Russland und Finnland

Vom russischen Standpunkte aus betrachtet
Autor: Sarmatus, Erscheinungsjahr: 1903
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Finnländische Frage, Russisches Reich, nationale Kulturen, Staatsidee, Fundamente des Staates, Bauernbefreiung, Nationalbewusstsein, Wiedergeburt des russischen Volkes, Weltmission
Hat man je einen konstitutionellen Staat gesehen, der im Moment seiner Gründung mit einem Generalgouverneur und einem Kaiserlichen Senat bedacht worden wäre?
Die finnländische Frage darf nicht für sich allein, losgerissen von der ganzen Entwicklung des russischen Reichs, betrachtet werden. Ihre Entstehung und ihr heutiges Stadium müssen vielmehr mit dem Erwachen des russischen Nationalbewusstseins und den Bemühungen, die russischen Staatsprinzipien zu befestigen, in Zusammenhang gebracht werden. Der Entwicklungsgang des russischen Staates im vorigen Jahrhundert, unter der Regierung von vier Kaisern, lässt sich in Kürze folgendermaßen charakterisieren:

Bis zu Alexander I. sehen wir die russischen Herrscher bald schüchtern, bald mit den Kraftmitteln eines Suworoff in den Gang der europäischen Politik eingreifen. Alexander I. verschaffte unserm Lande dann die ihm gebührende Stellung in dem Konzert der europäischen Mächte. Nikolaus I. war hauptsächlich mit dem inneren Ausbau des weiten Reiches beschäftigt, vergaß aber dabei niemals, dass die auf dem Gebiete der auswärtigen Politik errungenen Resultate weiter auszunutzen seien. Dem von seinem Vater gesteckten Ziele nachstrebend, ließ er die Befestigung der inneren politischen Fundamente des Staates seine Hauptsorge sein. Unter seiner Regierung entstanden die Grundgesetze des Staates und die zentralen Regierungsbehörden. Speziell die letzteren gewannen eine immer vollendetere und präzisere Form, da sie ja nunmehr im Gesetze eine feste Grundlage besaßen. Als conditio sine qua non einer jeden Institution, die richtig funktionieren soll, muss jedoch ein Bestand an geeigneten Arbeitskräften angesehen werden, der an seine Aufgabe mit Initiative und eigenem Denken herantritt. Solche tatkräftigen Leute gab es zwar in Russland unter Nikolaus I., aber ihre Zahl war noch zu gering. Es galt also, ihrer mehr heranzubilden. Um nun die selbständige Tätigkeit zur Entwicklung zu bringen und um in der Bevölkerung das Interesse für die Fragen des öffentlichen Lebens zu heben, wurde unter Alexander II. die Institution der Landschaften geschaffen, wurden die Gerichte reorganisiert und die Bauernbefreiung durchgeführt. Heute bedauern wir, dass wir diese sog. „freien Institutionen“ aus England herübergenommen haben. Denn England war ein Gemeinwesen mit rein kommerziellen Interessen, also gänzlich verschieden von dem Grundcharakter unseres Staates. England hat sich denn auch wohl gehütet, seine verfassungsrechtlichen Einrichtungen auf Indien oder gar auf Irland auszudehnen. Noch viel weniger war die Herübernahme dieser „freien Institutionen“ auf einen Staat wie Russland angebracht, der zum ersten Male eine enorme Zahl seiner Untertanen zur „selbständigen Arbeit“ berief und dessen Hauptaufgabe es war, alle Kräfte zusammenzufassen und seine militärische Macht zu befestigen.

Russland erwies sich für diese „freien Institutionen“ noch nicht reif. Ihre Aufnahme bedeutete für uns eine Schwächung, die sich in äußeren Misserfolgen und innerer Zerfahrenheit bekundete.

Bauernhaus in Ostkarelien

Bauernhaus in Ostkarelien

Molkerei in Finnland

Molkerei in Finnland

J. W. Snellmann (1806-1881), finnischer Journalist und Staatsmann

J. W. Snellmann (1806-1881), finnischer Journalist und Staatsmann

A. I. Arwidsson (1791-1858), politischer Journalist Finnlands

A. I. Arwidsson (1791-1858), politischer Journalist Finnlands

Nikolaikirche in Helsingfors

Nikolaikirche in Helsingfors

Olafsburg in Nyslott

Olafsburg in Nyslott