Einundzwanzigstes Capitel. - Gretrys Herz. - Gretry starb am 24. September 1813 in der Eremitage und wurde, seiner testamentarischen Verfügung gemäß, in Paris auf dem Kirchhofe des Père Lachaise begraben....

XXI. Gretrys Herz

›Deutsche Advokaten – – – Wenn man Gefühl hat oder das erste Kind in der Wiege liegt, gelingt es selten, den Faden einer vernünftigen Betrachtung ohne Riß abzuspinnen; hat man aber beides zugleich, wird die Feder gar mitten im Satze aufgehalten, und das verdrießliche Punktum harrt ungeduldig auf die Zögernde. Wie das Bübchen schreit und weint und zappelt! Du plauderndes Rätsel, ich verstehe dich doch nicht – wer sagt mir dein Wort? Du süßer, gärender Most, welchen Wein wirst du mir bringen? Wirst du glücklich sein und machen? Wird dein Herz unter warmem blauen Himmel herrlich blühen, bis es die rasche Hand des Schicksals bricht oder der Herbst sanft entblättert; oder wird es im kalten Norden erstarren, daß der Tod nichts mehr zu töten findet? Wird dein Geist auf dem stürmischen Meere der Wahrheit kühn nach unentdeckten Inseln schiffen oder auf dem Wochenmarkte des Lebens kaufen und verkaufen, bis der Sarg die Rechnung schließt? Wirst du der zarten Bitte weich entgegenkommen oder fliehen vor der bettelnden Verzweiflung und ein Bösewicht werden? Wirst du das Schwert führen mit tapferer Hand, das Wort mit kühner Zunge? Oder wirst du flink der Gewalt ausweichen und schmeichelnd den Übermut entwaffnen? Wirst du ein Lehrer der Weisheit werden, wirst du Unglückliche trösten durch Gottes Wort oder Kranke heilen durch die Kräfte der Natur? Alles was der Himmel will! – nur daß er eines nicht wolle! Wüßte ich, Junge, du würdest einst Advokat, mit diesen meinen Händen würde ich dich erwürgen und deiner verzweifelnden Mutter keine Silbe des Trostes geben und ihr zuschreien: Schweig, törichtes Weib, oder entferne dich mit deinem Jammer! Sparta, nur das Vaterland seiner Kinder, hat schon die getötet, die mit verkrüppelten Körpern geboren, und ich, der leibliche Vater meines Sohnes, sollte seine verkrüppelte Seele aufkommen lassen? Soll ich dieses blühende Leben hinabsteigen sehen in die Bleibergwerke giftiger Hantierung und dem Grabe zuschleichen mit ausgetrockneten Adern, oder das Herz, aufgedunsen von geiler Geldliebe, einen breiten Sarg ausfüllen? Soll sich unser Sohn mästen mit dem Schweiße der Not und seinen Durst löschen mit den Tränen der Witwen und Waisen? Soll er ein kalter Schachspieler sein, gleichgültig, ob er mit den weißen oder den schwarzen Steinen gewinne? Soll er das geschriebene Recht des Wucherers in Schutz nehmen gegen das verwischte Notrecht des Leichtgesinnten? Soll er ein Kuppler sein jeder lüsternen Habsucht und der Verführer schwacher Richter? Soll er im Dickicht verstrüppter Gesetze auf sorglose Wanderer lauern? Soll er, werde er auch der Besten einer, wie ein Zergliederer unter Gebeinen und faulen Eingeweiden verwester Rechte leben? Nein; lieber ziehe ich diese junge Wurzel aus der lockern Erde! ... Doch wie? Hast du nicht noch eine lange Zukunft vor dir? Wird nicht die Zeit größer werden und mit dir das Vaterland wachsen? Ja, du sollst Advokat werden! ... Der Schelm ist eingeschlafen unter meinen Reden. Ich glücklicher Vater! Er hat schon Geschmack und gibt mir Ruhe, meinen Satz zu endigen.‹


