Lunatscharski, Anatoli (1875-1933) russischer Kulturpolitiker

Auf dem Olymp betrachtet man ihn über die Achsel. Das macht, weil Lunatscharski gar kein Politiker ist. Unter lauter Parteifunktionären nimmt er sich sonderbar aus. Er gibt sich die größte vitale so zu sein wie sie alle: wird, blutdürstig mit Dzerschinski, macchiavellisch mit Radek, kurz angebunden mit Trotzki, schlicht demokratisch mit irgend einem Vertreter der schlichten Demokratie. Denn er fühlt sich schlecht in jenen. Regionen, wo hohe Politik gemacht wird, wo die Geschicke der Völker unbarmherzig gelenkt werden. Und hat Angst, dass man es bemerken wird. Doch was er tut, ist umsonst. Die berufsmäßigen Politiker haben nur ein Lächeln der Geringschätzung für die sonderbare Individualität, die sich da zwischen ihren Füßen herumtreibt.

Lunatscharski ist ein schöner Geist. Er hat die Gabe des beschwingten Wortes, der leicht dahinfließenden Rede, „une langue bien pendue", wie der Franzose sagt. Er schreibt leicht, anmutig, mitunter brillant Er liest sich angenehm, man hört ihn ohne Anstrengung an. Es gibt nichts unter der Sonne, worüber er nicht schreiben oder sprechen könnte. Er verfasst philosophische Abhandlungen, national-ökonomische Broschüren, politische Aufsätze, literarische Essays, Dramen, Tragödien, Schwänke,, Gedichte, Aufrufe, Libretti: alles durcheinander, alles mit derselben schwebenden, tänzelnden, hüpfenden Eleganz.


Sein Geist empfängt willig alle Eindrücke der Außenwelt. Aber die ihm gegebene Außenwelt ist Literatur. Er lebt in der Welt des Geschriebenen, Gedruckten, Gesprochenen. Darum wirkt er immer wie ein Echo. Als der Empirio-Kritizismus aufkam, ward er begeisterter Anhänger Machs, Avenarius, Holzapfels und um jeden Preis dem Baum der marxistischen Erkenntnis empirio-kritische Blüten aufpfropfen. Dann kam in Russland eine Zeit, wo man besonders eifrig anfing, „Gott zu suchen". Alle Überbleibsel der alten slawophilen Mystik wurden lebendig, bereichert durch die neueren Errungenschaften des westlichen Okkultismus. Lunatscharski begab sich sofort unter die Gottsucher. Er schrieb ein zweibändiges Werk über „Religion und Sozialismus" nieder, das ihm in Parteikreisen den Spitznamen der hl. Anatolius" eintrug. In Genf 1912-1917 verkehrte er viel mit Henri Guilbeaux. Das gab seinem Geist jenen Stich ins Melodramatische, der die jüngere französische Literatur auszeichnet. Nun bewegte er sich in der Welt eines Romain Rolland, eines Henri Barbusse: dieselbe etwas pathetische Nachdenklichkeit, dieselbe wattierte Satzbildung, derselbe literarische Humanismus.

Dann kam das expressionistische Drama über ihn. Er verfasste das Schauspiel „Schlosser und Kanzler", die Trilogie „Volk": Emst Toller und Georg Kaiser — vermengt mit Eugene Scribe und Victorien Sardou. Auch von dem Geiste der neuen deutschen Romantik hat er etwas empfangen. Davon zeugen seine Mysterien „Faust und die Stadt", „Ivan im Paradies", „Der befreite Don Quixote": ein gut getroffener Franz Werfet.

Zwischendurch: „Oliver Cromwell", der von Shakespeare, „Der Bader des Kaisers", der von Hebbel, und ein gutes Dutzend Possen, die von jedermann sein könnten. Alles in allem — gut gepflegte Literatur. Es sind immer Blumen, wenn's auch nur Papierblumen sind.

Seit Oktober 1917 ist Lunatscharski Kommissär für Volksaufklärung. Dem unwissendsten Volk der schöngeistigste Aufklärer. „Meinem Magen bekommt nur der Erde gediegenes Schwarzbrot, nicht delikates Bisquit, welches der Himmel serviert", schrieb einmal Feuerbach. Lunatscharski ist mehr für das delikate Bisquit. Als Kommissär ist er gleichzeitig Dichter und Mäzen, Essayist und Volksredner. Er kokettiert mit allen schriftstellerischen Koterien, die in Petersburg und Moskau Paris Vortäuschen möchten. Er fördert junge Talente, die sich meistens als Eintagsfliegen heraussteilen. Aber dafür kann er nichts. Er wollte eine große proletarische Kunst ins Leben rufen, die sich als kleine Nachtreterin der bürgerliehen Kunstlosigkeit entpuppte. Aber dafür konnte er noch weniger. Nun spricht er nicht gern darüber. Nun zieht er es vor, sich an altbewährte Muster zu halten. Er hält seine schützende und segnende Hand über Juschin, der ein schlechter Ludwig Barnay, und über Alexander Tairow, der ein besserer Karlheinz Martin ist. In der Malerei macht er etwa bei Liebermann und Worpswede halt. In der Musik bei Skijabin und Debussy. Im Tanz bei Isadora Duncan.

