Die Stellung Finnlands innerhalb des russischen Reiches

Aus dem Gesagten dürfen wir folgern, dass die Stellung Finnlands innerhalb des russischen Reiches als die einer Provinz formuliert und diese Formulierung rein auf allgemein staatsrechtlicher Basis erwachsen war. Folglich hat auch nur die allgemeine Staatsgewalt die Befugnis, zu bestimmen, wie weit sich die Macht der Behörden und der lokalen Institutionen Finnlands erstreckt.

Diese Prinzipien, die bei der Aufnahme des Großfürstentums in das russische Reich die Grundlage für die Stellung des ersteren bildeten und die ihre Wirkungen ein ganzes Jahrhundert hindurch geäußert haben, wurden durch das Manifest vom 3. Februar 1899 im Bewusstsein des Volkes zu neuem Leben erweckt. Dieses Manifest statuiert ein für allemal die vom Standpunkte des allgemeinen Staatsrechts aus untergeordnete Stellung des Großfürstentums. In demselben Sinne sind auch Allerhöchste Kundgebungen aus älterer Zeit abgefasst. Es seien davon genannt:


1) Aus der Regierungszeit Nikolaus I. die Allerhöchste Verfügung vom Jahre 1827, durch welche der Kaiser Kraft seiner Souveränität, d. h. als Selbstherrscher, nicht als konstitutioneller Fürst, den finnländischen Bürgern griechisch-katholischen Glaubens das Recht verleiht, in Finnland in den Zivil- und Militärdienst zu treten.

2) Aus der Zeit der liberalen Regierung Alexander II. der Allerhöchste Befehl vom Jahre 1864 über die Vereinigung eines Teiles von Finnland mit dem Reiche.

3) Aus der Zeit Alexander III. das Manifest vom Jahre 1892 über die Verschmelzung der finnländischen Postressorts mit der Reichspost, Abänderungen der finnländischen Senatsinstitutionen u. s. w.

In diesen Ausführungen gipfelt die Ansicht der russischen Regierung. Die finnländischen Juristen und Schriftsteller ihrerseits können aber bekanntlich zu keiner Einigung über die Frage kommen, welche Stellung Finnland als politisch-staatlicher Organismus einnimmt. Bald bezeichnen sie Finnland als Staat, der sich mit Russland in einer Personalunion befinde, bald wird dieses Verhältnis Realunion genannt. Einige betrachten das Großfürstentum als Fragment eines Staates. Wieder andere meinen, dass man nur von einem zusammengesetzten Staate reden könne u. s. w. Angesichts dieses Durcheinanders und dieser Unklarheit kommt der Meinung der russischen Regierung eine um so größere Bedeutung zu, als sie allein die staatsrechtliche Stellung Finnlands regelt und allein die Kompetenz besitzt, die Urkunden, die für die Lösung dieser Fragen entscheidend sind, zu bestimmen und zu erläutern. Es existiert kein Gerichtshof und es kann auch keinen geben, der berechtigt wäre, über die souveränen Rechte Russlands abzuurteilen, auch nicht in der finnländischen Frage. Auch wird kein, seiner Pflicht bewusster Staatsmann Russlands bei dem historischen Material, auf das er sich stützen kann, sich vor der öffentlichen Meinung des Auslandes beugen; denn sie wird von gar zu vielen Leuten gemacht, denen die Befähigung, die staatliche Einheitsidee Russlands zu verstehen, vollständig abgesprochen werden muss.

Wie die willkürliche Auslegung willkürlich herbeigezogener historischer Dokumente durch unberufene finnländische Juristen den ersten Anstoß zu dem russisch-finnländischen Konflikt gegeben hat, so macht sich auch im weiteren Verlaufe dieses Streites die grundfalsche Anschauungsweise der finnländischen „Separatisten“ bemerkbar.

