Trotzki, Leo (1879-1940) russischer Politiker und Revolutionär

Semitisches Gesicht mit einem Stich ins Mongolische. Merkwürdig, wie es sich im Laufe der Zeit verändert hat!

Sein Vater war Mühlenbesitzer in Nikolajew bei Odessa. Er hatte noch etwas Kleinbürgerlich-Jüdisches an sich, als er das erste Mal ins Ausland kam, um an dem zweiten sozialdemokratischen Partei, tag teilzunehmen, wo er die sibirischen Organisationen vertrat. Schmales, blutleeres Antlitz, schmale Lippen und Bartflaum, große fanatische Augen. Solche Gestalten wuchsen im russischen Ghetto herauf. Sie trugen leidenschaftliche Aufbäumung gegen zwiefache Unterdrückung — als Russen und Juden — mit sich herum. Und jene eigensinnige Verschlagenheit, die jahrhundertelanges Studium des Talmuds gibt.


Aber an diesem Jüngling, der das zwanzigste Jahr kaum überschritten hatte, machte sich noch eine andere Eigenschaft, bemerkbar. Er hatte eine hervorragende Gabe des Wortes. Man musste unwillkürlich an Lassalle denken, jenen anderen Juden, den die Abstammung nicht verhindert hat, Tribun eines fremden Volkes zu werden.

Trotzki saß inmitten der Delegierten. Von Zeit zu Zeit bekam er Zettel vom Vorstandstisch aus zugesteckt. Unmittelbar darauf ergriff er das Wort, um die Zügel seiner Beredsamkeit schießen zu lassen. Es war dies jener Parteitag, auf dem sich die Spaltung innerhalb der russischen Sozialdemokratie vollzog. Trotzki stellte sich in den Dienst der damaligen Mehrheit, und lieh die Kraft seiner Rede den anerkannten Führern der Partei: Plechanow, Martow, Dan. Der Jüngling aus Nikolajew machte sich als geschickter Partner im Fraktionsspiel bemerkbar.

Doch der Jüngling hatte noch, anderes Zeug in sich. Sein Ehrgeiz konnte sich mit der Rolle der zweiten Violine im Parteikonzert nicht begnügen. Neben Martow, Plechanow, Dan, war seines Bleibens nicht. In kurzer Zeit hat er sich selbständige Beachtung Abgerungen. Er hat eine „fraktionslose Fraktion" gegründet, spottete man. Nun, diese Fraktion war er selbst, denn die paar namenlosen Mitläufer, die seine Umgebung bildeten, kamen wahrlich nicht in Betracht. Was er erreichen wollte, war erreicht man musste mit ihm rechnen. Sein publizistisches Talent, seine Meisterschaft des Wortes machten ihn für eine jede Fraktion zu einer achtbaren Größe. Je mehr er sich von ihnen absonderte, um so mehr trachtete eine jede, ihn zu gewinnen.

So schwankte er hin und her zwischen Plechanow, Martow und Lenin, bis das Jahr 1905 kam, und er sich kopfüber in seinen Strudel stürzte. Die zaudernde Taktik der Menschewisten behagte ihm wenig. Er schloss sich Lenin an, um sich für eine sofortige Umwälzung, für eine permanente Revolution zu schlagen. Der Zusammenbruch schreckte ihn nicht ab. Seine Würfel waren gefallen. Wohl wahrte er nach wie vor seine fraktionelle Selbständigkeit, aber die Vision der permanenten Umwälzung verließ ihn nicht mehr. Lenin wusste, dass er zur gegebenen Stunde auf ihn immer rechnen konnte.

Inzwischen hat sich das Charakteristische dieses Antlitzes merkwürdig verwischt. Alle Kulturen, mit denen er in Berührung kam, schienen darauf eine Spur hinterlassen zu haben. Es wurde ein typisches Literatengesicht, ohne besondere Merkmale. Die ganze Gestalt bekam europäischen Schliff, der ebenso in Lissabon wie in Paris, ebenso in Wien wie in Buenos Aires erworben werden konnte. Es war, als ob über die ganze Persönlichkeit eine undurchsichtige Hülle kam.

Doch die Hülle sollte fallen. Die Wanderjahre Trotzkis gingen zu Ende. Das Antlitz, welches auf dem Roten Platz in Moskau — vor den Wänden des Kremls, dort, wo so viele Geschlechter der Romanow sich dem demütigen Volk in Purpur und Ornat zeigten, — die Parade des russischen Heeres überschaut, dies Antlitz hat die ursprünglichen semitischen Züge wieder gewonnen. Aber die Prägung ist eine andere geworden. Stirn und Auge verraten europäische Intelligenz. Um den Mund schlängelt sich das Lächeln asiatischer Leidenschaft. Das Gesicht hat Rundung bekommen. Die hämische Verbissenheit des Ghetto ist verschwunden. Cäsar, der nur wohlbeleibte Männer um sich sehen wollte, fände an ihm Gefallen.

