15. Erlösung. - Ein schauervolles Ereignis ließ Ivo aus Schmerz und Qual wieder neu erstehen....
15. Erlösung. - Ein schauervolles Ereignis ließ Ivo aus Schmerz und Qual wieder neu erstehen.
Bartel war an seinem Namenstage, am Tage des heiligen Bartholomäus, den Wächtern im Lazarette entronnen, von Gewissensbissen gefoltert, stürzte er sich zum Fenster hinaus und zerschmetterte sich das Hirn. Um zum Frommen des Klosters diese That zu verhehlen, sowie auch aus Rücksicht auf die Geisteskrankheit Bartels, ließ man ihm ein ehrliches Begräbnis angedeihen. Die Klösterlinge zogen nun alle mit Floren behangen unter der klagenden Trauermusik hinter der Leiche drein. Ivo blies das Horn, seine Töne flatterten wie jach zerrissene Bänder in den Lüften. Auf dem Kirchhof trat Ivo vor und hielt seinem verlorenen Kameraden eine herzergreifende Denkrede. Anfangs stockte er ein wenig, alle seine Pulse zitterten; zum erstenmal hatte ihm der wirkliche Tod eine Leiche vor die Füße gerollt und ihm zugerufen: „Lerne das Leben begreifen und den Tod!“ Wie er einst Klemens vor seinen Füßen als tot erblickt hatte, so lag jetzt in Wahrheit die entseelte Hülle eines Jugendgenossen vor ihm, mit dem er so lange gelebt. Er pries zuerst das Leben, das freie, selige Atmen, und wollte den Tod weit weg bannen aus der Mitte der Menschen, dann aber ward seine Rede feuriger, wie ein lebendiger Springquell strömten die Worte dahin, mit schmerzloser Innigkeit pries er das Los des Entschlummerten, der, ein verlorenes Waisenkind, endlich heimgekehrt sei zu seinem Vater im Himmel. Die Weihe kam über Ivo, noch bevor ihn die Hand eines Priesters berührt. Er schwang sich hinauf zum Thron des Allvaters, kniete nieder und bat um Gnade für seinen Freund; in kurzen abgestoßenen Sätzen bat er dann um Gnade für sich, um sein eigenes seliges Ende, um das aller Menschen und sprach endlich das Amen.
Mit jubelndem Marsche zogen die Klösterlinge wiederum heim; sie, das stehende Heer des Himmels, sollten gleich dem stehenden Heer der Erde auch nie lange dem Schmerze sich hingeben, sondern alsbald wieder lebensmutig die Schritte fördern, obgleich die Todesbetrachtung zu ihren vornehmsten Exercitien gehörte. Auch Ivo fühlte wieder neue Lebenslust in sich auferstehen; die beiden, die ihm am nächsten gestanden, hatte das Geschick von ihm gerissen, den einen durch geistigen, den andern durch leiblichen Selbstmord – er fühlte sich allein und stark.
Als nun die andern Kameraden, die das Leben, ihr Geschick und den Tod leichter nahmen, allesamt in ein Wirtshaus gingen, um nach altem Brauch dem Verstorbenen hundert und einen Schoppen Bieres, jeden Schoppen in einem Zug, ins Grab zu trinken, da ging Ivo einsam, sein Waldhorn unter dem Arm, hinaus über die Brücke, immer weiter. Die Sonne begann zu sinken, noch zitterten ihre letzten hellen Strahlen auf der Erde, aber schon stand der Mond hoch oben am wolkenlosen Himmel, als wollte er den Erdenkindern sagen: zaget nicht, ich wache über euch und leuchte euren nächtlich stillen Bahnen, bis eine neue Sonne glänzend heraufsteigt. Ivo sagte sich innerlich: „So zagen und jammern die Menschen, wenn eine neue Lehre untergeht oder eine Lebensleuchte versinkt; nicht immer ist alsbald ein neues Licht in ihnen aufgestiegen, und doch naht es ihnen unvermerkt, sie aber fürchten die ewige Nacht, weil sie es noch nicht erblicken, weil sie nicht vertrauen dem ewigen Licht.“ Es wurde Nacht, Ivo stand still, aber mit dem Rufe: „Fort, fort, nie mehr zurück!“ ging er stets rascher. Er schlug nun einen andern Weg ein, er wollte seine Heimat vermeiden. Wohl dachte er des Schmerzes seiner Mutter, aber er wollte ihr von Straßburg aus schreiben, dorthin wendete er sich. Er gedachte sich einstweilen mit der Musik zu ernähren, oder als Bauernknecht zu dienen, bis er so viel Geld habe, um nach Amerika auszuwandern. Es war ihm, als ob er nie hinter den Büchern gesessen, er wußte nichts mehr von all den theologischen Satzungen und Systemen, er kam sich wie neugeboren vor, und nichts als die Erinnerungen seiner frühesten Jugend spielten vor seiner Seele. So lief er die ganze Nacht durch, ohne zu rasten, und als er sich beim ersten Morgenstrahl in einem fremden Thale fand, da stand er stille und betete inbrünstig zu Gott um Hilfe. Er kniete nicht nieder, aber seine Seele lag anbetend vor dem Herrn. Im Weitergehen summte er ein Lied vor sich hin, das er in seiner Kindheit oft gehört:
Nun ade, herzlieber Vater,
Nun ade, jetzt lebet wohl!
