein lieb’ Kind, komm, wir wollen gleich.“
Nun war aber großer Jammer, denn nirgends war eine geschnittene Feder zu finden; so geringfügig dies auch erscheinen mag, so war es doch ein großer Mangel. Emmerenz wollte zum Schullehrer gehen und sich eine schneiden lassen, sie wollte der fragenden Frau Schulmeisterin schon was vorlügen, aber Christine duldete es nicht. „Wir dürfen nicht mit einer Sünd’ anfangen,“ sagte sie. Die gleiche Antwort gab sie auch, als Emmerenz sagte, sie wisse, wo der Schullehrer seine Federn liegen habe, sie wolle eine stehlen und dafür ein Dutzend ungeschnittene Eckfedern hinlegen. Endlich rief Emmerenz, sich erhebend: „Ich kriege eine. Meiner Schwester ihr Bub’, der Karle, geht ja in die Schul’, der muß mir eine geben.“ Sie sprang fort und kehrte jubelnd, eine Feder in der Hand, zurück.
Nun setzte sie sich an den Tisch, zog mit einer Kluf (Kluf – Stecknadel) den Docht an der Lampe besser heraus, legte alles zurecht und sagte:
„So, jetzt machet mir die Diktate.“
Die Mutter saß hinter dem Tisch in der Ecke unter dem Kruzifix und versuchte es, noch eine Kartoffel zu schälen, sie sagte:
„Schreib: ›Lieber Ivo‹. Hast das?“
„Ja.“
„›Ich denk’ alleweil an Dich; es vergeht kein’ Stund’ im Tag, und nachts, wenn ich im Bett: lieg’ und wach’, sind meine Gedanken bei Dir, herzlieber Ivo.‹“
„Nicht so schnell, sonst komm’ ich nicht nach,“ jammerte Emmerenz; sie hob ihr hocherrötend Antlitz, blickte in das Licht und kaute eine Weile an der Feder; gerade so hätte sie ja auch für sich selber an den Ivo geschrieben; ihr Angesicht fast ganz auf das Papier legend, schrieb sie dann und sagte endlich: „herzlieber Ivo – weiter.“
„Nein, lies mir zuerst vor, was du geschrieben hast.“
Emmerenz las.
„So ist’s recht, jetzt schreib weiter: ›Es ist mir nicht recht wohl dabei, daß Du Dich wieder so schnell andere resolviert hast.‹ – Halt, das schreib noch nicht . . . so darf man nicht anfangen.“
Emmerenz stützte das Kinn auf die Hand und blickte harrend drein; die Mutter aber sagte:
„Du hast jetzt schon gehört, wie mir’s ums Herz ist, schreib du jetzt alles, so macht’s der Schullehrer auch.“
„Ich will Euch was sagen,“ begann Emmerenz, sich erhebend, „so ein Brief kann in unrechte Händ’ kommen, er kann verloren gehen, und wir können’s ja doch nicht so recht aufsetzen; das best’ wird sein, ich geh’ zum Ivo und sag’ ihm alles. Morgen ist Sonntag, da versäum’ ich nichts, Kurzfutter hab’ ich geschnitten, ich will dem Vieh noch schnell über Nacht geben, und den einzigen Tag kann’s mein’ Schwester schon versorgen; die Grundbirnen sind geschält, ich richt’s hin, daß Ihr bloß das Fleisch ans Feuer zu stellen braucht. Dem Thal nach sind es ja nur sieben Stund’ bis Tübingen, und ich will laufen wie ein Feuerreiter; so ein Sonntag ist lang, und morgen abend bin ich wieder zeitlich da.“
„So ganz allein willst fort? und in der Nacht?“
„Allein? unser Herrgott ist überall, und der hält seine Hand über ein armes Mädchen.“ Fast unwillig setzte Emmerenz hinzu: „In der Nacht muß ich ja fort, sonst käm’ ich ja morgen nicht wieder heim, und er thät balgen“ (Balgen, so viel als scharf zanken)
„Ich kann nicht nein sagen, es ist mir, als müßt’ das so sein; geh in Gottes Namen. Da, nimm mein Nuster mit, da ist ein Stückle Zedernholz vom Berg Libanon drin, das stammt von meiner Urahne, das wird dich beschützen.“ Sie nahm den Rosenkranz, der an der Pfoste der Stubenthüre über dem Weihkesselchen hing, reichte ihn Emmerenz und fuhr fort:
„Ueberlauf dich nicht; wenn du müd bist, komm erst übermorgen, es ist noch Zeit. Ich hab’ auch noch einen Sechsbätzner, den will ich dir geben, und da nimm das Brot mit, Brot aus der Schublade bringt Segen. Aber was sag’ ich denn den Leuten, wenn sie nach dir fragen? Ich darf doch nicht lügen?“
„Ihr saget halt, ich hätt’ was Notwendiges zu schaffen; die Leut’ brauchen ja nicht alles zu wissen. Ich will nur machen, daß ich fort bin, eh er heimkommt.“
Mit wunderbarer Behendigkeit sprang Emmerenz treppauf und treppab und besorgte alles, wie sie gesagt, dann ging sie in ihre Kammer, um sich sonntagsmäßig anzukleiden. Die Mutter half ihr, und als das Mädchen sein schönstes Koller aus der Kiste hervorzog, fiel etwas, das in ein Papier gewickelt war, klingend auf den Boden.