Trotzki ist die kraftvollste Persönlichkeit der Oktobers Revolution. Doch nicht in dem Sinne, als ob er ihr bester Politiker wäre. Nein, in dieser Hinsicht war ihm vielleicht jeder durchschnittliche Bolschewik überlegen. Selbständige Ausflüge Trotzkis auf das Gebiet der hohen Politik endeten unvermeidlich mit einem Durchfall.

Aber er hat es trotzdem fertig gebracht, die repräsentativste Figur des Bolschewismus zu werden. Er entfachte die schlummernde Energie der Masse, er verkörperte in ihrer Empfindung das sausende Tempo der Revolution. Der Drang nach Macht, der ihn beseelte, entsprach dem Expansionsbedürfnis des Volkes, alle früheren Bande niedergerissen hat.

Trotzki hatte die Gebärde, den Tonfall, die Überhebung des Eroberers. Als er zu Soldaten, zu Matrosen, zu Arbeitern sprach, gab er ihnen den Glauben an ihre Kraft, indem er den Glauben an seine eigene Kraft offenharte. Das Schauspiel dieser Individualität, die zur Herrschaft stürmte, riss die angeborene Begeisterung des Volkes mit, dem das Gaukelbild der Herrschaft wie eine entfernte Möglichkeit vorschwebte.

Andere brauchten theoretische Konstruktionen, logische Schlussfolgerungen, mathematische Berechnungen, um die Notwendigkeit der Revolution einzusehen oder glaubhaft zu machen. Er wollte die Revolution, weil er sich selbst wollte. Er verkörperte ihren Sturm und Drang, weil in ihm selbst alles stürmte und drängte. Andere sprachen von Machtergreifung, weil sie die Geschichte für reif hielten, der letzten machtlosen Klasse die Macht zu übergeben, Er sprach von Machtergreifung, weil er sich selbst für reif hielt, die Macht auszuüben. Andere sprachen von sich und meinten den objektiven Entwicklungsgang. Er sprach vom objektiven Entwicklungsgang und meinte sich. Lenin war die Maschinerie, Trotzki die motorische Kraft. Weil das Problem der Revolution ihm sein persönliches Problem bedeutete.

Von allen Aussichten, die sich dieser Laufbahn eröffneten, hat er jene einzige gewählt, die kein anderer auf sich nehmen konnte, ohne lächerlich zu werden. Er allein hatte die Stirn, als Jude, als Zeitungsschreiber, als Revolutionär, als dreifach Verachteter und Geächteter, die Wiederherstellung von Russlands militärischer Macht zu übernehmen, die Würdenträger der alten Generalität zu sammeln, Russlands Bauernsöhne im Parademarsch an sich Vorbeigehen zu lassen. Kerenski hat solches gleichfalls versucht, aber es blieb ein parodistisches Zwischenspiel der Geschichte. Trotzki glückte das Wagnis, wie es einem anderen Eroberer geglückt hat, dessen Wiege nicht in Nikolajew, sondern auf Korsika stand.

Vielleicht ist dieser Literat der erste richtige Kriegsminister Russlands. Er ist Meister der Selbstzucht. Diese Energie, die nach dem Höchsten greift, überwindet alle Widerstände, weil sie sich zu konzentrieren weiß, Die asiatische Lüsternheit dieser Seele paart sich mit semitischer Verschlagenheit und europäischer Bildung, nein: Ausbildung. Sie hält sich selbst in eiserner Umkrallung. Sie weiß, dass sie sich Menschen und Menschen. Schicksale unterwerfen muss, um weiter zu kommen. Andere operieren mit geschichtlichen Tatsachen, mit objektiven Kräfteverhältnissen. Trotzki rechnet mit der Psychologie des Einzelnen, mit dem Geheimnis der Massensuggestion. Bewundernswürdig, wie Trotzki sich die kurze Angebundenheit der militärischen Sprache, den Soldatenjargon angeeignet hat. Man lese seine Tagesbefehle und Kriegsberichte. In welche Tiefen der eigenen Seele musste sich der literarische Feinschmecker verkriechen, um diese subalterne Knappheit, diese rohe Ungeschlachtheit zu finden, wie sie kein Gamaschenknopf meisterlicher handhaben könnte! Man gehe auf das Ministerium Trotzkis. Es ist das einzige, wo einen Ordonnanzen diensteifrig und höflich empfangen, das einzige, wo alles klappt und wie am Schnürchen läuft. Anderwärts Schmutz, Misswirtschaft, Bestechlichkeit, bei ihm Zucht und Ordnung. Er weiß, dass das Geheimnis der Gewalt, der tatsächlichen Machtausübung im Äußerlichen liegt, dass es der Stab ist, der den Marschall macht, wie der Tornister den Soldaten.