Wollt Ihr mich noch einmal sehen,
Steigt hinauf auf Bergeshöhen,
Schaut hinab ins tiefe Thal,
Seht Ihr mich zum letztenmal.
Nun ade, herzliebe Mutter,
Nun ade, jetzt lebet wohl!
Habt Ihr mich in Schmerz geboren
Für die Kirche*) auferzogen,
Seht Ihr mich zum letztenmal,
Nun ade, jetzt lebet wohl.
Auf einem Steine sitzend, überlegte dann Ivo sein Schicksal. Er war doch unbesonnen fortgegangen, er hatte nichts Klingendes bei sich, als die Klänge seines Waldhorns; er gedachte, wie er nun gute Leute ansprechen müsse, um fortzukommen. Auch bei dem reinsten Herzen ist es doch immer etwas tief Einschneidendes, betteln zu müssen; Ivo errötete im voraus bei dem Gedanken. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß er als wohlhabender Leute Kind an die Fülle zu Hause dachte, und aus seiner tiefsten Seele löste sich der abgerissene Klang eines alten Liedes; mit schmerzlichem Lächeln sang er:
Han kein Haus und halt kein Geld
Und kein Teil an der Welt.
Da sah er eine Schar Ochsen des Weges daherkommen, voraus ging ein Paar Stromel. Ivo gesellte sich zu den Ochsentreibern und fragte, wohin sie wollten; er erfuhr, daß sie die fetten Tiere einem Metzger in Straßburg brächten, auch erfuhr er, daß sie gerade auf dem Wege nach Freiburg seien. Ivo war um viele Stunden umgegangen, war aber doch noch auf dem rechten Wege. Er bat nun die Männer, sie begleiten zu dürfen, er wolle ihnen helfen, und sie sollten die Zehrung für ihn bezahlen; die Männer sahen den sonderbaren Menschen in den schwarzen Kleidern mit dem Horn unterm Arm von oben herunter an, sie munkelten etwas miteinander.
„In der Fremdenlegion, mit dem nach Algier gehen, ist’s nichts,“ sagte der eine.
„Es ist besser,“ sagte der andre, „man sitzt seine paar Jahr’ Straf’ daheim ab, es kostet den Kopf nicht.“ Er lächelte so zuversichtlich, daß Ivo wohl merkte, er habe diese Erfahrung selbst gemacht. Ivo erkannte nun, daß er für einen Verbrecher gehalten wurde, er wagte indes nicht, diese Meinung zu entfernen, er wollte das Mitleid der Leute für sich wach erhalten; sie sagten ihm aber, sie könnten ihm nichts versprechen, in Neustadt träfen sie ihren Herrn, er solle mit dem reden.
Still ging nun Ivo hinter den Tieren drein, der Zuchthauserfahrene trat ihm gnädig sein Zepter ab, und Ivo regierte mild und sicher mit demselben die Unterthanen.
„Woher ist das Paar Stromel?“ fragte Ivo.
„Nicht wahr?“ sagte der Algierfeind, „denen sieht man’s an, daß sie aus einem guten Stall kommen, die sind auf dem Schramberger Markt vom Buchmaier gekauft worden.“
Ivo sprang zu den Tieren und erkannte seinen Stromel alsbald an den aufgesträubten Haaren mitten auf der Stirne, es war ihm, als habe er gleiches Schicksal mit dem Tiere und ginge er gleich ihm dem Tode entgegen, aber er konnte und wollte nicht mehr zurück.