Aber das ist alles Bisquit. Für kraftvollere Nahrung vermochte Lunatscharski nichts zu leisten. Sie liegt ihm nicht. Er ist kein Organisator. Sein Kommissariat ist der Gipfel der Unordnung, der Unsauberkeit und Verlotterung. Monatelang werden den Volksschullehrern die Gehälter nicht ausgezahlt. Die Volksschulen sind verwüstet. Auf den Universitäten hat sich ein demagogisches Parteitreiben entwickelt, das keine wissenschaftliche Arbeit aufkommen lässt. Die proletarischen Bildungsorganisationen sind ein Tummelplatz verkrachter Nichtskönner und ehrgeiziger Dilettanten geworden Vergebens sucht Lunatscharski dem Übelstand mit flammenden Artikeln und begeisterten Reden abzuhelfen. Um wirksam zu helfen, braucht man Geld: das bekommt Lunatscharski nicht, weil man fürchtet, dass er es zu verschwenderisch für delikates Bisquit ausgibt. Um das Bildungswesen zu heben, muss man vor allem die politische Terrorisierung der Jugend ausrotten: das kann Lunatscharski nicht durchsetzen, weil seine Stimme hohen Rat zu leicht wiegt. „Ein konfuser Kopf“, sagen die Verwalter des Parteidonners. Und so bleibt unter dem Regime dieses schönen Geiste: neben der Macht des Bolschewismus jene andere Macht bestehen, die in Russland seit jeher herrschte: die Macht der Finsternis.

Man hat es versucht, Lunatscharski die Sache zu erleichtern. Man gab ihm Professor Michael Pokrowski zum Gehilfen. Ein grundgelehrter Kopf und felsenfester Bolschewist. Man gründete ein politisches Aufklärungskomitee, das die Gattin Lenins, N. K. Krupskaja, leitet. Aber mit der Zahl der Ammen wurde das Kind immer kränklicher. Das Aufklärungskomitee verschlang riesige Summen und brachte bestenfalls nur brauchbare Agitationsbroschüren heraus. Die Volksschule blieb nach wie vor ohne Heizung und Lehrmittel. Pokrowski organisierte auf den Universitäten kommunistischen Überwachungsdienst und machte jedem Arbeiter den Zutritt zu den Vorlesungen frei. Sein eiserner Besen säuberte die Hochschule von der Sabotage der bürgerlichen Professur, — wogegen sich der schöne Geist Lunatscharskis als zu schwach erwiesen hat. Aber der eiserne Besen war nicht imstande, eine bessere Professur aus dem Boden zu stampfen und in die neuen Studierenden die nötigen Vorkenntnisse zu zaubern. Es war und blieb ein Jammer.

Was konnte die zwiefache Unterstützung Lunatscharski bieten? Weniger als gar nichts. Nur größere Verwirrung in dem ohnehin zerrütteten Apparat seines Kommissariats. Von der Politik wurde er zurückgedrängt das Hochschulwesen ging in andere Hände über, — so blieb ihm nichts anderes denn die schöne Kunst.

Lunatscharski ist, — im Gegensatz zu Mephisto, — die Kraft, „die stets das Gute will und stets das Böse schafft". Er möchte es allen recht machen. Neben dem brutalen Kosakenritt seiner Genossen möchte er die hohe Schule europäischer Reitkunst üben, die Zügel mit samtenen Handschuhen halten. Aber es wird nichts daraus. Lunatscharski veranstaltet interessante Abendunterhaltungen mit jungen Schauspielern und Dichtern, macht großzügige Reklame für irgend eine Tanzelevin, hält hinreißende Vorträge über Moliere vor einem Parterre von Bürgerkriegsspekulanten, und über Marxismus vor den Schauspielern Stanislawskis. Nachts kann man ihn plötzlich in irgend einem Literaten-Café entdecken, umgeben von Tabakqualm und Alkoholdunst, lebhaft gestikulierend, das große Wort führend, geistreiche Aperçus ausstreuend. Doch blüht das Zeitalter der Renaissance nicht auf. Nur dass einige geschickte Abenteurer von der Literatur die Güte des Kommissärs missbrauchen, um ihre privaten Angelegenheiten zu fördern.