Allmählich bildete sich um Trotzki ein kleiner Hofstaat, überall in den Ämtern sitzen seine Kreaturen, die jedem Wink seiner Hand parieren. Er ist der einzige unter: den Volkskommissären, der von Speichelleckern, Schmeichlern, Abenteurern, verkrachten Literaten umschlichen wird. Das gehört mit zu seiner Macht. Günstling Trotzkis zu sein, ist heute eine soziale Stellung, in Russland. Dieser jüdische Jüngling aus Nikolajew versteht, sich das Air eines Duodezfürsten zu geben. Seine. Hofschranzen tragen keine goldbetressten Röcke, aber die schmucke Uniform der Rotgardisten; seine Spaßmacher hält er sich aus dem einfachen Volke; keine Lola Montez vertreibt ihm seine Grillen, aber irgend eine obskure Provinzdichterin ist immer bei der Hand, wenn das Staatsgeschäft ruht. Nachts tritt sie in einem Kabarett auf, und durch die Reihen des neuen Bürgerstums — dieser widerlichsten Mischung von Wucherer und Bandit — geht verständnisvolles Raunen: „Die Geliebte Trotzkis" . . . Dies Klappern gehört zu diesem Handwerk.

Und wieder muss man an Kerenski denken. Was jener der Februar-Revolution werden wollte, ist dieser der Oktober-Revolution geworden. Er hat ihre Repräsentationspflichten übernommen. Aber jener schaue spielerte nur. Seine Aufmachung war Flitter. Dieser baut auf. Wie sein anderer großer Vorgänger, — der „kleine Korporal", — versucht er, die Salonfähigkeit der Revolution herzustellen, — in einer anderen Welt, aber mit den gleichen Mitteln. Leutseligkeit und Subordinationswut, Mäzenatentum und Protektion, Etikette und Unnahbarkeit: alles, kleine Mittel zu dem großen Zweck. Ein Nimbus umflort schon diese Figur. Kein Weihrauch des Gottesgnadentums zwar, aber eine Ausstrahlung des kraftvollsten Ehrgeizes, den diese Welt kleinlicher Ambitionen und mesquiner Leidenschaften besitzt. Vor Oktober 1917 war Trotzki die volkstümlichste Persönlichkeit in Petersburg. Wie der liebe Gott war er allgegenwärtig. Keine Arbeiter, Versammlung ohne seine flammende Rede. Kein Soldatenmeeting ohne seine Ansprachen. Er war der Liebling der Kronstädter Matrosen, deren Eingreifen den Erfolg der Oktoberrevolution besiegelte. Als am 4. Juli die Kronstädter, die vor dem Taurischen Palais erschienen, Tschernow verhaften wollten, war es Trotzki, der ihn befreite. Er war der Einzige, dessen Wort über sie Macht hatte.

Nun hat er eine andere Macht. Der Bericht, den S. Kamenew, der Oberbefehlshaber der Roten Armee, zum fünften Jahrestag der Oktoberrevolution veröffentlichen ließ, schließt mit den folgenden Worten: „Mit der Besitzergreifung Wladiwostoks geht die fünfjährige Kampfarbeit der Roten Armee zu Ende. Zum fünften Jahrestag der großen Oktober-Revolution hat die Rote Armee alle ihr vom Proletariat gestellten Kampfaufgaben erfüllt, und an diesem großen Feiertage steht die Rote Armee, die stolz auf ihre Macht ist, in dichten Reihen in Bereitschaft, weitere Aufgaben zu erfüllen, die ihr die Regierung der Arbeiter und Bauern stellen wird." Das ist das Werk Trotzkis. Denn er hat Sinn für die Realität der Dinge. Nicht auf das Wort und die äußerlichen Attribute der Macht kommt es an, sondern auf materielle Kraft. Wort und Attribute wirken nur dann, wenn sie andere Stützpunkte haben. Diese zu errichten und in seine Hand zu bekommen, war vom ersten Tag an das Bestreben Trotzkis.