Die Vereinigung des Großfürstentums mit Russland rief neue Verordnungen ins Leben, für die die Entwürfe bei den Zentralbehörden in Petersburg ausgearbeitet wurden. Auf diese Weise entstanden auch der Posten des finnländischen Generalgouverneurs und der kaiserlich-finnländische Senat. Über Bedeutung und Kompetenz dieser Institutionen muss man sich aus den Urkunden über ihre Gründung unterrichten. Aus diesen Urkunden ist zu ersehen, dass diese Institution neuen Verhältnissen in der politischen Existenz des einverleibten Großfürstentums entsprachen. Die finnländischen Juristen wollen aber die Bedeutung der neuen Institutionen nicht aus deren Gründungsurkunden verstehen. Vielmehr suchen sie nach analogen Staatseinrichtungen, wie sie in Schweden während der Zugehörigkeit Finnlands zu diesem Reiche bestanden. Bei diesem Streite lassen sie gänzlich aus dem Auge, dass die Vereinigung des Großfürstentums mit Russland völlig neue Verhältnisse geschaffen hat. Was würde wohl die französische Regierung sagen, wenn z. B. die nördlichen Departements Frankreichs, die einst der englischen Krone Untertan waren und sich durch eine äußerst konservative Denkungsart auszeichnen, sich plötzlich aus Partikularismus herausnähmen, zu untersuchen, in wieweit die Verfügungen der französischen Republik im Einklang stehen mit der früheren Stellung dieser Departements im britischen Reiche? Ein solcher Fall ist in Frankreich undenkbar, weil sein Norden nicht von einer Bevölkerung englischer Herkunft bewohnt wird. Leider lebt in Finnland, und hauptsächlich unter den gebildeten Ständen, ein starkes Kontingent Leute, die ihre schwedische Abstammung nicht vergessen können und die auch einen Teil des ihnen Jahrhunderte lang untergebenen finnischen Volkes in diesen Anschauungen erzogen haben. Und doch hat Finnland gerade unter dem Schutze des russischen Adlers enorme kulturelle Fortschritte aufzuweisen.

Der Posten eines Generalgouverneurs war die erste Neuerung, die die russische Staatsgewalt in Finnland auf administrativem Gebiete geschaffen hat. Diese erste Maßregel der souveränen Macht Russlands in dem neu einverleibten Gebiete ist eine direkte und ganz augenfällige Verletzung der „schwedischen“ Konstitution. Mit andern Worten, die schwedische Konstitution als solche, als Ganzes, als Verfassungsform für Finnland, hat nicht die Anerkennung der russischen Regierung gefunden. Wenn überhaupt, so wären damals Proteste und „Massenadressen“ zur Verteidigung der Konstitution in Finnland am Platze gewesen. Allein, es ist kein Protest erfolgt; und das Amt eines finnländischen Generalgouverneurs besteht nun schon ununterbrochen ein ganzes Jahrhundert hindurch. Und doch verbietet § 33 der Verfassung vom Jahre 1772, welche von den finnländischen Rechtsgelehrten zum Fundamentalgesetze für die finnländischen Staatseinrichtungen erhoben wird, ganz ausdrücklich die Ernennung eines Generalgouverneurs. Er lässt dieselbe nur für Ausnahmefälle zu und auch dann nur auf eine ganz bestimmte Zeit. Dieses Verbot entsprang der Auffassung, dass das Land, nach dem Geiste der Konstitution, durch die Einsetzung eines Generalgouverneurs in eine ganz besondere Abhängigkeit von dem Souverän gerate. Die widerspruchslos erfolgte Ernennung eines Generalgouverneurs zeigt deutlicher als sonst irgend etwas, dass das Großfürstentum in der untergeordneten Stellung einer Provinz in das russische Reich überging, wenn auch mit besonderen Vorbehalten bezüglich der inneren Verwaltung.

Der Generalgouverneur tritt als erster Vorkämpfer, als erster Vertreter russischer Staatsprinzipien im Lande auf. Er ist die oberste Instanz der ganzen Zivilverwaltung des Großfürstentums und Oberbefehlshaber der dort garnisonierenden Truppen. Dieser oberste Würdenträger präsidiert dem finnländischen Staate und damit zugleich der höchsten staatlichen Körperschaft Finnlands. Markanter konnte die untergeordnete Stellung des Großfürstentums bei seinem Übergange an Russland unmöglich betont werden.

