Die Entwicklung der russischen Revolution

Die Revolution von 1917 kam als riesenhafte Nachgeburt jener von 1905 zur Welt. Damals, — 1905, zog sich die Bourgeoisie zurück, der Reaktion das Feld und das Volk seinem Schicksal überlassend, weil außerstande, gleichzeitig die Regierung des Zaren im Schach zu halten und sich der immer wachsenden Ansprüche der Arbeitermassen zu erwehren: Mit dem Zurücktreten des Bürgertums war das Schicksal der Revolution besiegelt.

Aber wahrlich: aufgeschoben war auch in diesem Falle nicht aufgehoben. Den Widerspruch zwischen dem steigenden Machthunger der Bourgeoisie und der augenscheinliehen Machtlosigkeit, zu der sie im Rahmen des zaristischen Staates verurteilt war, wurde immer einschneidender, die Verhältnisse spannten sich immer mehr an. Mit dem Kriege musste die Entscheidung kommen. Indem das Bürgertum im Kriege eine Probe auf das Exempel seiner weltpolitischen Reife liefern wollte, musste es gleichzeitig versuchen, auch ein innerpolitisches Reifezeugnis zu erwerben.


Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Wortführer des Bürgertums den Krieg von vornherein nützen wollten, um alle jene politischen Probleme, die seit 1861 die soziale Entwicklung Russlands beherrschten, endlich zu lösen. Es steht fest, dass der Krieg für die russische Bourgeoisie nur ein Vorwand war, um das zaristische Regiment loszuwerden. Die imperialistischen Kriegsziele, die Miljukow begeisterten, ließen die große Masse des Bürgertums kalt. Die offiziellen Programme der Kriegsführung, die dem Reifegrad des westeuropäischen Kapitalismus entsprachen, hatten für das rückständige Wirtschaftsleben Russlands keine unmittelbare praktische Bedeutung. Damit wäre kein Hund hinter dem Ofen zu locken.

Die Kriegsbegeisterung des russischen Bürgertums entsprang einer andern Quelle. Instinktiv fühlte es, dass nunmehr seine Stunde gekommen sei, dass es endlich die Möglichkeit in die Hand bekomme, seine lang, jährige, wechselvolle Auseinandersetzung mit dem Zarismus zu Ende zu bringen und Herr im eigenen Land zu werden. Vielerlei Umstände waren es, die seine Rechnung zu bestätigen schienen.

Zunächst ganz allgemein: der Zarismus konnte den Krieg nicht führen, ohne alle lebendigen Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft zu entfesseln. Ihr Organisationsgeist, ihre materiellen Mittel, ihre soziale Widerstands. Fähigkeiten waren notwendig, um die ungeheuren Lasten des Krieges erträglich zu machen. Dieser Krieg war kein Abenteuer mehr wie jener im nahen Osten, aus dem die Monarchie mit einem blauen Auge davonkommen konnte, weil er nur einen Teil ihrer Kräfte in Anspruch nahm. In dem Zusammenprall hoher kapitalistischer Kulturen, in den Russland mit hineingezogen wurde, konnte man sich nur mit Anspannung aller Kräfte behaupten. Die militärische Organisation allein genügte nicht Das Bürgertum wusste ganz genau, dass ohne seine tätige Mitwirkung die Regierung des Zaren auch nicht einen Tag lang Krieg zu führen vermochte. Es war fest entschlossen, die daraus entstehende günstige Konjunktur gehörig auszunützen,

Im Falle eines Sieges hoffte es, in den verbündeten Demokratien Rückhalt zu finden, um die Regierung nachgiebig zu machen und die politische Verfassung Russlands den Bedürfnissen der bürgerlichen Entwicklung anzupassen. Andernfalls aber, — im Falle einer Niederlage, mit der die bürgerlichen Politiker je mehr rechneten, je weiter der Krieg fortschritt, war sich die Vorhut des Bürgertums vollkommen klar, dass es nur mit der Hand zu rühren brauchen würde, um die abgewirtschaftete Dynastie davonzujagen. Dass der Zarismus eine Niederlage im Weltkrieg unmöglich überleben könne, stand für jeden Einsichtigen fest.

