Radek, Radek (1885-1939) Journalist und Politiker

Radek kam 1915 nach Zürich. Mager, verbittert, mit der unbeholfenen Gereiztheit des Verfolgten. Unbestimmte Gerüchte gingen ihm voraus. Unbestimmten Eindruck machte er. Keine einzige Sprache beherrschte er vollkommen. Sein Russisch klang wie ein galizisches Kauderwelsch; sein Deutsch hatte die gutturalen Laute und die unbeholfene Satzbildung des Polnischen. Schreiben konnte er nicht. Dieser armselige Jargon, der mit Schlagworten arbeitete und wie ein Betrunkener dahintorkelte, nahm sich selbst in der „Berner Tagwacht" schlecht aus, die von einem Unwissenden geleitet und von Unfähigen zusammengestellt wurde.

Was wusste er? Seine Belesenheit in der weltpolitischen Literatur war erstaunlich. Keine größere Tageszeitung, die er nicht von Grund auf kennen würde. Aber darüber hinaus: vollständiger Analphabetismus. Es war, als ob dieser Intelligenz die ganze Welt eine einzige Kolonialfrage bedeute! Nichts, was über Weltexpansion der schweren Industrie, mesopotamische Baumwolle, diplomatisches Intrigenspiel, parteipolitische Kräfteverhältnisse ging, hatte für ihn Interesse, war ihm auch nur bekannt. Er war der umgekehrte Paul Rohrbach. Im Ganzen: eine zweifelhafte Gestalt und vielleicht eine verzweifelte Existenz.


Das Leben in der Schweiz war ihm nicht leicht. Ein paar polnische Freunde nahmen sich seiner an. Lenin erkannte seine politische Gewandtheit und zog ihn zu sich heran. Er konnte sehr gut dieses Gehirn brauchen, das sich in europäischen Tagesfragen besser auskannte als irgend jemand in seiner Umgebung. Er sah voraus, dass: Radeks Personalkenntnisse auf dem Gebiete des deutschen Parteiwesens mit der Zeit unentbehrlich werden könnten. Doch blieb Radek stiller Teilhaber der Firma. In Zimmerwald spielte er schon eine bedeutende Rolle, als Einpeitscher der Wankenden, ja, sogar als Lenins Einbläser im Fraktionsspiel, das sich hinter den Kulissen begibt. Aber unter dem Manifest, welches in Zimmerwald herausgegeben wird, fehlt sein Name: Ledebour will nicht mittun, wenn Radek öffentlich zeichnet Radek selbst zieht es ebenfalls vor, im Halbdunkel zu bleiben.

März 1917 ging Lenin nach Russland. Unter den Wenigen, die er mitnahm, war Radek. Eine abenteuerliche Fahrt durch das kriegführende Deutschland hin, im hermetisch geschlossenen Wagen, mit direkter Einwilligung Ludendorffs. Eine kurze Rast in Stockholm. Fühlungnahme mit schwedischen Genossen. Letzte Horchposten werden in Europa zurückgelassen, letzte Instruktionen erteilt. Dann geht es weiter. Am Abend des 2. April ist man in Torneo: ein Katzensprung bis Petersburg. Radek kommt unbekannt und unerkannt über die Grenze: Falscher Pass, ein wenig verändertes Aussehen haben schon manchem über die Grenzformalitäten geholfen. Übrigens war er ja im Gefolge Lenins.

Nun hört man nichts mehr von Radek. Was tat er in der Voroktoberzeit? Wie lebt er in Petersburg? Keine Antwort. Man weiß nur von ein paar Reisen nach Stockholm und Kopenhagen. Aber zu Welchem Zweck? Darüber gibt das Dunkel, das ihn umgibt, keine Auskunft. Vor den Augen der profanen Welt erscheint er zum ersten Mal nach dem vollzogenen Umsturz. Am 28. Oktober kann man ihn in den Wandelgängen des Smolnji beobachten. Schmächtige sprungbereite Gestalt, grauer Ulster, Reisemütze, die unvermeidliche Pfeife zwischen den Zähnen, brutaler, lüsterner Mund, spöttischer Blick, Hände eines Taschenspielers. Der Globetrotter der Weltrevolution. Radek war angelangt. Von nun an fasste er festen Fuß in Russland.