Schon um die Mitte des XIX. Jahrhunderts, als der finnländische Separatismus sich zum ersten Male anfing zu regen, wurde den finnländischen Rechtsgelehrten klar, dass die Lage, die durch die Ernennung des Generalgouverneurs geschaffen war, der Ausführung ihrer Ideen äußerst hinderlich sei. Es wurden deshalb einerseits Versuche gemacht, den Generalgouverneur seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Senats zu berauben oder wenigstens seinen Einfluss auf den Gang der Verhandlungen dieser Körperschaft faktisch einzuschränken. Andererseits geben sich die finnländischen Juristen von der Art des H. Mechelin alle erdenkliche Mühe, den Generalgouverneur als rein finnländischen Beamten hinzustellen, womit sie natürlich bezwecken, die Bedeutung seines Amtes als eines Organs der russischen Regierung herabzusetzen. Bei diesem Beginnen fürchten die Herren nicht einmal, mit den „durch die Jahrhunderte geheiligten Traditionen ihrer konstitutionellen Verfassung“ in Konflikt zu geraten!

Die zweite Kundgebung des souveränen Willens des Selbstherrschers war die Errichtung einer obersten lokalen Regierungsinstitution. Wollte man die Lehren der finnländischen Rechtsdeutler vom staatlichen Charakter der Sonderstellung Finnlands für bare Münze nehmen, so müsste man zu dem Schlüsse gelangen, dass diese neu eingesetzte Behörde mit den höchsten politischen Machtbefugnissen ausgerüstet worden sei. Es zeigt sich aber, dass der Schöpfer der staatlichen Organisation Finnlands, als welcher Alexander I. von den Finnländern betrachtet wird, an die Spitze des Landes nur eine oberste Zentral -Verwaltungsbehörde gestellt hat, die sich ebenfalls in unmittelbarer und persönlicher Abhängigkeit von dem Selbstherrscher befindet. Laut Reglement des Regierungs-Conseils vom 6. August 1809 ist „le Conseil de Régence“ nichts anderes als „une administration générale, un point central pour les administrations provinciales“. Folglich hatten auch in diesem Falle die Schöpfer des Conseils, so sehr sie wünschten, die lokale Verwaltung den Volkstraditionen anzupassen, es für nötig befunden, sie mit den Veränderungen, wie sie durch die Einverleibung des Großfürstentums hervorgerufen worden waren, in Einklang zu bringen und eine oberste provinziale Behörde zu schaffen. Sie wurde mit derselben Kompetenz ausgestattet, wie sie der Herrscher dem Conseil verliehen hatte. Das wurde noch besonders betont, als sieben Jahre später die oberste lokale Behörde des Großfürstentums in „Kaiserlicher Senat“ umbenannt wurde. In dem Allerhöchsten Manifeste darüber aus dem Jahre 1816 wird, wie in dem Manifeste über die Einverleibung, unter Neubestätigung der Konstitution, die Verwaltung des „Landes“ (nicht „Staates“) eine „lokale“ genannt, d. h. eine den allgemeinen Verwaltungsorganen des Reiches untergeordnete. Alle „Finnland insbesondere berührenden“ Angelegenheiten werden unter den „inneren Angelegenheiten unseres Reiches“ angeführt. Die Gründung des Senats wird, wie noch besonders zu erwähnen ist, von den finnländischen Juristen selbst als Ursache für das Außerkrafttreten einer ganzen Reihe von Paragraphen der Grundgesetze angesehen. Streitig ist bloß die Frage, um welche Paragraphen es sich dabei handelt. Diese Paragraphen der (nach Ansicht der finnländischen Juristen) „für alle Zeiten bestätigten Konstitutionen“ wären also von demselben Herrscher, welcher diese Konstitutionen bestätigt habe, annulliert oder abgerundet worden, ohne dass dieses Faktums Erwähnung getan worden wäre?! Überhaupt ist es diesen schwedischen Konstitutionen und Grundgesetzen, die man so gern als „finnländische“ bezeichnet, seit der Einverleibung des Großfürstentums in das russische Reich ganz merkwürdig ergangen: Die finnländischen Juristen können zu keiner Einigung darüber gelangen, welche gesetzgeberischen Akte und wie viel Paragraphen aus den Konstitutionen übrig geblieben und als noch gültig zu betrachten sind. Von den 66 Artikeln zweier Konstitutionen heben sich 10 gegenseitig auf, 14 verschwinden durch die Einverleibung Finnlands in Russland, 12 durch die Errichtung des finnländischen Senats. Die Landtagsordnung von 1869 beseitigte weitere 8 Paragraphen. Die Zahl der übrig gebliebenen Artikel wird bald mit 20, bald mit 11, bald mit 27 angegeben! Es kann als ein Glück für die finnländischen Juristen angesehen werden, dass die russische Regierung diese Akte nicht anerkennt, denn sonst kämen sie niemals dazu, Klarheit in ihre Zweifel zu bringen.