Wie die Verhältnisse lagen, brannten die Vorkämpfer des Bürgertums förmlich darauf, die Rolle der Strohmänner, die ihnen die zaristische Bürokratie einräumte, aufzugeben, um für die weiteren Geschicke Russlands verantwortlich zu zeichnen. Die Kriegsführung beherrschten sie tatsächlich. Die Verpflegung der Armee, die Munitionsbeschaffung, die Krankenpflege, die Transportverhältnisse; alles wurde in Wirklichkeit von selbsttätigen bürgerlichen Verbänden geleitet, die sich gewissermaßen als Staat im Staat organisierten, ob sie schon gleich unter misstrauischer Aufsicht der offiziellen Regierung standen.

Es galt nur noch diese Tatsachen formell festzustellen. So war denn das Bürgertum auch entschlossen, nicht länger zu warten. Nun war es seiner Sache vollkommen sicher. Es schickte sich an, nicht nur das morsche Gebäude des Zarismus wegzufegen, sondern auch jene Kräfte im Zaum zu halten, die ihm früher unheimliche Furcht einflößten. Denn jenes Wort von nationaler Verteidigung, das die Nation gegen den Zarismus armieren sollte, sollte sie gleichzeitig gegenüber den bürgerlichen. Nachfolgern der zaristischen Politik entwaffnen. 1905 stand die Revolution als soziale Revolution da und konnte den ganzen Rattenkäfig der Agrar- und Arbeiterfragen in keiner Weise umgehen. Ganz anders erschien sie dem Bürgertum jetzt: jetzt stand sie schwertrasselnd, in militärpolitischem Gewände vor der Tür, — und über den nächsten Aufgaben jener erregten Zeitläufte hoffte man nun, — sogar mit einer gewissen Selbstverständlichkeit! — die brennendsten sozialen Probleme auf die lange Bank schieben zu können. Das russische Bürgertum war bereit, die Stunde zu nützen, um zur Macht zu gelangen, so lange noch der ferne Kanonendonner die Aufmerksamkeit seiner sozialen Antipoden in Anspruch nahm.

Denn, — und hier berühren wir die zweite wichtige Frage, — während die bürgerlichen Parteien selbstbewusst ihre politische Rüstung bereit machten, rüsteten die sozialistischen Parteien ab. 1905 sahen sie ein, dass sie ohne Unterstützung des Bürgertums die Revolution nicht durchführen könnten. Nun wollten sie ihm freie Bahn lassen, damit es seine geschichtliche Aufgabe erledigen könne. Sie waren bereit, dem Bürgertum, — unter bestimmten Bedingungen allerdings, — die Massen zu liefern, welche die Revolution tragen sollten, wollten aber gern ihm die Führung überlassen, sofern es sich den dringendsten Interessen dieser Massen gegenüber nicht verschließen würde.

So günstig standen alle Gestirne am sozialpolitischen Himmel Russlands, als das Bürgertum sich entschloss, das Zeichen zum Aufmarsch zu geben. Im Vergleich zu der zerfahrenen und verlotterten Kriegführung des Zarismus war die Revolution, wenigstens was Petersburg und Moskau anbelangte, merkwürdig gut organisiert. Jetzt, wo das Bürgertum sich auf Volk und Armee stützen konnte, ohne die unangenehmen Begleiterscheinungen dieser gefährlichen Bundesgenossenschaft zu befürchten, ging alles wie am Schnürchen. Die prompt vollzogenen Administrations- und Regierungssäuberungen der Petersburger Kanzleien bewiesen zur Genüge, dass in den Kreisen der politischen Aspiranten des bürgerlichen Liberalismus kein Personalmangel herrschte. Es war ein frappanter Kontrast zwischen der Promptheit der innerpolitischen und der totalen Zerfahrenheit der militärischen Kriegführung, der auf die soziale Bedeutung jenes Abschnittes der russischen Geschichte ein grelles Geht warf. Es zeigte sich nämlich, dass die Kraft des russischen Bürgertums in dem Maße stieg und dass seine historische Aktionsfähigkeit in dem Maße an Bedeutung gewann, in welchem es den eigentlichen Nährboden seiner politischen Interessen berührte, d. h. sofern sein gewaltsam zurückgehaltener Machtwille zum Durchbruch gelangte.