Er war der Einzige, der die außenpolitischen Beziehungen der Oktober-Revolution anbahnen konnte. Der gegebene Diplomat und Unterhändler, wie ihn Lenin brauchte. Nüchtern und skrupellos, die geheimsten Schlupfwinkel europäischer Diplomatie kennend, mit eminentem Verständnis der Mächtekonfiguration, mit geschmeidiger Unverfrorenheit auf sein Ziel steuernd, so musste der Mann aussehen, dem die Aufgabe ward, die bolschewistische Tat vor der Welt der Zeitungsschreiber und Börsenjobber, der Legationssekretäre und Parteistrategen zu vertreten.

Der grundlegende Wesenszug Radeks ist Zynismus. Jene brutale Offenheit, die mit dem Erfolg wächst und die den Gegner einschüchtert, weil sie ihm Kraft vortäuscht. „Bedenken Sie", sagte er dem General Hoffmann in Brest-Litowsk, „bedenken Sie, dass wir nichts zu verlieren haben, während hinter Ihnen die Krone, die Monarchie steht. Sie wagen einen höheren Einsatz in diesem Spiel." So spricht einer, der alle Brücken hinter sich verbrannt hat. Ein anderes Bild. Drei Jahre später, Arbeiterversammlung in Moskau. Es ist kein Brot, keine Arbeit da. Die Massen schauen dem Hungertod in die Augen. Radek spricht über die Lage. Plötzlich wird ein Zwischenruf laut: „Genosse Radek, haben Sie täglich Ihr Mittagessen auf dem Tisch? Hungern Sie ebenso wie wir?" Eine hämische Frage, die irgend ein Menschewist stellt, um ihn aus dem Konzept zu bringen. Radek tritt vor, stellt sich breit auf das Podium hin und sagt laut und vernehmlich: „Ich esse dreimal täglich zu Mittag . . ." — Alles sitzt mäuschenstill da. — „Wenn ich nicht essen würde, könnte ich nicht arbeiten. Wenn ich nicht arbeiten würde, würde eure Revolution verrecken . . .

Das ist der ganze Mann, mit der Kaltblütigkeit des Tierbändigers und mit der Waghalsigkeit des Spielers. Wahrlich, er spricht aus, was ist. Aber in einem anderen Sinne, als wie es Lassalle meinte. Diese Offenheit ist Zynismus, weil sie die Situation ins Persönliche zuspitzt und die nackte Tatsache als solche verherrlicht. Ist es Freude, ist's Schadenfreude? Es ist die Überhebung des Angelangten, dem jeder neue Tag das Wunder seiner Existenz von neuem bestätigt. Es ist die Verachtung des Emporgekommenen für die Ungeschicktheit des Widerparts. „Die Diplomaten arbeiten Für uns", pflegt Radek zu sagen. „Sie sind so dumm, dass wir gar nicht klug zu sein brauchen." In einer Welt, die mit Vorurteilen und Rücksichten belastet ist, die eine Legion Gefahren ahnt und tausendfache Bedenken überwinden muss, bewegt sich diese unbeschwerte Geschmeidigkeit mit einer Selbstverständlichkeit, die wie eine Erlösung wirkt.

Wie jeder Mensch, der wirkt, besitzt Radek Ehrgeiz. Aber dieser Ehrgeiz ist von besonderer Art. In ihm lebt kein Durst nach persönlicher Machtentfaltung, wie beispielsweise in Trotzki. Radek zieht es vor, hinter dem Vorhang zu wirken. Er will der Drahtzieher sein im großen Marionettentheater der Revolution. Anderen überlässt er gern den Vortritt, wenn es gilt, die Politik nach außen hin zu vertreten. Er will sie machen. Ihm genügt das Bewusstsein, dass er die Karten gemischt hat. Mögen andere spielen.