„Was ist das?“ fragte die Mutter.
„Das ist ein Stückle Glas, das hat mir der Ivo einmal geschenkt, wie wir noch ganz kleine Kinder gewesen sind,“ sagte das Mädchen, mit Hast das Kleinod wieder verbergend.
Als Emmerenz endlich angekleidet war, sagte die Mutter, ihr Schürzenband auf- und wieder zuknüpfend: „Ich weiß nicht, du solltest eben doch dableiben.“
„Dableiben? Mich halten keine zehn Gäul’ mehr. Bosget nur nicht, Ihr habt mir’s einmal versprochen, daß ich gehen soll; das wär’ das erste Mal, daß Ihr Euer Wort nicht halten thätet.“
Nachdem Emmerenz nochmals in die Stube gegangen und sich aus dem Weihkesselchen an der Thüre im Zeichen des Kreuzes besprengt hatte, machte sie sich auf den Weg.
Noch unter der Hausthüre suchte Christine die Emmerenz zurückzuhalten, diese aber schritt schnell mit einem „B’hüt Euch Gott!“ davon. Christine sah ihr mit frommen Segenswünschen nach, wie sie durch den Garten in das Feld ging.
Emmerenz wählte diesen Weg, damit niemand im Dorfe ihr begegnete. Als sie nun durch das Schießmauernfeld so dahinschritt, war der Mond von einer großen Wolke bedeckt: sie betrat den dunklen Bergwald, um nach dem Neckar hinabzugehen, ihr schauderte ein wenig, ringsum war alles so still und so „finster wie in einer Kuh“. Sie schaute sich um, es war ihr, als schritte etwas hinter ihr drein, aber es war nur ihr eigener Schritt, den sie vernommen; mutig hüpfte sie, ohne zu straucheln, über die Wurzeln weg, die sich über den schmalen Waldweg schlängeln. Emmerenz war gut geschult, sie glaubte nicht mehr an Geister und Gespenster, aber an den Mocklepeter glaubte sie steif und fest, hatten ihn ja schon so viele Leute hockeln müssen. Sie hob oft ihre Schultern, um sich zu vergewissern, daß der Geist nicht auf ihr sitze. Auch an das Nickesle glaubte sie, das sich oft den Leuten wie eine wilde Katze oder wie ein Holzblock vor die Füße rollt, so daß, wenn man sich daraufsetzen will, man in feuchten Schlamm versinkt. Sie hielt den Rosenkranz fest um ihre Hand gewunden.
An der Lichtung des Waldes, wo die schöne Buche steht, an deren glattem Stamm ein Muttergottesbild befestigt ist, dort kniete Emmerenz nieder, faßte den Rosenkranz zwischen ihre gefalteten Hände und betete inbrünstig. Der Mond trat, wie man sagt, mit vollen Backen aus den Wolken hervor und überglänzte wie mit Wohlgefallen die Betende, die sich dann gestärkt erhob und ihres Weges fortschritt.
Längs des Neckars zog sich nun die Straße hin, zu beiden Seiten standen die schwarzen Tannenwälder bis zum Bergesgipfel hinan, das Thal war meist so eng, daß es nur für schmale Wiesen, für den Fluß und die Straße Raum bot. Alles lag in stiller Ruhe, nur bisweilen zirpte ein Vogel wie aus dem Schlafe, als wollte er sagen: „Ahdele, da ist’s recht gut im Nest.“ Die Hunde schlugen an, wenn Emmerenz an den einsamen Gehöften vorüber schritt; immer wiederkehrende Mühlen klapperten und pochten emsig, aber das Herz des Mädchens pochte noch viel schneller.
