Vorwort. Vierte Fortsetzung
Wir leben in einer Zeit, da der innere staatliche und soziale Bau des großen russischen Landes von Grund auf umgewälzt worden ist und neu errichtet werden muss. Das Verständnis für die tiefgreifenden Umwälzungen, die Russland durchmacht, kann sich natürlich nur an die Kenntnis der früheren Staatsformen des russischen Beiches anschließen. Daher wird in einem besonderen Aufsatz von der russischen Staatsverfassung, speziell von der Reichsduma, die Rede sein müssen. Die russische Duma spielte seit ihrer Konstituierung im Jahre 1906 im politischen und sozialen Leben Russlands eine dominierende Rolle. Sie stand in einem fast ununterbrochenen Kampf mit der zaristischen Regierung, wurde in der kurzen Zeit ihres Bestehens zweimal aufgelöst, ihre Wahlbestimmungen erfuhren von Seiten der Regierung immer neue Beschränkungen, bis schließlich von der ursprünglich ziemlich weitgehend demokratischen Wahlvorlage fast nichts mehr übriggeblieben war. Auf dieser im Sinn der damals herrschenden Regierung modifizierten Grundlage ist auch die vierte, letzte Reichsduma einberufen worden, die im Februar 1917 die alte Regierung für abgesetzt erklärte und eine neue aus ihrer Mitte gewählte Regierung an die Spitze des russischen Staates stellte. Die Geschichte der russischen Duma während der letzten zwölf Jahre versetzt den Leser mitten in das politische Leben Russlands und macht ihm manche Erscheinungen der jüngsten Gegenwart, vor denen ein Ausländer staunend stehen bleibt, verständlich. Während äußerlich die zaristische Regierung die Oberherrschaft über das ganze russische Volk unantastbar aufrechtzuerhalten schien, war schon vor der Revolution ein überwiegend großer Teil der Bevölkerung Russlands von ihr abgefallen und verlangte nach neuen Formen des politischen Lebens.
Von den verschiedenen Volksschichten ist es der Bauernstand, dem im Agrarland Russland eine dominierende Rolle zukommt. Neben vielen allgemeinen Zügen, die dem russischen Bauern in gleicher Weise wie seinen westlichen Standesgenossen zukommen, weist der russische Bauer einige eigentümliche Charakterzüge in seinem persönlichen Wesen und seiner sozialen Stellung auf, die dem russischen Bauernstand ein ganz eigenartiges Gepräge verleihen. Es sei hier nur der eigentümliche halbkommunistische Besitz von Grund und Boden durch die Gemeinde erwähnt, welcher der russischen Dorfgemeinde eine ganz andere Bedeutung gibt, als sie die westeuropäische Dorfgemeinde besitzt. Auf diese eigenartige Form des Grundbesitzes führt sich auch die verbreitete Anschauung des russischen Bauer zurück, dass der Boden eigentlich „niemand gehört"' (d. h. nicht einem einzigen Besitzer gehören darf) oder, wie die andere Wendung lautet, — „der Boden Gottes ist". Erst aus dieser Auffassung erklärt sich auch der allgemeine Anspruch auf den in Privathänden der Gutsherrn sich befindenden Grundbesitz, den die russische Dorfbevölkerung schon seit einer Reihe von Jahren erhebt. Gewiss ist es auch der durch die starke Vermehrung der Dorfbevölkerung sich in zunehmendem Masse spürbar machende Mangel an gutem, bebaubarem Boden, der diese Forderung so akut macht, doch findet sie ihre mehr psychologische Erklärung in der eben erwähnten kommunistischen Einstellung des russischen Bauern dem Grund und Boden als dem für ihn weitaus wichtigsten Objekt gegenüber.