Die Gründung des Postens eines Generalgouverneurs und des Senats bestätigt also die Stellung des Großfürstentums im Reiche als einer Provinz, besonders wenn man die Bedeutung und Kompetenz dieser beiden Institutionen im Auge behält. Die finnländischen Juristen jedoch halten es, um ihre Wünsche nach einer sonderstaatlichen Existenz zu begründen, nicht für nötig, die Bedeutung dieser neu eingerichteten Institutionen aus deren Gründungsakten zu erklären. Wenn sie auch bereit sind, den Generalgouverneur trotz der „schwedischen“ Konstitution anzuerkennen, so suchen sie doch für die Stellung und Kompetenzen des „lokalen“, provinziellen Senats nach Analogien bei entsprechenden staatlichen Einrichtungen Schwedens, wo diese Institutionen mit politischen Machtbefugnissen ausgestattet waren. Ein solches Bestreben, staatsrechtliche Begriffe aus der schwedischen Zeit auf das heutige Finnland zu übertragen, was unbedingt zu einem Konflikt mit den staatsrechtlichen Anschauungen Russlands führen musste, machte sich schon zur Regierungszeit Alexanders II. bemerkbar. Im Jahre 1867 wird nämlich durch ein besonderes Reskript an den Generalgouverneur ausdrücklich erklärt, dass „niemals und durch kein Gesetz dem Senat die Stellung und die Machtbefugnisse des schwedischen Reichsrates beigemessen worden sind“. Die geschilderten Bestrebungen hörten aber nicht auf. Ja, bis in die neueste Zeit hinein wurden die staatlichen Einrichtungen Finnlands immer wieder an ähnlichen in Schweden gemessen, und die Kompetenz des Senats, unabhängig von den Machtbefugnissen des Generalgouverneurs, als weiterreichend darzustellen versucht.

Aus all diesen Gründen kam es durch den Allerhöchsten Befehl vom 26. August 1902 zu der jüngsten Revision und Abänderung der Statuten über den Senat. Von neuem sollten im öffentlichen Bewusstsein die Staatsprinzipien geweckt werden, die bei der Einverleibung Finnlands in Russland zur Gründung des Amtes eines Generalgouverneurs und des Senats geführt hatten. Das Amt des Generalgouverneurs, dieses Repräsentanten des russischen Staatsprinzips, wurde zum Grundstein der gesamten Verwaltung des Großfürstentums gemacht, muss also als maßgebend für die Gestaltung derselben gelten. Der Generalgouverneur ist die einzige politische Macht in dem Lande, die Macht, welche der lokalen Regierungspolitik die Richtung angibt. Er wird in der Ausübung seiner Funktionen von einer administrativen Zentralbehörde, dem Kaiserlichen Senate Finnlands, unterstützt.