Emmerenz war noch nie weiter als zwei Stunden von ihrem Geburtsorte fortgekommen, viele Gedanken bewegten nun ihre Seele. Zuerst lobte sie ihre liebe Heimat, „da ist’s doch anders, das liegt auf dem Berg und hat Felder mit Boden wie Speck“. Emmerenz wünschte nur, daß der Neckar über den Berg fließen möchte, damit der Wassermangel nicht so groß sei.
Die Sterne glitzerten hell, Emmerenz blickte hinauf und sagte: „Es ist doch goldig, wie viel Millionen Stern’ da oben sind, das ist grad, wie wenn an einer rußigen Pfann’ so viel tausend Lichtle funkeln, aber viel, vielmal schöner und heiliger, und da droben sitzt unser Herrgott und hält Wacht. Man verschlaft doch das ganze Jahr recht viel Schönes, und wenn man nicht recht um sich guckt, merkt man’s auch nicht, wenn man die Augen offen hat. Er hat recht gehabt, ich merk’ jetzt viel besser auf alles auf, und es macht mir auch viel Freud’.“ Da fiel eine Sternschnuppe, Emmerenz hob die Hände empor und rief: „Ivo!“ Sie stand still und blickte schamhaft zur Erde, sie hatte den tiefsten Wunsch ihres Herzens offenbart, denn es ist wohlbekannt: was man beim Fallen einer Sternschnuppe wünscht, geht in Erfüllung.
Rasch ihres Weges fortgehend, dachte Emmerenz wieder: „Ach Gott! Wenn ich nur so eine Mühl’ hätt’, da wollt’ ich schaffen wie ein Gaul. Ach, lieber Heiland! es muß doch prächtig sein, wann man so ein Gütle anguckt und sagen kann: das ist mein. Ich möcht’ nur wissen, wen er heiraten thät’, wenn er kein Geistlich wird? Unser Herrgott ist mein Zeug’, ich lauf grad so gern für ihn, wenn er auch eine andre nähm’; grad so gern? nein, das doch nicht, aber doch rechtschaffen gern. Er hat recht, daß er kein Geistlich wird: so niemand auf der Welt haben und niemandes sein, das ist doch ein schwer Kreuz. Wenn unser Herrgott gewollt hätt’, daß man kein Weib nehmen sollt’, hätt’ er lauter Mannsleut’ gemacht und ließ er die Menschen auf den Bäumen wachsen. Ei, das sind doch recht gottlose Gedanken“ – schloß Emmerenz ihr Selbstgespräch und lief schneller, als wollte sie ihren eigenen Gedanken entfliehen. Sie richtete mit Gewalt ihr Sinnen auf die Außenwelt und, auf das Rauschen des Flusses horchend, gleich ihm unaufhaltsam fortschreitend, dachte sie: „Es ist doch gar ein wunderiges Ding, so ein Wässerle, das lauft und lauft immerfort. Gelt, du möchtest nur so für passlethan dein’s Wegs fort und nichts schaffen? Aber Mulle blas Gerste, das geht nicht, guck, du mußt halt auch die Floß tragen und da mußt du die Mühlen treiben: schaffen muß alles auf der Welt, und das ist auch recht. Das ist ja auch sein (sie meinte Ivo) Kreuz, er möcht’ auch schaffen und nicht bloß predigen und Meß verrichten und in denen Büchern lesen, da hat man ja noch nichts geschafft. Ich will ihm schon alles sagen, aber von mir darf er nichts merken.“
Es tagte, und nun erst wurde es Emmerenz recht leicht. Sie strich sich ihre Kleider glatt, ging hinab an den Fluß, wusch sich die Augen hell und glättete ihr Haar; träumerisch stand sie eine Weile da und schaute nach ihrem Bilde, das der Fluß widerspiegelte, ihre Augen waren starr auf die Wellen gerichtet, aber sie sah nichts, sie hatte, was man so sagt, „den Glotzer“; da ist es, als ob ein Gedanke den leiblichen Blick von der nächsten Umgebung entführt, um ihn auf einen Gegenstand zu lenken, der vor der Seele schwebt, damit man ihn lebendiger erschaue. Weiterschreitend schaute sich Emmerenz oft verwundert in der Gegend um, es war ihr ganz eigen zu Mute, so allein beim ersten Sonnenstrahl auf fremdem Boden zu stehen, wo niemand sie kennt, niemand etwas von ihr weiß; trotzdem sie den Gang wohl spürte, war es ihr doch, wie wenn sie urplötzlich dahergezaubert wäre.