Wie erstaunte aber Ivo, als, zu Neustadt angelangt, die Treiber ihren Herrn begrüßten, der zum Fenster des Wirtshauses herausschaute, und Ivo den Florian in ihm erkannte. Er wollte seinen Augen kaum trauen, bis Florian auf ihn zukam und mit unbändigem Gelächter den sonderbaren Ochsentreiber bewillkommte.
Ivo erzählte nun alles, und Florian schrie, auf den Tisch schlagend: „Noch eine Bouteill’. Brav, das ist recht, ich helf’ dir durch, du hast meine Parole. Narr, ohne Paß kommst du nicht auf Straßburg, da,“ er schlüpfte behend aus seinem blauen Ueberhemde, „zieh das an, da wird dich jeder für einen Straßburger Metzger halten, und,“ setzte der Schelm hinzu, seine schwere Geldkatze aufhebend, „die tragst du auf der Achsel, die macht dich ferm zu einem von uns.“
Ivo ließ sich alles gern gefallen und zog, nachdem er sich sattsam gestärkt hatte, wohlgemut mit Florian weiter. Florian war seinerseits froh, viel von seinem angesehenen Leben erzählen und den Nordstettern einen Schabernack spielen zu können; dabei half er aber auch dem Ivo von Herzen gern.
Es war ein heißer Tag, oben an der Höllsteig wurde Mittag gemacht. Florian setzte dem Ivo mit Trinken sehr zu, so daß dieser sich eine Weile von ihm loszumachen suchte. Er ging in die Schmiede neben dem Wirtshause und unterhielt sich mit dem Meister, es heimelte ihn hier wiederum so an, wie ehedem zu Hause. Plötzlich gedachte Ivo, daß hier der Ort und dies der Mann sei, bei dem sich einst Nazi verborgen; eben wollte er nach ihm fragen, als der Schmied zu seinem Jungen sagte:
„Da, trag die zwei Pflugeisen ‘nüber zum Beßtebuur.“
„Wie weit ist das?“ fragte Ivo.
„Eine gute Viertelstund’.“
„Ich geh’ mit,“ sagte Ivo, sprang in das Wirtshaus, sagte Florian, daß er bald wiederkäme, und er würde ihn schon wieder einholen; dann legte er das Ueberhemd ab und nahm sein Waldhorn unter den Arm.
In Begleitung des Jungen ging er nun über die Wiese den Waldsteig hinab. Drunten rauschte der Bach und klapperten die Mühlen; Ivo war’s, als müßte hinter jedem Baum sein Nazi hervortreten, er fragte den Jungen:
„Ist der Beßtebuur ein braver Mann?“
„Ja, bräver weder sein Bruder. wo gestorben ist.“
„Wie heißt denn der jetzige Beßtebuur mit seinem Taufnamen?“
„Das weiß ich nicht, er heißt halt der Beßtebuur; er ist in vielen Ländern gewesen als Knecht und als Doktor.“
Ivo jauchzte hoch auf, hierher hatte ihn der Finger Gottes geführt.
„Seit wann ist denn der Beßtebuur da?“ fragte er wieder.
„Seit zwei Jahren. Er hat ein Jahr lang als Knecht bei seinem Bruder gedient, und da ist der gestorben, man sagt, er häb’s ihm anthun, er ist ein halber Hexenmeister; er hat ihn auch schon vor vielen Jahren einmal umbringen wollen, und weil keine Kinder dagewesen sind, ist der Hof an ihn gefallen, er ist aber sonst ein braver Mann.“
Mit tiefer Trauer erfuhr Ivo, daß nun sein guter Nazi doch als Brudermörder gelten sollte, weil er einst die Sünde zu begehen getrachtet hatte, aber Ivo tröstete sich bald wieder mit Recht, daß dies nur ein Geschwätz neidischer und boshafter Leute sein könne.
Sie kamen an der Sägmühle vorbei, in welcher Nazi einen großen Teil seiner Jugend verlebt. Ivo freute sich besonders, daß auch hier, von der Bergwand geschützt, ein schöner Nußbaum stand, gerade wie zu Hause vor der Wohnung seiner Eltern.