Das Amt des Generalgouverneurs und sein Verhältnis zu dem lokalen Senat ist aber nicht das einzige Merkmal für die staatliche Vereinigung Finnlands mit Russland. Es sind auch die Hauptpunkte der „schwedischen“ Konstitution, wenn man ihre Gültigkeit für Finnland überhaupt anerkennt, durch die bloße Einverleibung des Großfürstentums aufgehoben worden, was selbst von den Verteidigern der staatlichen Selbständigkeit Finnlands zugegeben wird. So ist z. B. der deutsche Gelehrte Konrad Bornhak der Ansicht, dass mit dem Eindringen des russischen Staatsrechts in die Sphäre des lokalen nach der Einverleibung Finnlands eo ipso die Artikel seines lokalen Rechts wegfielen. Infolgedessen haben auch die Grundgesetze des russischen Staatsrechts z. B. von der Religionszugehörigkeit des Herrschers, von der Thronfolge, von der Regentschaft im Großfürstentum Geltung. Die Einheit der staatlichen Gewalt bezüglich der äußeren Politik und den militärischen Angelegenheilen beruht ebenfalls darauf, dass die russischen Staatsprinzipien für das ganze, untrennbare Reich mit Einschluss Finnlands gelten. Auch fachmäßig gegliederte Staatseinrichtungen Russlands erstrecken ihre Wirkung auf Finnland und haben dort ihre Abzweigungen. Die russischen Erziehungsanstalten Finnlands gehören zum Ressort des staatlichen Ministeriums der Volksaufklärung und werden nach den Grundsätzen der Unterrichtsanstalten und gelehrten Institute Russlands geleitet. Die in Finnland garnisonierenden Truppen sind dem Kriegsminister unterstellt. Das Finanzministerium sowohl wie die Wohltätigkeitsanstalten der Kaiserin Maria sind im Großfürstentum vertreten. Die Verwaltung des Postwesens in Finnland liegt in den Händen des Ministeriums des Innern. Die rechtgläubigen Kirchen Finnlands gehören zur Kompetenz des h. Synods, während die römisch-katholischen der Mohileffschen Archipatriarchie zugewiesen sind. Ihre Tätigkeit wird durch die Bestimmungen des russischen Gesetzbuches geregelt. Die in Finnland diensttuenden Gensdarmen gehören zum russischen Gensdarmenkorps. Die Leitung aller dieser Ressortabteilungen liegt bei den russischen Ministerien in Petersburg und bei den Hauptverwaltungen.

Alle diese Institutionen bestehen in Finnland kraft der Verhältnisse und als Folge der Wirksamkeit des russischen Staatsprinzips. Weder ist die Genehmigung des Landtages dazu eingeholt, noch sind die Grenzen bestimmt worden, wo die allgemeinstaatlichen Prinzipien aufhören und die lokalen beginnen. Die hier entwickelten Tatsachen geben uns das Recht zu behaupten, dass das russische Staatsprinzip sowohl im Laufe des letzten Jahrhunderts als auch jetzt als maßgebend angesehen werden muss. Wenn jedoch die Lokalpatrioten, die die Leitung der Angelegenheiten des Landes an sich gerissen haben, das Großfürstentum und das Reich nicht als einen untrennbaren Staat anerkennen wollen, so lässt sich das aus dem Umstände erklären, dass im vorigen Jahrhundert, während Russland akute Fragen seines politischen Lebens zu lösen hatte, in Finnland die lokale Politik und Gesetzgebung von Leuten bestimmt wurden, denen eine allgemeine Staatsidee vollkommen fremd war. Finnlands politische Richtung und seine Stellung als Glied eines einheitlichen und unteilbaren Staates forderten das aktive und unmittelbare Eingreifen des Monarchen in die Geschäfte der lokalen Verwaltung, wenn sie im Geiste einer einheitlichen Staatsidee geführt werden sollten. Allein die nächsten Ratgeber des Kaisers in finnländischen Angelegenheiten, d. h. die Finnländer selbst standen unter dem Einflüsse eingeborener Juristen, welche unter Berufung auf Traditionen aus einer früheren Epoche, vor der Einverleibung, für Finnland eine staatliche Sonderstellung verlangten. Sie wollten demgemäss auch nichts davon wissen, dass der Monarch, dieser Vertreter des allgemeinen Staatsprinzips, in die lokale Verwaltung eingreife. Sie waren es, die somit einer Wiedergeburt schwedischer Staatsprinzipien die Wege ebneten. Die Weigerung Finnlands, die von der russischen Regierung geforderte Verschmelzung der militärischen Organisation zu vollziehen, und die Haltung der intelligenten Kreise der eingeborenen Bevölkerung zur Frage einer einheitlichen Reichsgesetzgebung (Manifest vom Jahre 1899) öffneten der russischen Regierung die Augen. War der deutsche Gelehrte Jellinek bei seinen Untersuchungen über die finnländische Frage, nach finnländischen Quellen, zu dem Schlüsse gekommen, dass das Verhältnis zwischen Reich und Großfürstentum entweder zu einer Einverleibung Finnlands oder zur vollständigen Befreiung der Provinz von der Reichsgewalt führen müsse, so sah Russland, dass der Einfluss der schwedischen Traditionen der letzteren Alternative zum Siege verhelfen müsse.