Es war ein schöner, heller Augustmorgen, die Lerchen jubelten froh in den Lüften, im Walde zwitscherten die Amseln; alles das machte keinen Eindruck auf Emmerenz, sie war das gewohnt, und im Weitergehen sang sie:
Die hohen hohen Berge,
Das tiefe tiefe Thal!
Jetzt seh’ ich mein schön Schätzle
Zum allerletztenmal.
In Rottenburg machte sie eine Weile Rast, dann ging sie wieder neu gestärkt weiter. Erst als sie Tübingen sah, fiel es ihr schwer aufs Herz, wie sie es anfangen sollte, den Ivo im Kloster zu sehen. Sie erinnerte sich indes, daß des Christians Lisbeth beim Prokurator dient; die Magd eines Prokurators, dachte sie, wird schon leicht Rat wissen, lauft ja alles zu ihrem Herrn, wenn es nicht mehr weiß, wo aus noch ein. Nach vielem Umherfragen fand Emmerenz die Lisbeth, diese wußte aber keinen Rat und trug den schwierigen Fall dem Knechte vor. Der Knecht, schnell überrechnend, daß ein Mädchen, das einen katholischen Geistlichen heimlich sprechen wolle, nicht heikel sein möge, sagte: „Komm Sie mit, ich will’s Ihr zeigen.“ Er versuchte es, seinen Arm um den Hals der Emmerenz zu schlingen, Emmerenz schlug ihm aber auf die Brust, daß es laut dröhnte. Etwas von „holzigen Schwarzwäldern“ brummend, ging der Knecht von dannen.
„Weißt du was?“ sagte nun Lisbeth, die gescheite Advokatenmagd, „bleib ein’ Stund da, bis es zusammenläutet und man in die Kirch’ geht, in der Kirch’ setzst du dich links vorn hin, und da siehst du den Ivo oben auf dem Empor, dann gibst ihm ein Zeichen, daß er nach der Kirch zu dir ‘rauskommen soll.“
„In der Kirch’?“ sagte Emmerenz, laut die Hände zusammenschlagend, „Jesus Maria Joseph! Du bist aber recht verdorben in der Stadt. Lieber thät’ ich unverrichteter Sach wieder heimgehen.“
„Nu, so hilf dir anders, du Scheinheilige.“
„Das will ich auch,“ sagte Emmerenz fortgehend. Sie begab sich nun geradeswegs in das Kloster, ließ sich beim Direktor melden und sagte aufrichtig, sie habe was mit dem Ivo zu sprechen.
„Bist du seine Schwester?“ fragte der Direktor.
„Nein, ich bin nur die Magd im Haus.“
Der Direktor sah Emmerenz starr in das Gesicht, sie blickte ihn treuherzig an, keine Miene zuckte; der Direktor befahl dem Famulus, sie zu Ivo zu führen.
In einer Fenstervertiefung auf der langen gewölbten Hausflur wartete Emmerenz, bis Ivo herauskam; er schreckte ersichtlich zusammen, als er sie erblickte.
„Grüß Gott, Emmerenz, was machst du hier – es ist doch alles wohl daheim?“ fragte Ivo, nichts Gutes ahnend.
„Alles wohlauf, ich bin von der Mutter geschickt, viel tausend herzliche Grüß’, und ich soll sagen, der Ivo braucht nicht Geistlich zu werden, wenn er’s nicht von Herzen gern thut. Die Mutter kann nicht ruhen und rasten, sie meint, sie häb’ ihm das Gemüt zu schwer gemacht, und er thät’s ihr zulieb, und das bräucht’ er nicht, und er wär’ doch ihr lieber Sohn, wenn er auch nicht Geistlich wird und . . . ja, das ist alles.“
„Sei nur nicht so erschrocken, sprich herzhaft mit mir, gib mir deine Hand,“ sagte Ivo, als eben einer seiner neugierigen Kameraden vorbeigehuscht war, „ich bin dir ja nicht so fremd, wir sind ja alte gute Freund’, gelt?“
Nun erzählte Emmerenz mit wunderbarer Geläufigkeit, wie sie den Brief habe schreiben wollen und wie sie die Nacht durch zu ihm hergewandert sei; sie blickte manchmal zur Erde und drehte den Kopf, als suche sie etwas. Die Augen Ivos ruhten mit tiefer Innigkeit auf ihr, und wenn ihre Blicke sich begegneten, erglühten die Wangen beider, aber ein jedes scheute sich vor dem andern, sie sagten sich nichts von dem, was ihre Seele bewegte. Als Emmerenz ihre Erzählung geendet, sagte Ivo: „Ich dank’ dir von Grund des Herzens, es kann wohl einmal die Zeit kommen, wo ich dir deine Gutthat vergelten kann.“
„Das ist ja nicht der Red’ wert. Wenn’s zu deinem Besten wär’, und du thätst sagen: lauf jetzt für mich nach Stuttgart zum König, ich thät mich nicht lang besinnen und ging’ eben grad, es ist mir jetzt so . . . so wie . . .“
„Nun, wie denn?“ fragte Ivo das stockende Mädchen.