Er mischt sie großartig. Im Zentralkomitee der Partei, im Vorstand der kommunistischen Internationale, im Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten: überall entfaltet er seine Energie. Er kennt die kleinen Leidenschaften seiner Mitspieler, ist orientiert in allen Fragen der europäischen Arbeiterbewegung, überblickt die ganze Aussicht, die sich der Oktober-Revolution öffnet. Er braucht nicht Gewaltmittel, um sich durchzusetzen: sein Einfluss beruht auf einer sichereren Basis.

Die Außenpolitik der Sowjet-Regierung geht von einem einzigen Grundsatt aus: Abwarten, Verhandeln, bis die Zeit kommt zu handeln; die Gegensätze, in die sich die bürgerlichen Staaten immer mehr verwickeln, auf die Spitze treiben. Sie besitzt nicht die Mittel, um in die Ereignisse gewaltsam einzugreifen. Also heißt es manövrieren. In diese Kunst des Manövrieren leistet Radek Hervorragendes. Seine Politik ist Balancieren auf des Messers Schneide. Jede andere, grobkörnigere Natur würde tausend Fehler begehen, sich unzählige Blößen geben in dieser Situation.

Weil er vielleicht der Einzige ist, dem die Revolution fast Selbstzweck bedeutet. Über andere kam eine merkwürdige Ruhe. Revolutionäre sind Staatsmänner, Tyrannenstürzer Ministerialbeamte geworden. In ihm allein wohnt noch unbändige Konspirationslust. Es atmet sich ihm wohl nur in der geheimnisvollen Atmosphäre listiger Schachzüge, raffinierter Kombinationen, verwickelter Pourparlers. Welche Lust, über Geheimberichten zu sitzen, die aus aller Herren Ländern kommen! Welcher Schauer, zu wissen, dass man das Spiel der Gegenpartei durchschaut hat, und sie in seinen Fuchsbau zu locken!

„Russland ist jetzt das uninteressanteste Land", pflegt Radek seit einiger Zeit zu äußern. Weil es zu ruhig geworden ist. Weil die atemraubenden Emotionen der Rutschbahn nur noch anderswo zu finden sind. Hier beginnt die Periode organischer Entwicklung, verhältnismäßiger Ordnung. Schwamm drüber!

Radek ist der große Abenteurer der Oktober-Revolution. Nicht im bösen Sinne. Kein Cagliostro, eher schon ein proletarischer Baron von Batz. Jede Revolution zeitigt solche Gestalten, die aus dem Dunkel kommen, mit dem Erfolg groß werden und mit ihm gehen. Sie sind die Verkörperung der Revolution selbst, ihrer Unruhe, ihres gefährlichen Ränkespiels, ihres brutalen Zynismus.

Jede Revolution ist im Grunde — oder im Psychologischen — genommen ein Abenteuer. Wer kann zum voraus ihre Chancen berechnen? In dem Augenblick, da man den Boden der Tatsachen verlässt und sich ins Ungewisse stürzt, ist Hazard. Am Vorabend des 26. Oktober sagte mir einer der rührigsten Leiter des Aufstandes: „Die Pariser Kommune hat sich drei Monate gehalten und ein großartiges geschichtliches Werk vollbracht. Wenn wir uns auch nur drei Wochen halten, so ist das unter veränderten Zeitumständen von nicht zu unterschätzender Bedeutung." Ungefähr im gleichen Sinne äußerte sich November 1919 Bucharin im Moskauer Arbeiterrat: „Die Bolschewisten haben viel Fehler gemacht. Aber ihr größter Fehler war, dass sie nicht mit der Möglichkeit des dauernden Bestehens rechneten." Die Revolution ist immer ein Sprung ins Blaue. Eben darum braucht sie Abenteurer.