Die finnländische Frage lässt sich im heutigen Stadium ihrer Entwicklung als Kampf zwischen der russischen Staatsidee mit den Traditionen, die das Land aus schwedischer Zeit herübergenommen hat, auffassen. Diese Traditionen geben einem kleinen Häuflein Russland feindlich gesinnter Leute Macht und Einfluss im Lande. Die Regierungsgewalt Russlands tut also weiter nichts, als dass sie die schwedomanen Elemente der intelligenten Klassen Finnlands, welche eine russische Staatsidee nicht anerkennen wollen, aus ihrer dominierenden Stellung im Lande verdrängt. Dabei ist der vordringenden russischen Staatsidee nicht nur jeder Gedanke an eine Bedrückung der finnischen Nationalität fremd, sondern, indem sie für die traditionelle russische Politik wirkt, erweckt sie sogar die finnischen Volkselemente zu neuem Leben. Alle Insinuationen ausländischer Publizisten, besonders des Herrn Leroy-Beaulieu (von dem man übrigens wohl mehr Sachkenntnis erwarten könnte), als ob Russland dem finnischen Volke die Existenzberechtigung, wenn auch nur eine staatliche, abspräche, entbehren jeder Begründung. Die Finnländer haben überhaupt noch keine selbständige Gestaltung für eine staatliche Organisation gefunden. Heute werden die Finnen mit einer ihnen künstlich eingeimpften Angst vor Russland in eine, aus schwedischer Zeit übernommene Staatsidee gehetzt. Aber auch aus dieser letzten Schlinge soll das finnische Volk befreit werden, auch diese Kette, womit der finnische Volksgeist Jahrhunderte hindurch gefesselt war, soll von ihm abgestreift werden. Russland bringt den Finnen Befreiung. Die schwedische Herrschaft dagegen baute sich auf Bedrückung der Finnländer und mancherlei anderen Ungerechtigkeiten auf. So wurden in früheren Jahren die Finnen in den schwedischen Schulen körperlichen Züchtigungen unterworfen, wenn sie finnisch sprachen. Noch vor 20 Jahren wurden die finnischen Familiennamen der Schüler aus dem Bauernstande in schwedische umgewandelt. Man verwehrte den Finnen den Eintritt in den höheren Staatsdienst, verhinderte die Gründung finnischer Schulen aus Staatsmitteln, bestrebte sich, jede selbständige Regung des Volksgeistes oder jede Annäherung an Russland zu unterdrücken. Obgleich die Finnen im Großfürstentum mit 2 Millionen gegen 300.000 Schweden eine erdrückende numerische Mehrheit darstellten, bekämpften die Schwedomanen jede Forderung nach Gleichstellung der finnischen und schwedischen Sprache ebenso, wie sie in dem Streite mit der russischen Macht verfahren. Sie beriefen sich dabei auf veraltete Konstitutionen und gesetzgebende Akte aus schwedischer Zeit. Im Jahre 1883 erklärten zwei dieser Schwedomanen, Senator Brunnow und der Prokurator des finnländischen Senats, Montgomery, dass die finnische Sprache im Prozessverfahren nicht zugelassen werden könne, weil die schwedische Prozessordnung vom Jahre 1734 bei Gerichtsverhandlungen den Gebrauch „ausländischer Sprachen“ nicht gestatte. Also vor 20 Jahren, gerade zur Blütezeit der schwedischen Herrschaft, wird die Sprache von 2 Millionen Einwohnern im eigenen Lande offiziell für ausländisch erklärt! Dieselben Argumente wurden ins Feld geführt, als im Jahre 1900 die russische Regierung forderte, dass bei einigen höheren Behörden russisch die Geschäftssprache werde. Wenn wir Russen uns aber bestreben, unsere Herrschaft im Großfürstentum zu befestigen, beschuldigt man uns eines Attentats auf die Kultur. Auch das ist nicht neu. Als man für die Finnen Gleichberechtigung verlangte, wurde diese Forderung ebenfalls „Kampf der Kultur mit der Barbarei“ genannt. Dieses Wort stammte von demselben Baron von Born, welcher als Beschützer der privilegierten Stellung der Schwedomanen auftrat und uns vorwarf, dass wir das Barbarentum verbreiteten. Heute freilich katzbuckelt er vor den Finnen und ist sogar bereit, seiner schwedischen Nationalität zu entsagen.