Nun ging es rasch den andern Berg hinan. Ivo wußte zwar wohl, was eine nachbarliche Bauernviertelstunde zu bedeuten habe, aber daß es mehr als eine Stunde sei, hatte er doch nicht gedacht. Da er sehr eilte, nahm er dem Jungen die schweren Eisen ab, damit er gleichen Schritt mit ihm halte. Der Harzgeruch der sonnenbeschienenen Tannen erweckte in Ivo die Jugenderinnerungen immer lebendiger: er sah sich auf der Krippe neben seinem Nazi sitzen, er war draußen im Veigelesthäle – singend und jubelnd tanzten und sprangen alle die Bilder der Kindheit vor ihm her. Auf der Windeck angelangt, sah Ivo das ihm wohlbekannte kleine Haus, ein bleiches Frauenbild sah aus dem Fenster, es war das Windecker Lisle, das hier wieder einsam wohnte.
Ivo dachte darüber nach, wie auffallend es sei, daß die Kirche es wagte, ein ausdrückliches Gebot der Bibel in ein Verbot umzuwandeln. Nach dem Alten Testamente mußte der Bruder die kinderlose Witwe seines Bruders heiraten, das kanonische Recht aber verbot dies geradezu, Nazi und Lisle durften sich nie ehelichen. Ivo fuhr sich mit der Hand über die Stirne, als wollte er die letzte theologische Erinnerung aus seinem Kopfe verbannen.
Man näherte sich dem Hofe des Beßtebuuren, die Wege waren gut und sauber. Endlich wurde man des stattlichen Hauses ansichtig, als man fast vor ihm stand. Ivo sah den Nazi, der Heu rechte, mehrere Mägde und Knechte um ihn her; aber Ivo eilte nicht auf ihn zu, sondern setzte das Horn an den Mund und blies die Weise des Liedes:
Da droben, da droben
An der himmlischen Thür,
Und da steht eine arme Seele,
Schaut traurig herfür.
Dann rief er. „Nazi!“ und die beiden, sich erkennend, lagen einander selig in den Armen.
**************************************************************
Wie nach banger, pfadloser Irre können wir jetzt auf gebahntem Wege dem Ende unsrer Erzählung zueilen. Ivo blieb bei Nazi, der ihn wie einen Bruder behandelte. Als einer der reichsten Bauern konnte er in allem für ihn sorgen. Er reiste für ihn als Brautwerber in die Heimat und holte die Emmerenz, die sich vor Freude gar nicht zu fassen wußte.
Alle Leute im Dorfe und sogar die Eltern söhnten sich mit der Lebenswendung Ivos aus, denn wenn es einem Menschen gut ergeht, beruhigen sich die Leute gern bei einer Aenderung, die ihnen sonst verdammlich erschiene.
Nazi schenkte dem Ivo die Sägmühle; mit freudiger Lust arbeitet er nun dort unverdrossen im Verein mit seiner Emmerenz. Oft sitzt er abends unter seinem Nußbaum und bläst auf seinem Waldhorn, daß es fernhin erschallt. Weit umher von den einzelnen Gehöften stehen in stillen Mondnächten die Burschen und Mädchen und lauschen den fernen Klängen. Emmerenz sagte das einst Ivo, und dieser erwiderte: „Guck, an der Musik haben wir ein Gleichnis vom rechten Menschenleben. Ich mach’ jetzt die Musik doch eigentlich nur für uns; aber wenn ich weiß, daß die Töne weit hinausfliegen und noch andrer Menschen Herz erfreuen, da ist mir’s noch viel lieber, ich bin noch viel fröhlicher und besser. Wenn nur jeder für sich selber sein Sach’ recht macht, so hilft er auch andern und macht ihnen Freud’. Ich bin nicht uneigennützig genug gewesen, bloß für andre Leut’ Musik zu machen; ich tanz’ auch gern selber mit.“
„Ja,“ sagte Emmerenz, „du bist doch studiert, und ich versteh’ dich doch. Wenn als die Buben beim Mocklesammeln in der Neckarhalde so lustig gesungen und gejodelt haben, da hab’ ich als denkt: guck, die singen für sich, und mich freut’s doch auch und einen jeden, der die Ohren bei ihm hat, und die Vögel singen auch für sich, und es gefällt den Menschen doch wohl, und wenn ein jedes in der Kirch’ recht für sich allein singt, nachher paßt alles gut zusammen und ist alles schön.“ Ivo umarmte innig seine Emmerenz.
„Wenn’s nur nie Winter werden thät; es ist doch gar einödig da,“ sagte Emmerenz.
„Da wohnet ihr eben bei mir,“ sprach eine Stimme. Es war die des guten Nazi.