Deutsche Advokaten, Notare, Gerichtspräsidenten und Räte, Gerichtssekretäre und Pedelle haben schon manche Versieglung mit Vergnügen veranstaltet; aber die eines bürgerlichen toten Herzens ist ihnen sicher noch nicht vorgekommen. Sie überlassen mit Recht dergleichen romantische Streiche der Jugend und den deutschen Calderonen. Ich aber habe eine solche Versieglung mit angesehen, und sie hat mich gerührt. Die Eremitage in der Nähe von Paris, früher von Rousseau bewohnt (ihm war die ganze Welt eine), kam später in den Besitz des berühmten Tondichters Gretry. Er lebte viele Jahre und starb daselbst. Im Garten liegt sein Herz unter einer gestutzten Marmorsäule begraben, die seine Büste trägt und die Inschrift: Grétry! ton génie est partout, mais ton cœur n'est qu'ici. Das mais ist sehr schafig; die Franzosen können keine Grabschrift machen, sie verstehen das Leben, aber nicht den Tod, und jenes nur, so viel man es ohne diesen begreifen kann. Am 17. Mai kamen abends drei Gerichtspersonen aus Paris, mit schweren Akten unter den Armen, und traten mit amtlichen Schritten und Mienen in den Garten der Eremitage. Es dämmerte schon – und es war eine süße Maidämmerung – aber weder dieses noch der Gesang der nahe nistenden Philomele konnte die Priester der nachtwandelnden Themis irre machen. Sie zogen juristische Bänder aus der Tasche, umschlangen damit Gretrys Grabsäule, knüpften sie an das umherlaufende Geländer fest, träufeln grünes Wachs auf die erforderlichen Stellen und siegelten gehörig. Es war dieses der letzte Akt eines romantischen Prozeßdramas, von dem ich nur eine leichte Federzeichnung zu geben brauche; denn, erzähle ich juristischen Lesern, daß sich die Prozeßkosten auf zehntausend Franken belaufen, so wird das ihrer Einbildungskraft Farben genug mischen, daß sie sich meine Zeichnung selbst werden ausmalen können.

Gretry starb am 24. September 1813 in der Eremitage und wurde, seiner testamentarischen Verfügung gemäß, in Paris auf dem Kirchhofe des Père Lachaise begraben. Vor dessen Beerdigung machte Herr Flammand, der Gemahl einer Nichte Gretrys, als Familienhaupt, Traueranführer und Mann von Gefühl, den Antrag, man solle das Herz des Verstorbenen herausnehmen und einbalsamieren; aber einige Glieder der Familie widersetzten sich dem. Die Leiche wurde in ein vorläufiges Grab gesenkt, bis das Gewölbe, daß sie aufnehmen sollte, vollendet sein werde. Nach zwei Monaten, als dieses Gewölbe fertig war, wurde Gretrys Leiche wieder ausgegraben. Diesen Umstand benutzte Herr Flammand und ließ das Herz im geheim, damit es die übrigen Glieder der Familie nicht erfahren, jedoch mit Bewilligung der Polizei, herausnehmen, einbalsamieren und in eine zinnerne Büchse legen, die er in Verwahrung nahm. Darauf schrieb er der Stadt Lüttich, Gretry habe bei seinem Leben den Wunsch geäußert, daß sein Herz in seinem Geburtsorte ruhen möchte, und dieses Wunsches gedenkend, sei er bereit, das Herz auszuliefern. Der Maire jener Stadt schrieb zurück: Er nehme das Geschenk an, und man solle es ihm durch den nächsten Postwagen schicken. Er soll auch hinzugefügt haben, er erwarte das Herz portofrei; indessen wird dieses komischen ökonomischen Verhältnisses in den Prozeßakten nicht gedacht. Der Lütticher Maire glich in diesem Verfahren den edelsten der alten Römer, die dem Dienste des Vaterlandes jede Empfindung aufopfern. Aber das heiße Gefühl des Herrn Flammand zischte auf und dampfte, als der kalte, prosaische, kanzleistilistische Brief sich darüber hergoß; er beantwortete ihn nicht und behielt das Herz. Noch andere eingetretene Umstände hatten seinen frühern Entschluß abgeändert. Erstens hatte er unterdessen die Eremitage an sich gekauft, zu welcher Erwerbung früher keine Hoffnung war: das war also der angemessenste Platz für Gretrys Herz. Zweitens war Lüttich von Frankreich abgerissen worden und an das Königreich der Niederlande gekommen. Herr Flammand dachte mit Recht, der Pariser Friede sei hart genug, und er wolle nicht la France auch noch des kostbaren Überrestes eines seiner großen Männer berauben. Er ließ also im Garten der Eremitage ein Denkmal setzen, worunter das Herz gelegt werden sollte. Ehe dieses ausgeführt werden konnte, kamen die verbündeten Heere zum zweiten Male nach Paris und breiteten sich in der Umgebung aus. Herr Flammand flüchtete sich und sein Herz vom flachen offenen Lande in die sichere Stadt, wo der Palais Royal auch Baschkiren zähmt. Da wurde ihm nach einiger Zeit gemeldet, die deutschen Truppen, die in der Gegend von Montmorency lagerten, hätten die Eremitage aus Ehrfurcht vor dem Genius eines großen Mannes mit Schonung behandelt und gegen jede Zerstörung bewacht und geschützt. Er eilte froh mit seinem Herzen hinaus und traf zwei junge preußische Offiziere knieend vor Gretrys Grabmal liegen. So erzählt er; ich glaub es aber nicht. Eher haben wohl jene edeln Jünglinge vor Rousseaus Denkmal gekniet, das sich, von der Epinai eitelen Sorgfalt aufgestellt, im nämlichen Garten befindet. Endlich am 15. Juli 1816 wurde Gretrys Herz mit großen Feierlichkeiten in der Eremitage beigesetzt.