Wie wenig aber, verglichen mit dem Gebahren der schwedischen Partei, die russische Regierung einer Bedrückung des finnischen Volkes beschuldigt werden kann, ersieht man aus dem Erlass vom 19. Juli v. J. Durch diesen Erlass wird der finnischen Sprache als offizieller Schriftsprache volle Gleichberechtigung mit der schwedischen gewährt. Durch diesen Akt der Gnade wird die finnische Sprache zur herrschenden, da ja die finnische Bevölkerung numerisch überwiegt.

In der letzten Zeit wurde die Frage der Gleichberechtigung der beiden Sprachen durch die von den „Grundgesetzen“ und den „Konstitutionen“ ersetzt. Sie bilden noch den letzten Schutzwall der einstigen Macht der Schwedomanen. Leider sind die Finnen wehrlos in dem neuen Kampfe, weil sie noch keine eigene, nationale Form einer politischen Organisation gefunden haben. Die ungünstige Stellung, in der sich die Finnen in diesem Kampfe um ihre Existenz als Volkstum befinden, lässt erwarten, dass die russische Macht jetzt wie immer mit ihrem Vorgehen im Großfürstentum dem finnischen Volksgeiste eine kräftige Stütze sein wird. Der Kampf der russischen Herrschaft mit den politischen Prinzipien, die von Schweden her übernommen sind, wird dem schöpferischen Geiste der Finnländer auf politischem Gebiete helfend zur Seite stehen.

