Erste Fortsetzung

In Russland traf bereits diese erste, grundlegende Voraussetzung nicht zu. Das Volk war dort parteipolitisch organisierter, klassenpolitisch entwickelter als das Bürgertum selbst, — von dem „Volk" der großen bürgerliehen Revolutionen der früheren Jahrhunderte schon ganz zu schweigen. Es war im Besitze bestimmter geschichtlicher Erfahrungen, politischer Programme und Traditionen. Die Parteien, die seine Interessen vertraten, waren nicht nur viel älter als die Parteien des Bürgertums, sondern auch bedeutend einflussreicher. Diese Parteien mussten nun mit Vorbedacht zurücktreten, sich wissentlich einschränken, um der Bourgeoisie die Durchführung der bürgerlichen Revolution zu ermöglichen. Mit anderen Worten, sie mussten künstlich jene Voraussetzung schaffen, welche die natürliche Grundlage der bürgerlichen Revolutionen gewesen ist.

Das wäre aber nur in dem Falle möglich, wenn das Bürgertum einen praktischen Weg gefunden hätte, auf dem es die materiellen Kräfte der Nation sich hätte botmäßig machen können. Das französische Bürgertum hat einen solchen Ausweg gefunden: den Krieg. Die Feldzüge Bonapartes, weiche die bürgerliche Ordnung in Frankreich konsolidierten und die Revolution vollendeten, waren eben nichts anderes als ein heroisches Auskunftsmittel der Bourgeoisie, die ganze Nation um ihr Banner zu scharen, ihrer Energie, ihrem Tatendrang, ihren praktischen Interessen einen Ausweg zu geben. Die napoleonische Armee war das Volk, das die Bourgeoisie zu den Waffen gerufen hat und gegen das feudale Europa richtete, indes sie selbst zu Hause, hinter der Front, ihre Stellungen ausbaute, ihre Reichtümer vermehrte, ihre Wirtschaftsverhältnisse prüfte. Dieses Auskunftsmittel blieb der russischen Bourgeoisie versagt. Sie konnte nicht Krieg führen, denn sie war selbst mit der Erbschaft des imperialistischen Krieges schwer belastet. Ihre Revolution vollzog sich, nachdem das Volk bereits zermürbt, die Armee aufgerieben und die Kriegswirtschaft aufgelöst waren. Unter den Faktoren, die ihre Revolution ermöglichten, spielte die Kriegsmüdigkeit der Massen die ausschlaggebende Rolle.