Eine wichtige Rolle spielte im inneren Aufbau Russlands, im besonderen auch im Leben des russischen Bauern, eine eigenartige und einzig dastehende Organisation, das sogenannte Semstwo. Das Semstwo wurde im Jahre 1864 von Kaiser Alexander II. ins Leben gerufen, als die Regierung sich nach der Beseitigung der Leibeigenschaft außerstande sah, die großen organisatorischen Aufgaben, die sich aus der tiefgreifenden Reform ergaben, selbst ohne die Hilfe der gebildeten Stände Russlands zu bewältigen. Das Semstwo stellte einen Teil des Staatsorganismus dar, der jedoch im Gegensatz zu den übrigen staatlichen Einrichtungen Altrusslands auf einer weitgehend demokratischen Grundlage basiert war: die Vertreter der Semstwo wurden vom Volke gewählt und erhielten relativ große Vollmachten auf dem Gebiete der inneren Verwaltung. Ihrer Obhut wurde vor allem das Gebiet des Sanitäts-, des Schulwesens, der Statistik u. a. anvertraut, wo sie ganz großartige Leistungen aufzuweisen haben. Unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen, bei den unermesslich weiten Entfernungen von Dorf zu Dorf und im Verhältnis zu Westeuropa überaus geringen Bevölkerungsdichtigkeit, richteten die Semstwo Krankenhäuser und Schulhäuser ein, wo Kinder unterrichtet, Kranke unentgeltlich gepflegt wurden. Die Semstwos waren derjenige Boden, auf dem die russische Intelligenz, vor allem als Semskij-Lehrer und Semskij-Arzt, in unmittelbarste Berührung mit dem Landvolk kam. Der schwere, relativ schlecht bezahlte Dienst in häufig weitabgelegenen, unwirtlichen Gegenden bewirkte, dass im allgemeinen nur Menschen von einem gewissen Idealismus in der Semstwo-Tätigkeit ihre Aufgabe erblicken konnten. Daher der eigentümliche selbstlose Zug, der viele Dorflehrer und Dorfärzte in Russland auszeichnet, daher auch der Kampf gegen die alte Regierung, der von den Semstwos fast während der ganzen Zeit ihres Bestehens geführt wurde. Neben dem russischen Bauern wird es vor allem die russische Arbeiterklasse und der Stand der Intellektuellen, die sogen, russische „Intelligenz“ sein, die einen Westeuropäer interessieren müssen. — Wie die übrigen sozialen Erscheinungen Russlands, so weist auch die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Russland Formen auf, die sich vom westeuropäischen Muster in mancher Beziehung beträchtlich entfernen. Zweifellos stand die russische Arbeiterbewegung unter starkem Einfluss westeuropäischer Strömungen, doch bedingte es gerade dieser Umstand, dass die ganze Entwicklung der Arbeiterbewegung in Russland rascher und stürmischer als in den anderen Ländern Europas vor sich ging: wo der westeuropäische Arbeiter seine eigenen Wege und Ziele erst noch finden und ausarbeiten musste, fand sein russischer Standesgenosse dieselben schon vorgezeichnet, und er ging mit um so größerer Entschiedenheit demjenigen Ziele entgegen, das dem westeuropäischen Arbeiter noch in weiter Ferne zu liegen schien. In keinem anderen großen Lande Europas ist der Arbeiterstand prozentuell so wenig stark vertreten als in dem Agrarland Russland, in keinem anderen Land gelang es ihm aber in der kurzen Zeit seines Bestehens eine so große politische und soziale Bedeutung zu erlangen wie gerade in Russland.
Von den verschiedenen Volksschichten ist es der Bauernstand, dem im Agrarland Russland eine dominierende Rolle zukommt. Neben vielen allgemeinen Zügen, die dem russischen Bauern in gleicher Weise wie seinen westlichen Standesgenossen zukommen, weist der russische Bauer einige eigentümliche Charakterzüge in seinem persönlichen Wesen und seiner sozialen Stellung auf, die dem russischen Bauernstand ein ganz eigenartiges Gepräge verleihen. Es sei hier nur der eigentümliche halbkommunistische Besitz von Grund und Boden durch die Gemeinde erwähnt, welcher der russischen Dorfgemeinde eine ganz andere Bedeutung gibt, als sie die westeuropäische Dorfgemeinde besitzt. Auf diese eigenartige Form des Grundbesitzes führt sich auch die verbreitete Anschauung des russischen Bauer zurück, dass der Boden eigentlich „niemand gehört"' (d. h. nicht einem einzigen Besitzer gehören darf) oder, wie die andere Wendung lautet, — „der Boden Gottes ist". Erst aus dieser Auffassung erklärt sich auch der allgemeine Anspruch auf den in Privathänden der Gutsherrn sich befindenden Grundbesitz, den die russische Dorfbevölkerung schon seit einer Reihe von Jahren erhebt. Gewiss ist es auch der durch die starke Vermehrung der Dorfbevölkerung sich in zunehmendem Masse spürbar machende Mangel an gutem, bebaubarem Boden, der diese Forderung so akut macht, doch findet sie ihre mehr psychologische Erklärung in der eben erwähnten kommunistischen Einstellung des russischen Bauern dem Grund und Boden als dem für ihn weitaus wichtigsten Objekt gegenüber.