Übrigens bedeuten die Forderungen Russlands, dass die Kompetenzen der lokalen Institutionen beobachtet werden, nichts Neues. Schon Alexander I. stellte diese Forderung als er das Großfürstentum mit einer eigenen „existence politique“ begründete. Kategorisch verbietet der Vater des Landtages zu Borgo, Speranski, in seinem Briefe an den Landmarschall Baron de Geer, konstitutionelle Fragen zu behandeln. Die Debatten auf dem Landtage sollten sich auf die vier, ihm vorgelegten Themata beschränken. So schrieb Speranski ferner dem Generalgouverneur Barclay de Tolly, dass von dem Landtage „keine Beschlüsse, keine Dekrete, sondern bloß Meinungen“ verlangt würden. Offenbar war Alexander I. auch unzufrieden mit dem Verhalten des Landtages in der ihm gestellten Aufgabe ; denn während seiner Regierung wurde der Landtag nicht zum zweiten Male einberufen. Auch Nikolaus I. hielt es überhaupt nicht für nötig, die Dienste des Landtages in Anspruch zu nehmen. Alexander II. berief zwar die Deputierten im Jahre 1863, aber bei der Schließung dieses zweiten Landtages verhehlte er in der Thronrede nicht sein Missfallen über einige Teile der Debatte; denn dieselben zeigten zur Evidenz, dass sich die Abgeordneten von der Stellung des Großfürstentums zum Reiche vollkommen falsche Anschauungen gebildet hätten. In der Thronrede heißt es u. a.: „Zu meinem Leidwesen haben einige Teile der Debatten auf dem Landtage Anlass zu Missverständnissen über das Verhältnis des Großfürstentums zum Reiche gegeben. Russland eröffnet den Bewohnern Finnlands ein weites und freies Gebiet für Handel und Gewerbe. Das hochherzige russische Volk hat Euch schon mehr als einmal, wenn schwere Prüfungen Euch heimsuchten, Beweise seines brüderlichen Mitgefühls und tatkräftige Hülfe entgegengebracht. Ein klares Verständnis für den wahren Nutzen Finnlands muss Euch also zu einem engeren Anschluss an unser Reich treiben, nicht aber zu einer Entfremdung. Der engere Anschluss ist die feste Garantie für das Wohlergehen Eures Heimatlandes.“ In dieselbe Zeit fällt ein allerhöchstes Reskript an den Generalgouverneur des Inhalts, dass durch kein Gesetz der finnländische Senat dem Königlichen Conseil Schwedens gleichgestellt worden sei. Ebenso hat der Landtag auch die Frage aufgeworfen, dass die höchsten Staatsbehörden und der Senat ihm gegenüber verantwortlich seien. Er hat schließlich mit allen Mitteln danach gestrebt, die Finanzen unter seine Kontrolle zu bringen. Mit andern Worten, auch die liberale Regierung Alexander II. konnte die Vertreter der Landschaft nicht von einem Vorgehen abhalten, das auf dem letzten Landtage im Jahre 1900 mit den neuen Strömungen unserer Politik in Finnland erklärt werden sollte.

Unsere Ausführungen beweisen zur Genüge, dass die Regierung des Kaisers Nikolaus II. an der russischen Politik in der finnländischen Frage nichts geändert hat. Neu ist nur die Macht des staatlichen Selbstbewusstseins Russlands, welche nun den leitenden Staatsmännern die Aufgabe stellt, die staatlichen Prinzipien, die zur Zeit Alexanders I. und seines nächsten Gehilfen, Speranski, die Beziehungen des Reiches zum Großfürstentum regelten, zu neuem Leben zu erwecken. Durch die in diesem Jahre für Finnland publizierten Gesetze ist nunmehr der Weg fest vorgezeichnet. Eine größere Bestimmtheit und ein systematisches Vorgehen in allen Fragen, wo die Interessen des Staates in Betracht kommen, Fragen, die früher häufig nur zufällig die Aufmerksamkeit der russischen Gesetzgeber auf sich zogen und nicht immer die richtige Berücksichtigung fanden.

In der finnländischen Frage stehen auf russischer Seite sowohl Recht und Macht als auch Mitgefühl mit den enterbten Elementen des finnischen Volkes. Alles spricht für uns, für den schließlichen Sieg unserer Sache; denn wir sind die Vertreter der machtvollen Faktoren, denen unser Großes Reich, Finnland eingeschlossen, sein Dasein verdankt.

Patiens quia aeterna.

Sarmatus.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland und Finnland
Russischer Gutsherr und Bauern

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Bahnhof in Wiborg

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August Ahlquist (1826-1899), finnischer Sprachenforscher

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Aussicht vom Observatoriumsberg in Helsingfors

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Joh. Ludv. Runeberg (1804-1877), finnland-schwedischer Schriftsteller

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