Umsonst versuchten die Wortführer des Bürgertums die Kriegsbegeisterung von neuem zu entfachen. Die Armee, die willig allen ihren Winken folgte, solange es galt, die alte Ordnung unschädlich zu machen, blieb in diesem einen Punkte verstockt. Nicht nur, dass sie nicht weiter kämpfen wollte — sie konnte es auch nicht mehr tun. Die Revolution hat die alte militärische Disziplin von Grund aus erschüttert. Gleichzeitig hat sie alle gesellschaftlichen Verhältnisse aus Rand und Band gebracht. Die bürgerliche Intelligenz, die bis dahin den Krieg bediente, stellte sich nunmehr in den Dienst der Revolution. Der Soldat sah täglich neue Redner und Kommissäre, aber er bekam keine richtige Verpflegung mehr, keine Briefe von zu Hause, keine Munition, keine Kleider. Unter solchen Verhältnissen war es Wahnwitz, zu hoffen, dass die Kampffähigkeit der Armee ungeschwächt fortbestehen würde. Es ist auch eine nicht abzuleugnende Tatsache, dass alle Versuche, die nach der Revolution unternommen wurden, um die militärische Schlagfertigkeit Russlands zu erhalten, nur entgegengesetzte Wirkungen gezeitigt haben. Als es mit Aufbietung aller Kräfte gelang, die Juni-Offensive Brussilows durchzuführen, stellte sich sofort heraus, dass sie ein Versuch mit untauglichen Mitteln gewesen war. Eine Armee, die sich, statt mit Gewehren, mit Stöcken bewaffnen musste, die barfuß über Drahtverhaue dahinstürmte, tagelang keine Rationen mehr bekam, war selbstverständlich dem Untergang geweiht. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich an allen Fronten. Die Kriegsmüdigkeit der Armee wäre nie so scharf zum Durchbruch gekommen, wenn die Revolution den ganzen Kriegsdienst nicht zerrüttet hätte, den vier Jahre zaristischer Lotterwirtschaft schon ohnehin arg mitgenommen hatten. Vom ersten Tage seiner Herrschaft an musste somit das Bürgertum die große Illusion verabschieden, die ihm zukunftverheißend winkte, als es sich anschickte, die Macht zu ergreifen. Es konnte unmöglich, die nationale Einigkeit auf den Schlachtfeldern des Krieges aufrechterhalten. Seiner Revolution blieben nur noch innerpolitische Entwicklungsmöglichkeiten offen. Hier aber war der zweite gewaltige Unterschied im Vergleich zu den früheren Revolutionen des Bürgertums. 1789, als die französische Bourgeoisie die Fesseln, des ancien reime sprengte, waren die Widersprüche im Schoße der kapitalistischen Wirtschaftsordnung noch unentwickelt. Die Bourgeoisie repräsentierte den Kapitalismus en bloc als diejenige Produktionsweise, in der sich alle Interessen des werktätigen Volkes befriedigt fühlten. Daher konnte sie ihre eigenen privaten, egoistischen Interessen unter dem Deckmantel großer demokratischer Parolen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verbergen. Die russische Revolution kam hingegen so spät zur Welt, dass die Gegensätze der Wirtschafts-Ordnung, die sich innerhalb der feudalen Verfassung entwickelt hatte, bereits zur vollen Blüte gelangt waren. Der politische Druck der feudalen Monarchie war stark genug, um die Entwicklung des Bürgertums zu hemmen und sein politisches Wachstum gründlich zu beeinträchtigen, aber er reichte nicht aus, um die Entwicklung der Klassengegensätze auszuschalten. Im Gegenteil: eben darum, weil der bürgerliche Liberalismus sich solange vom Trugbild verfassungsmäßiger Opposition blenden ließ, musste er ein kümmerliches und verkrüppeltes Dasein führen, während die Arbeiterbewegung auf dem gefährlichen Boden der Illegalität viel besser gedieh und alle Klassengegensätze viel schärfer zuspitzte.

Was auf den Sturz des Zarismus folgte, war also keinesfalls die Hegemonie des Bürgertums als des fortgeschrittensten und fortschrittlichsten Teils der Nation, sondern bürgerliche Geschäftsführung auf Grund freiwilliger Selbstbescheidung aller links stehenden Parteien. Nicht das Bürgertum riß die ganze Nation mit sich fort, sondern die ganze Nation musste sich geflissentlich zurückhalten, damit die Politiker des Bürgertums die Möglichkeit ungestörter Geschäftsgebarung bekämen. Mit anderen Worten: die russische Februar-Revolution war nicht eine Volksrevolution von Bürgertums Gnaden, wie die französische Revolution von 1789 oder die englische von 1642, sondern eine nominell bürgerliche Revolution von Volkes Gnaden.

Neben der Organisation der bürgerlichen Macht — und unabhängig von ihr — begann eine andere Macht sich sofort zu organisieren: die sogenannte Demokratie. Sie umfasste alles, was nicht unmittelbar an den Interessen des industriellen Besitzes beteiligt war. Vor allem die Bauern, schaff. Dann die Armee. Schließlich die Arbeiter und die Arbeitslosen. Die liberalen Berufe — Schriftsteller, Advokaten, Studenten — spielten die Rolle ihres Vortrabs. Das war der Resonanzboden der Revolution. Neben dein Komitee der Reichsduma etablierte sich im Taurischen Palais der Exekutiv-Ausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates, der mit dem ersten Tag der Revolution ins Leben kam. In ihm waren sämtliche sozialistischen Parteien vertreten. Sehr bald wurde er zum Mittelpunkt der ganzen nachherigen Revolutionsbewegung.