Eine wichtige Rolle spielte im inneren Aufbau Russlands, im besonderen auch im Leben des russischen Bauern, eine eigenartige und einzig dastehende Organisation, das sogenannte Semstwo. Das Semstwo wurde im Jahre 1864 von Kaiser Alexander II. ins Leben gerufen, als die Regierung sich nach der Beseitigung der Leibeigenschaft außerstande sah, die großen organisatorischen Aufgaben, die sich aus der tiefgreifenden Reform ergaben, selbst ohne die Hilfe der gebildeten Stände Russlands zu bewältigen. Das Semstwo stellte einen Teil des Staatsorganismus dar, der jedoch im Gegensatz zu den übrigen staatlichen Einrichtungen Altrusslands auf einer weitgehend demokratischen Grundlage basiert war: die Vertreter der Semstwo wurden vom Volke gewählt und erhielten relativ große Vollmachten auf dem Gebiete der inneren Verwaltung. Ihrer Obhut wurde vor allem das Gebiet des Sanitäts-, des Schulwesens, der Statistik u. a. anvertraut, wo sie ganz großartige Leistungen aufzuweisen haben. Unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen, bei den unermesslich weiten Entfernungen von Dorf zu Dorf und im Verhältnis zu Westeuropa überaus geringen Bevölkerungsdichtigkeit, richteten die Semstwo Krankenhäuser und Schulhäuser ein, wo Kinder unterrichtet, Kranke unentgeltlich gepflegt wurden. Die Semstwos waren derjenige Boden, auf dem die russische Intelligenz, vor allem als Semskij-Lehrer und Semskij-Arzt, in unmittelbarste Berührung mit dem Landvolk kam. Der schwere, relativ schlecht bezahlte Dienst in häufig weitabgelegenen, unwirtlichen Gegenden bewirkte, dass im allgemeinen nur Menschen von einem gewissen Idealismus in der Semstwo-Tätigkeit ihre Aufgabe erblicken konnten. Daher der eigentümliche selbstlose Zug, der viele Dorflehrer und Dorfärzte in Russland auszeichnet, daher auch der Kampf gegen die alte Regierung, der von den Semstwos fast während der ganzen Zeit ihres Bestehens geführt wurde. Neben dem russischen Bauern wird es vor allem die russische Arbeiterklasse und der Stand der Intellektuellen, die sogen, russische „Intelligenz“ sein, die einen Westeuropäer interessieren müssen. — Wie die übrigen sozialen Erscheinungen Russlands, so weist auch die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Russland Formen auf, die sich vom westeuropäischen Muster in mancher Beziehung beträchtlich entfernen. Zweifellos stand die russische Arbeiterbewegung unter starkem Einfluss westeuropäischer Strömungen, doch bedingte es gerade dieser Umstand, dass die ganze Entwicklung der Arbeiterbewegung in Russland rascher und stürmischer als in den anderen Ländern Europas vor sich ging: wo der westeuropäische Arbeiter seine eigenen Wege und Ziele erst noch finden und ausarbeiten musste, fand sein russischer Standesgenosse dieselben schon vorgezeichnet, und er ging mit um so größerer Entschiedenheit demjenigen Ziele entgegen, das dem westeuropäischen Arbeiter noch in weiter Ferne zu liegen schien. In keinem anderen großen Lande Europas ist der Arbeiterstand prozentuell so wenig stark vertreten als in dem Agrarland Russland, in keinem anderen Land gelang es ihm aber in der kurzen Zeit seines Bestehens eine so große politische und soziale Bedeutung zu erlangen wie gerade in Russland.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland. I. Teil. Geistesleben, Kunst, Philosophie, Literatur