Es klappt nicht, weil ein einheitlicher Plan fehlt. Weil Lunatscharski sich lieber mit Ideen und Büchern befasst als mit Menschen und menschliehen Zuständen. Weil er seine Aufgabe wie ein Schriftsteller, und nicht wie ein Beamter behandelt. Lunatscharski ist ein Luxusartikel auf den Gefilden der russischen Armseligkeit. Er ist, — wie jemand treffend bemerkte, — ein Pariser Zylinderhut, den man dem Eingeborenen Australiens aufgestülpt hat. Das nimmt sich nicht gut aus, wenn auch der Hut gleich die auserlesenste Fasson hat.

Wer Lunatscharski jetzt beobachtet, kann sich eines Gefühls des Mitleids nicht erwehren. Es ist etwas Müdes, Abgehetztes, Unbefriedigtes über dieses Temperament gekommen. Wie eine ehemals blanke nagelneue Münze, die sich abgenützt hat. Wie jugendlich frisch klangen seine Reden in Genf, als er von zukünftiger Kultur des Proletariats sprach! Welchen Brustton der Überzeugung fand er, als er vor Petersburger Arbeitern, Soldaten, Matrosen, Studenten, Gymnasiasten das Mirakel der kommenden proletarischen Diktatur feierte! Er gab der Revolution die schöngeistige Note, war die einzige künstlerische Linie in ihrem rohen Ornament. Nun sind fünf Jahre dahingegangen, und was ihn jetzt noch erfüllt, ist unbewusste Resignation und offizieller Optimismus. Was er schreibt, ist flüchtige Skizzenhaftigkeit, was er tut, wirkt lächerlich auf dem Hintergründe des allgemeinen Niedergangs russischer Kultur.

Er war wohl der Einzige, der wirklich aufbauen wollte, dem ein neues Zeitalter Lorenzo Medicis irgendwie vorschwebte. Die anderen zertrümmerten ohne viel Federlesens die alte Welt. Er hatte Respekt vor dem Alten und hoffte, seine lebenskräftigen Keime in das Reich der Zukunft hinüber zu retten. Als im Dezember 1917 die bolschewistische Artillerie den Moskauer Kreml zerschoss, kam Lunatscharski tränenden Auges in die Redaktion der ”Nowaja Schijsn". Er veröffentlichte eine Erklärung, worin er sich von dem Vandalismus lossagte und behauptete, eine Revolution, die solches vollbrächte, nicht mitmachen zu können. „Hysteriker!" meinten die Parteifreunde. „Heuchler!" sagten die Gegner. Die einen irrten sowohl wie die andern. Es war das große Ahnen, das diese kulturwillige Seele durchbebte. Jene Anwandlung der Schwäche war wahrlich das Beschämendste nicht, das einem Leben widerfahren konnte. Später siegte die Parteidisziplin, aber wer weiß, wie oft Lunatscharski an die Stunde zurückdenkt, da ihn jene wehmütige Schwäche übermannte?

Seither ist viel Wasser unter den Brücken dahingeflossen. Lunatscharski entfernte sich immer mehr von der Politik, um sich in den Potemkin sehen Dörfern seiner Schöngeistigkeit auszuleben. Nie wird ihm zum Bewusstsein kommen, welches Unheil er in der neueren Geistesgeschichte Russlands angerichtet hat. Je größer der Abstand zwischen der traurigen Wirklichkeit und dem wohlwollenden Eifer seiner Wünsche, um so mehr wird er mit der scheinbaren Aktivität fürlieb nehmen, die ihn jetzt erfüllt. Sein Weg ist vorgezeichnet. Er wird hübsche Gedichte und talentvolle Theaterstücke machen, anregende Unterhaltungen pflegen und im übrigen auf das große Wunder warten, welches alles in eitel Lust und Wohlgefallen auflösen soll. Der unsterbliche Florentiner, über dessen Werk er so angenehm zu plaudern weiß, hat schon das Motto zum Leben dieses Volkskommissärs gegeben. Der Weg zur Hölle, heißt es in der „Göttlichen Komödie", ist mit den besten Vorsätzen gepflastert.

Dass Lunatscharski ein zu kostspieliges Vergnügen ist, merken die Olympier schon seit langem. Des öfteren wurde die Frage angeschnitten, ob er nicht ersetzt werden könnte. Lunatscharski bleibt. Denn erstens findet sich niemand, der es wagen würde, seine Erbschaft anzutreten. Und zweitens weiß man nicht, wohin mit dem Mann. Man fürchtet, dass er an jedem anderen Ort noch unheilvollere Verwirrung anstiftet. Ihn aber einfach zurück in die Schreibstube zu schicken, geht doch nicht gut an. Es ist eben nicht leicht, schöner Geist zu sein, zumal während der Revolution.