Elftes Capitel. - Das englische Speisehaus. - Wir traten in einen kleinen Saal. Rule Britannia, God save the King, und andere solche stolze englische Lieder kamen mir sogleich in den Sinn....

XI. Das englische Speisehaus

In der Richelieu-Straße begegnete ich einem lieben deutschen Freund. Es erquickt mich immer, wenn ich ihm begegne. Ein Riesenjüngling, breite Brust, eine Stimme wie ein Bär. Schreitet er durch den Palais Royal, zittern die zarten Kristallscheiben der Läden und die Bänder der Hüte flattern wild durcheinander. Ich möchte dabei sein, wenn er einem Mädchen sagt: „Ich liebe dich!“ Sie hört ihn gewiß, und zwischen hören und erhören liegt in diesem Falle nur eine kleine Pause. In seiner zierlichen französischen Kleidung gleicht er dem Herkules am Spinnrocken der Omphale. Ein deutscher Händedruck und – „wohin, mein Freund?“ fragte ich. – „Zu Little Garravays!“ donnerte er. – „Ist es ein der Little oder ein die Little?“ – „Es ist ein der Little, ein englisches Speisehaus, wo man meisterhaft ißt; kommen Sie mit!“ – „Gut, ich bin dabei.“


Wir traten in einen kleinen Saal. Rule Britannia, God save the King, und andere solche stolze englische Lieder kamen mir sogleich in den Sinn. So bist du, England! dachte ich. Bedarf es denn immer der Klaue, daß man den Löwen erkenne? Auch nur eine Flechte seiner Mähne ist oft genug. Die Franzosen essen am meisten mit den Augen. In ihren Speisehäusern ist das erste, wonach sie sich umsehen, Brot, das zweite Spiegel. Die Tische dort, obzwar auch nur für zwei oder vier Personen eingerichtet, stehen in gemeinschaftlichen Zimmern nahe bei einander; man sieht sich, und man wird gesehen. Hier bei den Engländern aber ist alles ganz anders eingerichtet. Die Tische sind durch spanische Wände voneinander geschieden, so daß einem kein Fremder in den Mund sehen kann; der Saal ist in zwei Reihen Klosterzellen eingeteilt. So bist du, Engländer! Du willst allein sein und lassen, du mit deinen eigenen, jeden mit seinen Launen; du bist ein unausstehlicher Mensch, du bist ein Republikaner. Du bist häuslich auch außer deinem Hause, du willst etwas für dich selbst vorstellen, nicht bloß ein Mauerstein am Staatsgebäude sein, unter einer gemeinschaftlichen Kalkdecke mit tausend andern Steinen begraben. Recht so! ... Die Tische sind zwar mit Tüchern bedeckt, aber Servietten bekommt man nicht. Doch ist jedem verstattet, das Tischtuch nach Belieben zu verwenden. Also persönliche Freiheit! Suppe wird nicht gereicht, man müßte sie denn ausdrücklich fordern, und dann wird sie besonders bezahlt. Das Essen beginnt mit Roastbeef, das sanft blutet. Es kommt aber nicht, wie in französischen Speisehäusern, in elenden dünnen Scheiben auf den Tisch – ein Lurleifelsen wurde uns vorgesetzt, so hoch und steil, daß selbst die Riesenhand des deutschen Jünglings erst hinanklettern mußte, um abzuschneiden.Ein herkulischer Senf, der auch den verstocktesten Augiaskopf säubern könnte, begleitete das Roastbeef. Dann folgte Gemüse, woran, wie an hetrurischen Vasengemälden, nur die ersten naiven Regeln der Kunst sich aussprachen. Es war nicht sauer, nicht süß, nicht gesalzen und drang niemanden einen vielleicht unwillkommenen Geschmack auf. Aber neben dem Salzfasse steht auf jedem Tische auch eine Zuckerbüchse, so daß man sich sein Gemüse nach Belieben zubereiten kann. Dann kommt eine Mehlspeise, die mild, doch nicht ohne Kraft, wie sie sich für Männer ziemt. Den Schluß macht herrlicher Chesterkäse, der aber nicht, wie in Paris üblich, in Triangeln, Parabeln, Hyperbeln, Ellipsen oder anderen winzigen Kreis- oder Kegelschnitten, sondern in ganzen Hemisphären aufgetragen wird. Ein rasender Porter wütet und schäumt in den Gläsern und besiegt auch den Stärksten.