„Wie . . . wie wenn mir jetzt grad halt alles gut ausgehen müßt’.“
Ohne ein Wort zu reden, standen die beiden eine Weile einander gegenüber, im Innersten aber wechselten sie die traulichsten Reden; endlich sagte Ivo, sich mit einem schweren Seufzer erhebend:
„Sag meiner Mutter, ich müss’ mir das alles noch überlegen, sie soll ruhig sein, schlecht werde ich nicht; sorg recht für sie und laß sie mit ihrem kranken Arm nicht zu viel schaffen. Nächst meiner Mutter bist du . . . und der Nazi mir die liebsten Menschen auf der Welt.“ Sowohl Ivo als Emmerenz blickten zur Erde bei diesen Worten, jener aber fuhr fort: „Hast nichts von Nazi gehört?“
„Nein.“
Ohne daß es die beiden merkten, war die ihnen zugemessene Zeit vorübergegangen, es läutete. „Du gehst doch auch in die Kirch’?“ fragte Ivo.
„Ja, aber hernach muß ich tapfer machen, daß ich wieder heim komm’.“
„Wenn ich’s machen kann, seh’ ich dich noch einmal nach der Kirch’, drunten in der Neckarhalde, wo man nach Hirschau geht, wenn’s aber nicht sein kann, so sag’ ich dir Ade. B’hüt dich Gott, lauf nicht zu arg und . . . und . . . bleib rechtschaffen.“
Sie trennten sich. Trotzdem Emmerenz vor einer Stunde so scharf über die Lisbeth losgezogen hatte, setzte sie sich in der Kirche doch links und freute sich, daß ihr der Ivo so mit den Augen zuwinkte.
Fast eine Stunde wartete Emmerenz nach der Kirche in der Neckarhalde, aber niemand kam. Sie ging nun ihres Weges, indem sie noch oft zurückschaute; endlich gelobte sie sich, dies nicht mehr zu thun. „Es ist besser so,“ sagte sie, „ich mein’ zwar immer, ich hätt’ ihm die Sach’ nicht recht gesagt, aber es ist doch besser so.“ Sie schaute sich nicht mehr um, setzte sich aber, ihr Brot verzehrend, auf eine Anhöhe, von wo sie den ganzen Weg bis zur Stadt übersehen konnte. Die Brosamen von ihrem Kleide abschüttelnd, stand sie endlich rasch auf und verfolgte ihren Weg.
Wir können sie nicht begleiten und können nur soviel berichten, daß sie wohlbehalten und munter nach Hause gelangte. Wir bleiben beim Ivo, der in schweren Gedanken umherwandelte. Er hatte sich wieder in seinem angewiesenen Berufe zurechtgefunden, nun aber hatten die Ermahnungen der Mutter den festen Grund seines Willens wieder ganz aufgelockert und ihn an sich selber unsicher gemacht. Die Erscheinung des Mädchens, dem sich sein Herz zuwendete, hatte einen schweren Kampf in ihm erregt. Er hätte wohl noch nach der Kirche in die Neckarhalde kommen können, aber er fürchtete sich vor sich selber, vor andern und blieb weg.
Der reine, frische Willensbeschluß, den Ivo früher gegen seine Eltern durchführt hatte, war durch seine nachmalige freie Umkehr jetzt anbrüchig und morsch; er hatte kein rechtes Vertrauen zu seiner eigensten Kraft mehr. – Es ist immer schwer, wenn man sich etwas fest vorgesetzt und wieder davon abgelassen, abermals dazu zurückzukehren; es fehlt dann das frische Mark, die rechte Erquickung, es ist wie das Nachgras, das wird wohl feiner und zarter, gibt aber keine feste Nahrung mehr.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1