Vorwort. Fünfte Fortsetzung

Eine ganz eigenartige Erscheinung des russischen Lebens ist der intellektuelle Stand Russlands, seine „Intelligenz". Ihr Wesen lässt sich nur aus den allgemeinen sozialpolitischen Bedingungen begreifen, wie sie das Russland des neunzehnten Jahrhunderts aufweist. Nirgends im modernen Europa war die Kluft zwischen dem Leben des Bauern und demjenigen der wohlhabenden und gebildeten Stände so groß, das Auseinandergehen der Lebensauffassung so tiefgehend, wie in Russland. In der russischen Literatur finden sich nicht selten Klagen darüber, dass das innere Sichverstehen zwischen dem Volk und dem gebildeten Stand Russlands aufgehört habe, dass man sich gleichsam wie Menschen aus verschiedenen historischen Epochen gegenüberstände. Und zugleich war kaum in irgendeinem anderen Lande das Streben, sich dem Volke wieder zu nähern, es wieder verstehen zu können, sich mit ihm innerlich zu vereinigen, so stark ausgesprochen, wie dies in weiten Schichten der russischen Intelligenz der Fall war. Eine aufrichtige Liebe zum russischen Volk durchströmt die ganze russische Literatur, ein Suchen nach dem Volk, ein häufig drückendes Gefühl der Zwiespältigkeit und Vereinsamung. Es ist nicht die als selbstverständlich und mit einer gewissen Befriedigung hingenommene Scheidung: hier Volk, hier wir wohlhabende, gebildete Menschen — wie wir sie vielleicht erwarten könnten; vielmehr fühlte die russische Intelligenz gleichsam eine Schuld, die sie dem notleidenden und in Unwissenheit dahinlebenden Volk gegenüber abzutragen hatte. Aus dieser Stellungnahme heraus erklärt sich die nicht selten heldenmütig aufopfernde Hingabe an das Volk, wie wir sie in der Befreiungsbewegung der letzten Jahrzehnte kennen: junge Leute, die ihr Elternhaus und die ihnen winkenden Glücksgüter des äußeren Erfolges verlassen und „ins Volk" gehen; Ärzte und Lehrer, die ihr Leben im Dienst der Semstwo in weit verlassenen Dörfern zubringen; endlich überzeugte Revolutionäre, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um den verhassten Zarismus zu stürzen und dem Volk die ersehnte Freiheit zu erkämpfen. Es muss ganz ausdrücklich gesagt werden, dass diese Hingabe an das Volk rein idealistischer Art war, ein durch keinen persönlichen oder Klassenvorteil diktiertes Streben, die unterdrückte, der kulturellen Lebensgüter beraubte, zu einem großen Teil in materieller Not lebende Masse des russischen Volkes aus diesem Zustande herauszureißen und einer glücklicheren Existenz entgegenzuführen. Vielleicht ist diese Stellungnahme dem Volke gegenüber, der „heilige Funke der Liebe zum Volke", der wesentlichste und interessanteste Zug der russischen Intelligenz, aus dem sich alle anderen Eigentümlichkeiten derselben erklären lassen: so die relativ geringe Einschätzung äußerer Formen, der einfache, ernste persönliche Verkehr unter den Gebildeten Russlands, das Zusammenhalten in gemeinsamer Arbeit. Dies ist es unter anderem auch, was den Ausländer, der längere Zeit in russischen Kreisen zu verbringen Gelegenheit hatte, besonders sympathisch berührte und fesselte. — Gewiss entspricht nicht jeder Intellektuelle Russlands dem hier kurz entworfenen Bild, gewiss kommen der russischen Intelligenz auch noch andere, weniger hoch zu bewertende Eigenschaften zu, gewiss auch werden die großen Ereignisse unserer Tage für die innere Zusammensetzung und Entwicklung der russischen Intelligenz nicht spurlos vorübergehen, aber kaum wird der innere Zug, den wir hier erwähnt haben und der zum Wesen des russischen Charakters zu geboren scheint, je gänzlich verschwinden. So finden wir ihn in anderen Formen auch im Charakter des russischen Bauern wieder. Bezeichnend ist hierfür das Verhalten des russischen Bauern den untersten Schichten der Bevölkerung, den Verbrechern und Sträflingen gegenüber, über die er sich nicht in selbstbewusster Missachtung erhebt, sondern die er mit dem vielsagenden Wort „die Unglücklichen“ bezeichnet hat.

Auch der russischen Frau ist ein besonderer Abschnitt gewidmet worden, was eine selbstverständliche Folge der besonderen Stellung ist, welche die Frau sowohl im Volke wie auch in den gebildeten Schichten der russischen Gesellschaft einnimmt. Ein äußeres Zeichen dieser von der westeuropäischen Auffassung im allgemeinen abweichenden Stellung der russischen Frau ist die Tatsache, dass, als nach Ausbruch der russischen Revolution das allgemeine Stimmrecht eingeführt wurde, niemand, der Russland näher stand, auch nur der Gedanke kommen konnte, dass von demselben die Frau ausgeschlossen werden sollte. Es war ganz selbstverständlich, dass das allgemeine, gleiche Stimmrecht die Frau gerade so miteinbegreift wie den Mann. Und in der Tat, wenn das Stimmrecht verdient werden müsste, so ist nicht zu leugnen, dass sich die russische Frau dasselbe während der ganzen Zeit des Zarismus durch ihren heldenmütigen Kampf gegen die zaristische Regierung und für die kulturelle Aufklärung der breiten Volksmassen Seite an Seite mit dem Mann verdient hat.