Wie alle geschichtlichen Begebenheiten Russlands, kam auch diese mit einer namhaften Verspätung ans Ziel, und was Frankreich 1789, Deutschland 1304-1813 ( und dann wieder 1871) auf das Konto der bürgerlichen Freiheit buchen konnte: dies Nämliche vollbrachte nun Russland 1917, — allerdings inmitten einer von Grund aus veränderten Welt!

Die organisatorische Zentralstelle der Februar-Revolution war die Reichsduma. Dieses Rumpfparlament bildete das einzige legale Werkzeug, welches den bürgerlichen Politikern zur Verfügung stand und dessen verfassungsmäßige Macht sie der Autorität des Zaren wirksam entgegenstellen konnten. So wurde das Taurische Palais zum Sammel- und Ausgangspunkt aller revolutionären Energien nicht nur in Petersburg allein, sondern im ganzen Lande. Dorthin begaben sich aufständische Regimenter, dort nahmen ihren Sitz die Revolutionsbehörden ein, dort fanden alle Besprechungen der führenden Persönlichkeiten der Revolution statt. Im Laufe von einigen Tagen, vom 28. Februar bis 3. März 1917, konnte das Komitee der Reichsduma, als dessen eigentliche Führer Miljukow, Rodzianko, Gutschkow auftraten, die ganze Macht im Lande an sich reißen. Es verhandelte mit dem Zaren, es verfügte über die materiellen Kräfte der Revolution, es stellte das neue Kabinett auf. Die Liste des ersten russischen Revolutionsministeriums bot im liberalen Gewand ein Ministerium des großen Grundbesitzes und der großen Industrie, mit der einen einzigen Ausnahme Kerenskis. Die bürgerliehen Politiker sahen sich auf dem Gipfelpunkt ihrer Wünsche. Der bürgerliehe Charakter der Revolution schien endgültig verankert und augenfällig offenbart zu sein.

So endgültig und so augenfällig, dass Rosa Luxemburg, die bedeutendste Theoretikerin des westeuropäischen Kommunismus, noch 1918 wie folgt urteilen zu können glaubte: „Die erste Periode der russischen Revolution, von deren Ausbruch im März bis zum Oktoberumsturz, entspricht in ihrem allgemeinen Verlauf genau dem Entwicklungsschema sowohl der großen englischen wie der großen französischen Revolution. Es ist der typische Werdegang jeder ersten großen Generalauseinandersetzung der im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft erzeugten revolutionären Kräfte mit den Fesseln der alten Gesellschaft" (Vgl. Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung. Aus dem Nachlass von Rosa Luxemburg herausgegeben und eingeleitet von Paul Levi. Verlag Gesellschaft und Erziehung G. m. b. H., 1922, o. O., S. 73.)

Indes ist diese Auffassung, bei aller Plausibilität, ebenso irrig wie die Siegeszuversicht der bürgerlichen Politiker eine Selbsttäuschung war. Das hat die Geschichte einwandfrei bewiesen. Eines fehlte der Februar-Revolution vor allem, um den „typischen Werdegang" einer bürgerlichen Revolution zu bieten: die Fassade der nationalen Einigkeit. In allen früheren Revolutionen trat das Bürgertum als Vertreter des ganzen „Volkes" auf. So tiefgehend der Zwiespalt innerhalb der bürgerlichen Parteikonfiguration auch gewesen sein mag, so wenig konnte er die Tatsache aus der Welt schaffen, dass es die Parteien des Bürgertums waren, die das Gesamtinteresse der revolutionären Epoche zum Ausdruck brachten. Die französische Revolution von 1789 entwickelte sich durch Widersprüche, ständigen Parteikampf, fortwährende Umgruppierung innerhalb der herrschenden Klasse, wobei immer neue Schichten eben dieser selben Klasse zur Herrschaft gelangten. Aber sie vollbrachte nichts anderes als Herstellung der bürgerlichen Ordnung, der kapitalistischen Wirtschaft, die das feudale Regiment ablösen sollten. Alle anderen Klassen traten in der Revolution nur auf, insofern die Bourgeoisie ihr Interesse an dieser Ordnung, an dieser Wirtschaft sich auswirken ließ.