*) Ivo setzte hier wirklich für die Kirche, statt für den Kaiser.
Bartel war an seinem Namenstage, am Tage des heiligen Bartholomäus, den Wächtern im Lazarette entronnen, von Gewissensbissen gefoltert, stürzte er sich zum Fenster hinaus und zerschmetterte sich das Hirn. Um zum Frommen des Klosters diese That zu verhehlen, sowie auch aus Rücksicht auf die Geisteskrankheit Bartels, ließ man ihm ein ehrliches Begräbnis angedeihen. Die Klösterlinge zogen nun alle mit Floren behangen unter der klagenden Trauermusik hinter der Leiche drein. Ivo blies das Horn, seine Töne flatterten wie jach zerrissene Bänder in den Lüften. Auf dem Kirchhof trat Ivo vor und hielt seinem verlorenen Kameraden eine herzergreifende Denkrede. Anfangs stockte er ein wenig, alle seine Pulse zitterten; zum erstenmal hatte ihm der wirkliche Tod eine Leiche vor die Füße gerollt und ihm zugerufen: „Lerne das Leben begreifen und den Tod!“ Wie er einst Klemens vor seinen Füßen als tot erblickt hatte, so lag jetzt in Wahrheit die entseelte Hülle eines Jugendgenossen vor ihm, mit dem er so lange gelebt. Er pries zuerst das Leben, das freie, selige Atmen, und wollte den Tod weit weg bannen aus der Mitte der Menschen, dann aber ward seine Rede feuriger, wie ein lebendiger Springquell strömten die Worte dahin, mit schmerzloser Innigkeit pries er das Los des Entschlummerten, der, ein verlorenes Waisenkind, endlich heimgekehrt sei zu seinem Vater im Himmel. Die Weihe kam über Ivo, noch bevor ihn die Hand eines Priesters berührt. Er schwang sich hinauf zum Thron des Allvaters, kniete nieder und bat um Gnade für seinen Freund; in kurzen abgestoßenen Sätzen bat er dann um Gnade für sich, um sein eigenes seliges Ende, um das aller Menschen und sprach endlich das Amen.
Mit jubelndem Marsche zogen die Klösterlinge wiederum heim; sie, das stehende Heer des Himmels, sollten gleich dem stehenden Heer der Erde auch nie lange dem Schmerze sich hingeben, sondern alsbald wieder lebensmutig die Schritte fördern, obgleich die Todesbetrachtung zu ihren vornehmsten Exercitien gehörte. Auch Ivo fühlte wieder neue Lebenslust in sich auferstehen; die beiden, die ihm am nächsten gestanden, hatte das Geschick von ihm gerissen, den einen durch geistigen, den andern durch leiblichen Selbstmord – er fühlte sich allein und stark.
Als nun die andern Kameraden, die das Leben, ihr Geschick und den Tod leichter nahmen, allesamt in ein Wirtshaus gingen, um nach altem Brauch dem Verstorbenen hundert und einen Schoppen Bieres, jeden Schoppen in einem Zug, ins Grab zu trinken, da ging Ivo einsam, sein Waldhorn unter dem Arm, hinaus über die Brücke, immer weiter. Die Sonne begann zu sinken, noch zitterten ihre letzten hellen Strahlen auf der Erde, aber schon stand der Mond hoch oben am wolkenlosen Himmel, als wollte er den Erdenkindern sagen: zaget nicht, ich wache über euch und leuchte euren nächtlich stillen Bahnen, bis eine neue Sonne glänzend heraufsteigt. Ivo sagte sich innerlich: „So zagen und jammern die Menschen, wenn eine neue Lehre untergeht oder eine Lebensleuchte versinkt; nicht immer ist alsbald ein neues Licht in ihnen aufgestiegen, und doch naht es ihnen unvermerkt, sie aber fürchten die ewige Nacht, weil sie es noch nicht erblicken, weil sie nicht vertrauen dem ewigen Licht.“ Es wurde Nacht, Ivo stand still, aber mit dem Rufe: „Fort, fort, nie mehr zurück!“ ging er stets rascher. Er schlug nun einen andern Weg ein, er wollte seine Heimat vermeiden. Wohl dachte er des Schmerzes seiner Mutter, aber er wollte ihr von Straßburg aus schreiben, dorthin wendete er sich. Er gedachte sich einstweilen mit der Musik zu ernähren, oder als Bauernknecht zu dienen, bis er so viel Geld habe, um nach Amerika auszuwandern. Es war ihm, als ob er nie hinter den Büchern gesessen, er wußte nichts mehr von all den theologischen Satzungen und Systemen, er kam sich wie neugeboren vor, und nichts als die Erinnerungen seiner frühesten Jugend spielten vor seiner Seele. So lief er die ganze Nacht durch, ohne zu rasten, und als er sich beim ersten Morgenstrahl in einem fremden Thale fand, da stand er stille und betete inbrünstig zu Gott um Hilfe. Er kniete nicht nieder, aber seine Seele lag anbetend vor dem Herrn. Im Weitergehen summte er ein Lied vor sich hin, das er in seiner Kindheit oft gehört:
Nun ade, herzlieber Vater,
Nun ade, jetzt lebet wohl!