Es wird vielleicht überraschen, dass ein besonderer Aufsatz der russischen Pädagogik zugedacht wurde. Dies ist natürlich nicht etwa durch die vorbildliche Ausgestaltung des russischen staatlichen Erziehungswesens bedingt, denn auf diesem Gebiet ist Russland zweifellos weit hinter den meisten Ländern Westeuropas zurückgeblieben. Vielmehr ist es auch hier wieder eine gewisse Eigenart des russischen Wesens, die sich in der Stellungnahme dem Kinde und der Erziehung gegenüber äußert, welche den westeuropäischen Leser interessieren wird.

Was den rein praktischen Teil der Arbeit bei der Zusammenstellung des Buches anbetrifft, so ist es selbstverständlich, dass die mit dem allgemeinen Krieg und der russischen Revolution verbundenen Verkehrsschwierigkeiten die Aufgabe der Redaktion, Aufsätze von russischen Spezialisten für das Buch zu erhalten, sehr bedeutend erschwerten. Wegen mancher Änderungen und Ergänzungen, die wir gewünscht hätten, konnten wir uns mit den Verfassern nicht mehr rechtzeitig ins Einvernehmen setzen. Jedoch gelang es uns, mit Hilfe von Frau P. Melgunow in Moskau für unser Unternehmen russische Gelehrte und Spezialisten zu gewinnen, die sich prinzipiell auf den Boden unserer Auffassung über die Bestimmung des Buches stellten, was uns die redaktionelle Arbeit in dieser Hinsicht bedeutend erleichterte.

Angesichts der gegenwärtig im Postverkehr mit Russland vorhandenen Schwierigkeiten behält sich die Redaktion das Recht vor, Änderungen in der oben skizzierten Reihenfolge der Aufsätze zu treffen.

Die Redaktoren des Werkes trafen sich in der Hochschätzung der inneren Werte, die in den Tiefen der russischen Volksseele geborgen sind, und die sich in den Erzeugnissen des russischen Volkes zum Teil erst noch in schwachen Andeutungen vorfinden, zum Teil aber auch schon in herrlichen Werken der russischen Geisteskultur ihren erhabenen Ausdruck gefunden haben. Unser Buch soll die Kenntnis des eigenartigen Lebens und Schaffens des russischen Volkes in weitere Kreise tragen helfen. Die Hochschätzung der Eigenart russischer Kultur und die liebe zur Volksseele, die als Trägerin dieser Kultur erscheint, bewegte uns bei der Herausgabe des Werkes und vereinigte uns zum gemeinsamen Redigieren desselben, ohne dass unsere gemeinsame Arbeit am Werk uns gleiche Ansichten und Wertungen in Fragen, die mit unserem Buch und seiner Bestimmung in keiner direkten Beziehung stehen, voraussetzen würde. Dem entspricht es auch, dass die Redaktion den Verfassern der einzelnen Artikel in der Behandlung ihres Gebietes die größte Freiheit ließ, und sich weder die Redaktion als Ganzes, noch die einzelnen Redaktoren mit allen in den Aufsätzen vertretenen Ansichten identifizieren können. Nicht zu einem einheitlichen System, das in ein bestimmtes politisches, soziales, philosophisches oder religiöses Schema hineinpassen würde, sollte der lebendige Organismus des russischen Volkes verarbeitet werden, vielmehr soll das organische, sich nicht selten selbst widersprechende Volkswesen eine entsprechend lebendige Spiegelung in den Abhandlungen der einzelnen Verfasser erhalten. So nahmen wir auch keinen Anstoß an einzelnen Widersprüchen, die sich bei verschiedenen Autoren in der Behandlung des gleichen Gegenstandes vorfanden. Das organisch lebendige Wesen eines Volkes hat unendlich viele Seiten und kann von unendlich viel verschiedenen Standpunkten aus erfasst werden, was zu äußerlichen Widersprüchen zu führen scheint, im Grunde aber doch nur einen verschieden modifizierten Ausdruck des gleichen Volksgeistes, der gleichen Volksseele ergibt.

Sollte dieses Buch über Russland In der Gestalt, wie es gegenwärtig dem Leser vorgelegt wird, einem Bedürfnis unserer Zeit entsprechen, so wollen wir ihm noch einen Wunsch mit auf den Weg geben: möge es Nachahmung finden, indem ähnliche, aus dem eigenen Volkstum heraus entstandene Werke auch über andere Völker verfasst werden, damit auch auf diesem Wege das innere Verständnis unter den Völkern Europas gefördert und gestärkt werde.

Die Redaktion drückt ihren aufrichtigen Dank Frau P. Melgunow, Moskau, für ihre tätige Unterstützung aus, die uns unter den gegenwärtigen schwierigen Postverhältnissen ganz besonders wertvoll war. Es sei unser Dank auch Herrn O. Lang und Herrn H. Kober ausgesprochen für die in liebenswürdiger Weise bei der Durchsicht des druckfertigen Materials geleistete Hilfe.

Die Redaktion.
045 Bauer in Wintertracht

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047 Großrusssin

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048 Dorfmusikant

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054 Moskau, Die Zarenglocke

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055 Puchkin, Alexander Sergejewitsch (1799-1857)

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059 Turgenjew, Iwan Sergiewitsch (1818-1883)

059 Turgenjew, Iwan Sergiewitsch (1818-1883)

063 Russland, bettelnder Pilger

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064 Russland, Der Patriarch Nikon

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065 Russland, Ein Altgläubiger

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066 Russland, Ein Hausierer

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069 Messe in Nischni-Nowgorod_

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075 Tschuwaschen

075 Tschuwaschen

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