Zweite Fortsetzung

Der. Zwiespalt der Gewalt dauerte etliche Wochen. Es versteht sich von selbst, das die Situation, in der die einen hätten regieren können, wenn sie nur gewollt hätten, und die andern nicht regieren konnten, wie sie wollten, aber nichts desto weniger regieren mussten, auf die Dauer unhaltbar war. Die Spannung wurde immer unerträglicher. Die Kriegs- oder vielmehr die Friedensfrage war es, welche die Krisis herbeiführte.

Die Differenzen, die in Ansehung dieser Frage zum Ausdruck kamen, waren allerdings nicht grundsätzlicher Natur. Die bürgerlichen Minister wollten unter allen Umständen Krieg führen. Aber auch die linken Parteien waren in überwiegender Mehrzahl sozialpatriotisch gesinnt. Sie dachten gar nicht daran, den Krieg gewaltsam abzubrechen und das Bündnis mit den Ententeländern zu kündigen. Was sie jedoch von den bürgerlichen Kriegshetzern unterschied, war zunächst die Einsicht, dass die Armee in hohem Grade kriegsunwillig sei und dass sie jedenfalls unter keinen Umständen mit einfachen Disziplinarmaßnahmen zum Weiterkämpfen bewegt werden könne. Hinzu kam noch der Wunsch, neben der Kriegführung auch einiges für die Friedensführung zu tun.


Wie man sieht, ein sehr gemäßigtes Programm. Sein Schlagwort war: „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker". Wie man sieht, ein sehr verschwommenes Schlagwort. Seine praktischen Mittel waren: Verständigung mit den sozialistischen Parteien der Entente und sachter Druck auf die imperialistische Diplomatie, der man zu verstehen geben wollte, wie wenig zuverlässig die russischen Heere im Grunde genommen geworden waren. Wie man sieht, sehr behutsame Mittel. Aber selbst dieses gemäßigte Programm, dieses verschwommene Schlagwort, diese behutsamen Mittel erschienen den Trabanten der bürgerlichen Außenpolitik vom Schlage Miljukows ungeheuerlich. Sie maßen sich bereits nicht anders als mit der Elle eines Clemençeau oder Lloyd George und versuchten, die hartgesottenen Schrittmacher imperialistischer Gewaltpolitik womöglich noch zu überbieten, öffentlich waren sie zwar gezwungen, in den sauren Apfel zu beißen. Die provisorische Regierung erklärte sich mit den Kriegszielen der Demokratie einverstanden und legte am 27. März dem Exekutivausschuss des Arbeiter- und Soldatenrats den Text einer Kundgebung vor, der sich im Großen und Ganzen — wenn auch in etwas abgeschwächter Form — mit dem Programm der Linken deckte. Das war aber blanke Heuchelei, eben dieselbe Heuchelei, die bekanntlich die Konzession darstellt, welches das Laster der Tugend einräumt.

Am 18. April richtete Miljukow unter der Hand an die diplomatischen Kanzleien der Verbündeten eine Erläuterung, die auf nichts anderes hinauslief, als auf strikte Verleugnung und grundsätzliche Entstellung jener Kundgebung vom 27. März. Der vollzogene politische Umschwung, meinte Miljukow, sollte nicht die geringste Veranlassung geben, zu glauben, dass eine Schwächung Russlands im gemeinsamen Kampfe der Alliierten eintreten könne. „Ganz im Gegenteil: das Streben des gesamten Volkes, den Weltkrieg bis zum entscheidenden Siege fortzuführen, ist nur noch stärker geworden."

Diese Note Miljukows enthüllte die ganze Unhaltbarkeit der Lage. Nunmehr war es klar, dass die sozialistischen Parteien entweder den bürgerliehen Politikern vollkommen freie Hand lassen mussten oder aber gezwungen waren, an der Regierung organisch teilzunehmen. Am 30. April wurde das bürgerliche Ministerium gesprengt. Seine einflussreichsten Mitglieder, Miljukow und Gutschkow, mussten gehen. An ihre Stelle trat die Koalitionsregierung aus Bürgerlichen und Sozialisten. Die zweite Phase der Februar-Revolution nahm damit ihren Anfang.