Wollt Ihr mich noch einmal sehen,
Steigt hinauf auf Bergeshöhen,
Schaut hinab ins tiefe Thal,
Seht Ihr mich zum letztenmal.
Nun ade, herzliebe Mutter,
Nun ade, jetzt lebet wohl!
Habt Ihr mich in Schmerz geboren
Für die Kirche*) auferzogen,
Seht Ihr mich zum letztenmal,
Nun ade, jetzt lebet wohl.
Auf einem Steine sitzend, überlegte dann Ivo sein Schicksal. Er war doch unbesonnen fortgegangen, er hatte nichts Klingendes bei sich, als die Klänge seines Waldhorns; er gedachte, wie er nun gute Leute ansprechen müsse, um fortzukommen. Auch bei dem reinsten Herzen ist es doch immer etwas tief Einschneidendes, betteln zu müssen; Ivo errötete im voraus bei dem Gedanken. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß er als wohlhabender Leute Kind an die Fülle zu Hause dachte, und aus seiner tiefsten Seele löste sich der abgerissene Klang eines alten Liedes; mit schmerzlichem Lächeln sang er:
Han kein Haus und halt kein Geld
Und kein Teil an der Welt.
Da sah er eine Schar Ochsen des Weges daherkommen, voraus ging ein Paar Stromel. Ivo gesellte sich zu den Ochsentreibern und fragte, wohin sie wollten; er erfuhr, daß sie die fetten Tiere einem Metzger in Straßburg brächten, auch erfuhr er, daß sie gerade auf dem Wege nach Freiburg seien. Ivo war um viele Stunden umgegangen, war aber doch noch auf dem rechten Wege. Er bat nun die Männer, sie begleiten zu dürfen, er wolle ihnen helfen, und sie sollten die Zehrung für ihn bezahlen; die Männer sahen den sonderbaren Menschen in den schwarzen Kleidern mit dem Horn unterm Arm von oben herunter an, sie munkelten etwas miteinander.
„In der Fremdenlegion, mit dem nach Algier gehen, ist’s nichts,“ sagte der eine.
„Es ist besser,“ sagte der andre, „man sitzt seine paar Jahr’ Straf’ daheim ab, es kostet den Kopf nicht.“ Er lächelte so zuversichtlich, daß Ivo wohl merkte, er habe diese Erfahrung selbst gemacht. Ivo erkannte nun, daß er für einen Verbrecher gehalten wurde, er wagte indes nicht, diese Meinung zu entfernen, er wollte das Mitleid der Leute für sich wach erhalten; sie sagten ihm aber, sie könnten ihm nichts versprechen, in Neustadt träfen sie ihren Herrn, er solle mit dem reden.
Still ging nun Ivo hinter den Tieren drein, der Zuchthauserfahrene trat ihm gnädig sein Zepter ab, und Ivo regierte mild und sicher mit demselben die Unterthanen.
„Woher ist das Paar Stromel?“ fragte Ivo.
„Nicht wahr?“ sagte der Algierfeind, „denen sieht man’s an, daß sie aus einem guten Stall kommen, die sind auf dem Schramberger Markt vom Buchmaier gekauft worden.“
Ivo sprang zu den Tieren und erkannte seinen Stromel alsbald an den aufgesträubten Haaren mitten auf der Stirne, es war ihm, als habe er gleiches Schicksal mit dem Tiere und ginge er gleich ihm dem Tode entgegen, aber er konnte und wollte nicht mehr zurück.