Die Stadt Lüttich schien ihre alten Ansprüche aufgegeben zu haben und ließ sich mehrere Jahre nicht weiter vernehmen. Erst im Jahre 1820 brachte sie die Sache wieder in Anregung und forderte von Herrn Flammand das Herz. Dieser beantwortete den Brief nicht. Darauf schlug der Bürgermeister von Lüttich einen schlauern Weg ein. Er beauftragte nämlich eine Demoiselle Keppenn, Modehändlerin, die in eigenen Geschäften von Lüttich nach Paris reiste, dem Herrn Flammand auf diese oder jene Art sein Herz zu entreißen. Demoiselle Keppenn, in solchen Eroberungen geübt, übernahm gern den Auftrag. Aber die zuversichtliche Modehändlerin verkannte den Geist der Zeit, ob sie zwar die Zeit, als ihre Ware, genau kennen sollte. Sie bedachte nicht, daß Herr Flammand über die Jahre der Jugend hinaus sei, und als sie nun mit ihren Absichten und Reizen vorrückte, wurde sie zurückgeschlagen. Da nahm sie zu den alten beliebten Intrigen ihre Zuflucht und war dabei glücklicher. Es gelang ihr nämlich, die Gretrysche Familie zu entzweien, und sie wußte sich von einigen Gliedern dieser Familie die schriftliche Erklärung zu verschaffen, daß es ihr Wunsch und Wille sei, daß Gretrys Herz nach Lüttich geschickt werde. Darauf verklagte die Stadt Lüttich den Herrn Flammand bei den französischen Gerichten und verlor den Prozeß in der ersten Instanz. Sie appellierte und gewann ihn definitiv. Zwar hatte sich jetzt Herr Flammand an das Kassationsgericht gewendet, doch ist zu einem veränderten Urteile keine Hoffnung. Die Form ist gegen ihn, und die Seele des Rechtes folgt, wie jede, ihrem Körper nach – welches freilich traurig genug ist.

Glücklich diejenigen, deren Herz erst nach dem Tode beunruhigt wird, gleich dem des guten Gretry! Dieses hatte vor zehn Jahren aufgehört zu schlagen; zwei Monate lag es in Paris begraben, in seinem Körper; dann wurde der Körper und ihm das Herz herausgezogen; dann machte es einige Jahre oft den Weg von Paris nach Montmorency und zurück, und jetzt, nachdem es sieben Jahre in der Eremitage gelegen, muß es seine Ruhestätte verlassen, um nach den Niederlanden zu wandern. Was geschieht aber mit der Grabsäule im Garten? Sie kann bleiben, und man hat nur die Worte: Ton cœur n'est qu'ici, in die: Ton cœur ne fut qu'ici, umzuwandeln. Es wäre dieses nicht das erste Beispiel einer konjugierten Grabschrift, welche Art zu konjugieren etwas Angenehmes hat, weil sie Leben in den Tod bringt. Auf Rousseaus Grabmal in Ermenonville standen die Worte: Ici repose l'homme del la nature et de la vérité; nachdem aber während der französischen Revolution Rousseaus Gebeine nach Paris gebracht worden, änderte man in jener Inschrift das Wort repose in reposa. Herr Flammand ist übrigens willens, Gretrys Grabschrift in der zweiten Auflage nicht bloß zu verbessern, sondern auch zu vermehren und dabei einige Ironie gegen die französischen Richter anzuwenden, welche la France des Herzens beraubt haben. Gute deutsche Lapidarstilisten werden ersucht, mir darüber ihre ästhetischen Vorschläge zu machen, da ich nicht ohne Einfluß auf die Sache bin.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schilderungen aus Paris.