In mancher Hinsicht erinnert Radek an Bakunin. Zieht man die umfangreichen Kenntnisse und die glänzende schriftstellerische Begabung Bakunins ab, so verbleibt ein Rest, der sich mit der psychologischen Substanz Radeks im Großen und Ganzen deckt. Es ist dasselbe unstäte Flackern der Seele, welches beide verzehrt. Derselbe Hang zu Verwicklungen und Intrigen. Dieselbe Menschenverachtung, die den andern immer nur als ein bloßes Werkzeug betrachtet. Nur dass Bakunin bodenständiger war. Im Anarchisten war der russische Edelmann tief verankert. Radek entstand zwischen den Rassen und zwischen den Kulturen. Weit draußen an der galizischen Grenze geboren, blieb er stets auf der Mittellinie zwischen West und Ost. Er ist Pole und Jude, Deutscher und Russe, Asiate und Europäer: alles zusammen und nichts von alledem im Besonderen.

Lenin, Trotzki, Radek: das Dreigestirn der Oktober-Revolution. Alles andere ist Komparserie, mehr oder weniger brauchbares Menschenmaterial. Diese drei bilden die eigentliche Leitung. Jeder auf seine Art, aber doch alle sich gegenseitig ergänzend. Radek war weder Triebkraft noch Denkmaschine in diesem Bunde. Er hat nur ausgenützt, was andere taten, Stellungen ausgebaut, die andere eroberten. Aber von allen, die in diesen Zeitläuften um Lenin kamen und gingen, stand ihm Radek am nächsten. Seiner elementaren Natur war die ulysseshafte Art Radeks am wohltuendsten. Sie ergänzten sich vortrefflich. In Lenins maschineller Struktur steckt — bei aller Nüchternheit — ein gutes Stück Lebensfremdheit. Radek ist, wie jeder groß angelegte Abenteurer mit allen Wassern gewaschen. Er hat den Blick für die kleinen Bestandteile des Lebens, die mit in Rechnung genommen werden müssen. In Lenins algebraische Formeln setzt er arithmetische Größen ein.

Die russische Außenpolitik erlebt jetzt, wie es scheint, einen Aufschwung. Verhandlungen mit großen Industrieunternehmungen sind im Gange, Beziehungen zu fast allen europäischen Staaten bahnen sich an. Das ist Radeks Fahrwasser. Der großzügige Geist Lenins wird fehlen, aber die Manövrierkunst Radeks wird zugegen sein. Und sie wird Triumphe feiern. Die Diplomatie des alten Europa ist eine armselige Zunft. Sie versteht nur, korrekt zu lügen, und, wenn alle Stricke reißen, Maschinengewehre auffahren zu lassen. In Radek wird sie ihren Meister finden. Was kann sie der Entschlossenheit dieses Abenteurers der Revolution entgegenstellen, der bereit ist, alles aufs Spiel zu setzen, und vor nichts zurückschreckt? Im Notfälle könnte er ja ebenso gut lügen, wie alle europäischen Diplomaten zusammengenommen, — und noch etwas draufgeben. Aber er braucht das nicht. Er kann sich den Luxus der Wahrheit leisten. Denn seine Wahrheit ist das Einzige, was er von der französischen Revolution mit herübergenommen hat: sie ist sans-culotte. Davor erschrickt die befrackte Zunft.

Radek kann sich den Luxus der Wahrheit leisten, weil er noch ganz andere Eisen im Feuer hat. Europa ist unruhig. Wer weiß, was morgen kommt? Nichts bindet ihn an Russland. Seine Sehnsucht eilt schon anderen Zielen entgegen. Er steht sprungbereit da. Die unvermeidliche Pfeife zwischen den Zähnen, brutaler, lüsterner Mund, spöttischer Blick, immer derselbe. Nur das Gesicht hat eine schärfere Prägung erhalten. Das Abgehetzte ist daraus verschwunden.