Wie erstaunte aber Ivo, als, zu Neustadt angelangt, die Treiber ihren Herrn begrüßten, der zum Fenster des Wirtshauses herausschaute, und Ivo den Florian in ihm erkannte. Er wollte seinen Augen kaum trauen, bis Florian auf ihn zukam und mit unbändigem Gelächter den sonderbaren Ochsentreiber bewillkommte.
Ivo erzählte nun alles, und Florian schrie, auf den Tisch schlagend: „Noch eine Bouteill’. Brav, das ist recht, ich helf’ dir durch, du hast meine Parole. Narr, ohne Paß kommst du nicht auf Straßburg, da,“ er schlüpfte behend aus seinem blauen Ueberhemde, „zieh das an, da wird dich jeder für einen Straßburger Metzger halten, und,“ setzte der Schelm hinzu, seine schwere Geldkatze aufhebend, „die tragst du auf der Achsel, die macht dich ferm zu einem von uns.“
Ivo ließ sich alles gern gefallen und zog, nachdem er sich sattsam gestärkt hatte, wohlgemut mit Florian weiter. Florian war seinerseits froh, viel von seinem angesehenen Leben erzählen und den Nordstettern einen Schabernack spielen zu können; dabei half er aber auch dem Ivo von Herzen gern.
Es war ein heißer Tag, oben an der Höllsteig wurde Mittag gemacht. Florian setzte dem Ivo mit Trinken sehr zu, so daß dieser sich eine Weile von ihm loszumachen suchte. Er ging in die Schmiede neben dem Wirtshause und unterhielt sich mit dem Meister, es heimelte ihn hier wiederum so an, wie ehedem zu Hause. Plötzlich gedachte Ivo, daß hier der Ort und dies der Mann sei, bei dem sich einst Nazi verborgen; eben wollte er nach ihm fragen, als der Schmied zu seinem Jungen sagte:
„Da, trag die zwei Pflugeisen ‘nüber zum Beßtebuur.“
„Wie weit ist das?“ fragte Ivo.
„Eine gute Viertelstund’.“
„Ich geh’ mit,“ sagte Ivo, sprang in das Wirtshaus, sagte Florian, daß er bald wiederkäme, und er würde ihn schon wieder einholen; dann legte er das Ueberhemd ab und nahm sein Waldhorn unter den Arm.
In Begleitung des Jungen ging er nun über die Wiese den Waldsteig hinab. Drunten rauschte der Bach und klapperten die Mühlen; Ivo war’s, als müßte hinter jedem Baum sein Nazi hervortreten, er fragte den Jungen:
„Ist der Beßtebuur ein braver Mann?“
„Ja, bräver weder sein Bruder. wo gestorben ist.“
„Wie heißt denn der jetzige Beßtebuur mit seinem Taufnamen?“
„Das weiß ich nicht, er heißt halt der Beßtebuur; er ist in vielen Ländern gewesen als Knecht und als Doktor.“
Ivo jauchzte hoch auf, hierher hatte ihn der Finger Gottes geführt.
„Seit wann ist denn der Beßtebuur da?“ fragte er wieder.
„Seit zwei Jahren. Er hat ein Jahr lang als Knecht bei seinem Bruder gedient, und da ist der gestorben, man sagt, er häb’s ihm anthun, er ist ein halber Hexenmeister; er hat ihn auch schon vor vielen Jahren einmal umbringen wollen, und weil keine Kinder dagewesen sind, ist der Hof an ihn gefallen, er ist aber sonst ein braver Mann.“
Mit tiefer Trauer erfuhr Ivo, daß nun sein guter Nazi doch als Brudermörder gelten sollte, weil er einst die Sünde zu begehen getrachtet hatte, aber Ivo tröstete sich bald wieder mit Recht, daß dies nur ein Geschwätz neidischer und boshafter Leute sein könne.
Sie kamen an der Sägmühle vorbei, in welcher Nazi einen großen Teil seiner Jugend verlebt. Ivo freute sich besonders, daß auch hier, von der Bergwand geschützt, ein schöner Nußbaum stand, gerade wie zu Hause vor der Wohnung seiner Eltern.