Der Habeas-Korpus-Akte erfreut man sich nirgends so sehr als in diesem englischen Speisehause, und was dem Tische zur vollkommenen englischen Verfassung fehlt, ist gerade das, was ihm am meisten zur Empfehlung gereicht. Er hat nämlich keine magna Charta, wie die französischen Restaurationen, wo die Charte payante unmäßig groß ist. Der deutsche Jüngling glühte und zum Boxkampfe ballte sich unwillkürlich seine Faust. „Freund!“ sagte ich, „wir wollen uns heute nicht zanken, wie neulich beim Essen. Zwar bin ich selbst voller Mut, denn so ein Roastbeef ist ein wahrer Radikalreformer einer fehlerhaften Konstitution; Sie aber haben eine von der Natur oktroyierte, angeborne, alte Konstitution, und das hat doch gleich ein anderes Ansehen. Also Friede!“... Aber um uns herum war Kriegsgetöse. Die Gäste, wenige Engländer und viele Franzosen, lärmten, schrien, lachten, schlugen mit Messern und Gabeln auf den Tisch und klirrten mit den Gläsern. Die Sache ist auffallend und muß erklärt werden. In den Pariser Speisehäusern betragen sich die Franzosen so ruhig und bescheiden, als wären sie bei Privatpersonen zu Gaste. Diese englische Restauration aber ist neu, erst seit kurzem entstanden, die Speiseordnung weicht von der französischen ganz ab, und da zeigte sich denn wieder die französische Nationalität. Nach Verhältnis des kleinern Schauplatzes betrugen sie sich ebenso übermütig, als im vorigen Jahre, da die englischen Schauspieler in Paris auftraten. Sie machten sich über alles lustig, sie riefen: „Brott!“ womit sie auf englisch Brot ausdrücken wollten. An einem der Tische saß eine kleine wilde Schar. Der eine machte sich sein Gemüse mit Zucker, der andere mit Salz zurecht. Sie stritten, welches besser schmecke. Ein dritter sollte entscheiden und wurde aufgefordert, dieses mit Unparteilichkeit zu tun. „Seid ruhig,“ sagte er – „je les mangerai avec impartialité.“ Großes Gelächter, obzwar jeder wußte, daß dieses Witzwort aus einem französischen Vaudeville genommen. Es ist ein altes Stück, dessen ganze Handlung darin besteht, daß man um die Vorzüge zweier Hühner aus zwei verschiedenen französischen Provinzen sich streitet. Dort auch wird der Schiedsrichter zu strengem Rechte ermahnt, worauf er sagt: „Je les mangerai avec impartialité.“ Daß sich die Franzosen, wie erzählt, unartig betragen, muß man, bei dieser wie bei jeder andern Gelegenheit, nicht ärger nehmen, als es ist. Der Franzose ist nicht bloß zu höflich, sondern auch zu gutmütig, sich zu äußern, wenn ihm an einer einzelnen Person etwas lächerlich erscheint. Er ist aber in seinen Nationalsitten so verwachsen, daß, wenn er fremden Sitten und Gebräuchen in Masse begegnet, er auf einer Maskerade zu sein glaubt, und dann läßt er sich verleiten, sich Maskenstreiche herauszunehmen.

Die Deutschen, welche nach Paris kommen, werden gewiß das englische Speisehaus besuchen, es ist der einzige Ort in Frankreich, wo man deutsche Gründlichkeit findet. Das Haus liegt in der Rue Colbert, nahe bei der königlichen Bibliothek.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schilderungen aus Paris.