Der Aufstieg Trotzkis ging nicht ununterbrochen vor sich. Zweimal schien es, als ob seine politische Karriere beendet sei. Das erste Mal nach den Frieden von Brest-Litoksk. Diesen Frieden versuchte Trotzki mit allen Mitteln zu hintertreiben. Er ging so weit, dem Rate der Volkskommissare aus Brest-Litowsk Berichte zukommen zu lassen, die sich bei genauerer Prüfung als stark persönlich gefärbt herausstellten. Radek war es, der dieses Spiel aufdeckte. Und hier offenbarte sich der ganze Unterschied zwischen Lenin und Trotzki. Jener ist imstande, — nach dem Worte des alten Liebknecht, — seine ganze Taktik in 24 Stunden von Grund aus zu ändern, wenn es die objektiven Tatsachen erheischen. Dieser wird versuchen, die Tatsachen gewaltsam umzubiegen, wenn sie seinen Absichten, Illusionen oder Wünschen widersprechen. Sein Sinn für die Realität der Dinge geht so weit, dass er die materiellen Vorbedingungen der Herrschaft richtig einzuschätzen versteht. Aber nicht weiter. Darum versteht er nicht, mit der Realität der Machtlosigkeit zu rechnen.

Damals nannte ihn Lenin nicht anders als: „Notre bete noire”. Auf dem Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte zu Moskau, im März 1917, konnte er nicht erscheinen, so sehr war man gegen ihn aufgebracht.

Das zweite Mal erlebte er eine unangenehme Viertelstunde im Sommer 1919, als die Kavallerie Mamontows Orel besetzte und Moskau unmittelbar bedrohte. Die Organisation der Roten Armee war noch kaum in ihren Anfängen, und Trotzki musste die Verantwortung für militärische Niederlagen tragen, die keinem Kriegsminister in solchen Fällen erspart bleibt. Wie, — rief man, — der Mann spielt Soldaten und kann nicht einmal die Gefahr von der Hauptstadt der Revolution abwenden? Seine Projekte, eine reguläre Armee zu bilden, sind toll! Bis es soweit ist, hat man uns längst umgebracht!

Nun, Trotzki vermochte all die Schwierigkeiten zu überwinden. So, bald es sich heraus stellte, dass die Taktik Lenins in Brest-Litowsk die versprochenen Erfolge zeitigte, fand sich Trotzki in die neuen Verhältnisse ein. Er gab nach, um mit umso größerem Eifer an die Schaffung der materiellen Macht zu gehen, deren er und die Revolution brauchten, um nicht ein zweites Mal sich so schutzlos ausliefern zu müssen. Im Sommer 1919 konnte er bereits die Stimmen des Unwillens überhören. Der Ein fall Mamontows wurde schließlich doch zurückgeschlagen, — und der Aufbau der Roten Armee ging von nun an mit rapiden Schriften vorwärts. Trotzki entwickelte eine beispiellose Energie. Drei Jahre lang gönnte er sich keine Ruhe. Überall an der Front und im Hinterlande, wo Gefahr drohte, war er zugegen. Mit kluger Meisterschaft verstand er es, die ausgesprengten Teile des alten Offizierskorps von neuem zu sammeln. Er schmeichelte ihren nationalen Vorurteilen, ihrem Standesbewusstsein, er schüchterte sie ein, umgab sie mit dichtem Drahtverhau ständiger Überwachung, — und nützte sie als williges Werkzeug seiner Organisationskunst aus. Nun sitzt er hoch zu Ross und ist Herr der Lage.

Was wird weiter geschehen? Welche Möglichkeiten birgt noch dieses Schicksal? Sein großer Partner, in dessen Schatten er bislang aufblühte, tritt zurück. Nichts verstellt ihm mehr die Sonne. Die materielle Macht ist in seinen Händen. Was steht bevor?

Aus einem Gespräch, das ich am 27. Oktober 1917 mit Adolf Joffe hatte. Im kleinen, schmutzigen Zimmer eines Seitenflügels im Smolnji. Es war Nacht. Eine einsame Lampe beleuchtete schwach das assyrische Gesicht. Rund herum Gewehre, Mauserpistolen, Handgranaten, Kisten mit Banknoten, Papierfetzen, Überreste von Speisen. Über der Tür die Aufschrift: „Militärisches Revolutionskomitee".

— Aber Sie werden doch nicht abstreiten können, dass Trotzki ein sehr Fähiger Mensch ist!

Gewiss, Er ist zu allem fähig.


(Poststempel: Wien, 7. XI. 10.)

Werter Genosse,

Ich war vier Tage im Krankenhaus (eine kleine Operation), heute bin ich ,,ausgeschrieben" worden. Aber Wanderungen unternehmen kann ich immer noch nicht. Morgen bleibe ich den ganzen Tag beim Genossen Joffe (übrigens: er war bei Ihnen, traf Sie aber zu Hause nicht an). Wenn Sie Morgen nicht herkommen, so werde ich vielleicht in zwei bis drei Tagen Sie aufsuchen können, kann's aber nicht versprechen, denn ich weiß nicht, wie ich mich fühlen werde.

Mit Handdruck
Trotzki.