Nun ging es rasch den andern Berg hinan. Ivo wußte zwar wohl, was eine nachbarliche Bauernviertelstunde zu bedeuten habe, aber daß es mehr als eine Stunde sei, hatte er doch nicht gedacht. Da er sehr eilte, nahm er dem Jungen die schweren Eisen ab, damit er gleichen Schritt mit ihm halte. Der Harzgeruch der sonnenbeschienenen Tannen erweckte in Ivo die Jugenderinnerungen immer lebendiger: er sah sich auf der Krippe neben seinem Nazi sitzen, er war draußen im Veigelesthäle – singend und jubelnd tanzten und sprangen alle die Bilder der Kindheit vor ihm her. Auf der Windeck angelangt, sah Ivo das ihm wohlbekannte kleine Haus, ein bleiches Frauenbild sah aus dem Fenster, es war das Windecker Lisle, das hier wieder einsam wohnte.
Ivo dachte darüber nach, wie auffallend es sei, daß die Kirche es wagte, ein ausdrückliches Gebot der Bibel in ein Verbot umzuwandeln. Nach dem Alten Testamente mußte der Bruder die kinderlose Witwe seines Bruders heiraten, das kanonische Recht aber verbot dies geradezu, Nazi und Lisle durften sich nie ehelichen. Ivo fuhr sich mit der Hand über die Stirne, als wollte er die letzte theologische Erinnerung aus seinem Kopfe verbannen.
Man näherte sich dem Hofe des Beßtebuuren, die Wege waren gut und sauber. Endlich wurde man des stattlichen Hauses ansichtig, als man fast vor ihm stand. Ivo sah den Nazi, der Heu rechte, mehrere Mägde und Knechte um ihn her; aber Ivo eilte nicht auf ihn zu, sondern setzte das Horn an den Mund und blies die Weise des Liedes:
Da droben, da droben
An der himmlischen Thür,
Und da steht eine arme Seele,
Schaut traurig herfür.
Dann rief er. „Nazi!“ und die beiden, sich erkennend, lagen einander selig in den Armen.
**************************************************************
Wie nach banger, pfadloser Irre können wir jetzt auf gebahntem Wege dem Ende unsrer Erzählung zueilen. Ivo blieb bei Nazi, der ihn wie einen Bruder behandelte. Als einer der reichsten Bauern konnte er in allem für ihn sorgen. Er reiste für ihn als Brautwerber in die Heimat und holte die Emmerenz, die sich vor Freude gar nicht zu fassen wußte.
Alle Leute im Dorfe und sogar die Eltern söhnten sich mit der Lebenswendung Ivos aus, denn wenn es einem Menschen gut ergeht, beruhigen sich die Leute gern bei einer Aenderung, die ihnen sonst verdammlich erschiene.
Nazi schenkte dem Ivo die Sägmühle; mit freudiger Lust arbeitet er nun dort unverdrossen im Verein mit seiner Emmerenz. Oft sitzt er abends unter seinem Nußbaum und bläst auf seinem Waldhorn, daß es fernhin erschallt. Weit umher von den einzelnen Gehöften stehen in stillen Mondnächten die Burschen und Mädchen und lauschen den fernen Klängen. Emmerenz sagte das einst Ivo, und dieser erwiderte: „Guck, an der Musik haben wir ein Gleichnis vom rechten Menschenleben. Ich mach’ jetzt die Musik doch eigentlich nur für uns; aber wenn ich weiß, daß die Töne weit hinausfliegen und noch andrer Menschen Herz erfreuen, da ist mir’s noch viel lieber, ich bin noch viel fröhlicher und besser. Wenn nur jeder für sich selber sein Sach’ recht macht, so hilft er auch andern und macht ihnen Freud’. Ich bin nicht uneigennützig genug gewesen, bloß für andre Leut’ Musik zu machen; ich tanz’ auch gern selber mit.“
„Ja,“ sagte Emmerenz, „du bist doch studiert, und ich versteh’ dich doch. Wenn als die Buben beim Mocklesammeln in der Neckarhalde so lustig gesungen und gejodelt haben, da hab’ ich als denkt: guck, die singen für sich, und mich freut’s doch auch und einen jeden, der die Ohren bei ihm hat, und die Vögel singen auch für sich, und es gefällt den Menschen doch wohl, und wenn ein jedes in der Kirch’ recht für sich allein singt, nachher paßt alles gut zusammen und ist alles schön.“ Ivo umarmte innig seine Emmerenz.
„Wenn’s nur nie Winter werden thät; es ist doch gar einödig da,“ sagte Emmerenz.
„Da wohnet ihr eben bei mir,“ sprach eine Stimme. Es war die des guten Nazi.
*) Ivo setzte hier wirklich für die Kirche, statt für den Kaiser.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1