Diese Zwiespältigkeit der Revolution bildete von vornherein ihr charakteristischstes Merkmal. Ihre Machtentfaltung ging nicht von einem Zentrum aus. Ihre Energien hatten zwei verschiedene Sammelbecken. Das Bürgertum stellte die Regierung, seine Politiker vertraten die staatliche Legalität der Revolution. Aber die eigentliche Macht organisierte sich außerhalb des Bereiches seiner Wirkung. Weit davon entfernt, die ganze Nation zu vereinigen, spaltete sie die Revolution im Gegenteil entzwei.

Die sozialistischen Parteien, welche die wirkliche Macht hatten, traten sie dem Bürgertum ab und wollten sich mit der Rohe der Antreiber im Wettlauf der politischen Parteien begnügen. Sie hatten nicht die Absicht, die Verantwortung für die Geschäftsführung der bürgerlichen Politiker zu übernehmen. Auf eigene Faust eine Regierung zu stellen, trauten sie sich ebenfalls nicht zu. Die Sachlage war zu ungewiss. Die außenpolitische Stellung Russlands unter dem Drucke der verbündeten imperialistischen Demokratien erforderte entweder schroffen Bruch mit den Bundesgenossen oder aber besinnungsloses Nachgeben. So schien es den sozialistischen Politikern ratsamer, dem Bürgertum die leitende Stellung zu überlassen und die eigene organisierte Macht nur zum Zwecke einer wirksamen Beeinflussung ihrer Politik auszunützen. Kerenski war, wie schon erwähnt, der einzige Sozialist im bürgerlichen Revolutionsministerium. Aber er wurde Mitglied dieses Kabinetts sozusagen auf persönliche Einladung. Er trat ihm bei nicht nur ohne Ermächtigung des Arbeiter- und Soldatenrates, sondern entgegen seiner ausdrücklichen Entschließung, die den Mitgliedern der sozialistischen Parteien die Teilnahme am bürgerlichen Ministerium untersagte.

Man wollte das Bürgertum bevormunden, kritisieren, antreiben, aber man hütete sich davor, mit ihm in eine unmittelbare organische Verbindung zu kommen. Ja mehr noch: hinter den Kulissen waren die Führer des Exekutivausschusses bereit, alles aufzubieten, um den bürgerlichen Ministern die Wege zu ebenen. Sie schraubten ihre Forderungen immer mehr zurück, unterstützten willfährig die Geheimdiplomatie Miljukows, spornten die Massen zu immer größerer Selbstbescheidung an. Fast zogen sie es vor, unbewusste Werkzeuge der bürgerlichen Politik zu werden als für sie offiziell und bewusst die Verantwortung zu übernehmen.

Selbstverständlich war den bürgerlichen Parteien die Rolle ihrer sozialistischen Aufpasser höchst zuwider. Diese Vormundschaft, die auf immerwährendes Kritisieren hinauslief, wurde ihnen mit jedem Tag unerträglicher. Aber was sollten sie tun? Mit dem Exekutivausschuss brechen bedeutete soviel als alle Stützpunkte in der breiten Masse verlieren. Das Bürgertum regierte, aber es war machtlos ohne Unterstützung des Exekutivausschusses. Der Exekutivausschuss hatte die Macht in seiner Hand, aber er wollte sie nicht selbständig ausüben, denn er war hilflos ohne Unterstützung des Komitees der Reichsduma, d. h. der provisorischen Regierung, d. h. des Bürgertums. So bot diese Revolution gleich am Anfang ihrer Entwicklung das merkwürdige, nahezu unwahrscheinliche Bild dar: ihre beiden getrennten Gegenpole fühlten sich jeder allein zu schwach, um ein selbständiges Dasein zu führen, und waren doch zu stark, um sich organisch zu verbinden.

Jeder hoffte sein Ziel nur auf Umwegen zu erreichen. Die Sozialisten, indem sie ihre latente Kraft aufspeicherten, die Bürgerlichen, indem sie diese aufgespeicherte Kraft hintanhielten.