Das Bürgertum behielt nicht nur die auswärtige und die innere Politik in seinen Händen, sondern auch den gesamten Staatsapparat: Finanzen, Justiz, Unterrichtswesen, Handel und Industrie. Den Sozialisten fielen entweder Sinekuren zu, wie beispielsweise Post und Telegraphie oder Staatskontrolle, oder aber solche Ministerien, in denen sie sich nur als Überredungskünstler der bürgerlichen Politik betätigen konnten: Krieg und Marine, Arbeit, Verpflegungswesen.

Die Geschichte der Koalitionsregierung ist ein trostloses Kapitel ständigen Wankens und vollkommener Hilflosigkeit. Jetzt, nachdem die Zwiespältigkeit der Revolution im Innern der Regierung selbst sich betätigen konnte, musste ihre lähmende Wirkung noch fühlbarer werden. Die Politik der Koalitionsregierung bestand von nun an darin, dass eine Partei die andere an den Rockschößen festhielt. Selbstverständlich konnten die Sozialisten weder ihr wirtschaftliches noch ihr außenpolitisches Programm verwirklichen oder auch nur anschneiden, ohne ihre bürgerlichen Kollegen vor den Kopf zu stoßen. Allein ebenso selbstverständlich waren die Bürgerlichen außerstande, ihre eigene Politik durchzusetzen, ohne die Koalition preiszugeben, d. h. ohne der Demokratie unzweideutig den Krieg zu erklären. Die Koalition verlängerte zwar die Lebensdauer der Februar-Revolution, aber sie vermochte nicht, ihr Lebensfähigkeit vorzutäuschen. Der Widerspruch wurde zu einer schleichenden Krankheit und konnte schon gar nicht mehr aufgehoben werden. In der Periode der Koalition ging das Land mit Meilenstiefeln der Auflösung entgegen. Nicht nur, dass alle Radikalfragen seiner Existenz, — die Frage nach dem Frieden, nach dem Land, nach politischer Verfassung, nach sozialer Ordnung, — unbeantwortet blieben: der ganze Mechanismus des sozialen Daseins ging auseinander. Der Verkehr stockte, die Arbeit erlahmte, die Kultur verwilderte. Ein Betrieb nach dem andern stellte die Arbeit ein. Auf dem flachen Lande bemächtigte sich der Bevölkerung immer höher steigende Unruhe. In der Armee griff die Verzweiflung um sich und mit ihr die Insubordination. Agrarunruhen, Streiks, Arbeitslosendemonstrationen, Matrosenmeuten, Armeeaufstände lösten einander ab, ohne dass die Regierung etwas anderes als passive Resistenz üben konnte. Die staatliche Gewalt war ohnmächtig, innerlich aufgerieben, praktisch belanglos. So musste sie der Zustand der Anarchie ablösen, der mit jedem neuen Tag neue Fortschritte machte.

Zwei Begebenheiten waren besonders augenfällige Fingerzeige dafür, dass der Boden unter der Koalitionsregierung vollkommen unterwühlt war. Zuerst der Aufstand vom 3.-5. Juli. An ihm beteiligten sich alle jene Schichten der Bevölkerung der Hauptstadt, welche die materielle Macht der Februar-Revolution bildeten: Garnison und Arbeiterschaft Petersburgs, Kronstädter Matrosen, ein Teil der kleinbürgerlichen Intelligenz. Dann der Aufstand Kornilows vom 27. August, an dem sich alle jene Elemente beteiligten, — oder mit dem sie sympathisierten, — welche die Februar-Revolution offiziell gemacht haben: Offiziere, bürgerliche Politiker, der größte Teil der kleinbürgerlichen Intelligenz.

Beide Male konnte die Koalitionsregierung den Sturm meistern. Aber es waren wahrhaftig Pyrrhus-Siege. Der Juli -Aufstand löste sich von selbst auf, weil den Aufständischen ein bestimmtes Programm fehlte und weil die Partei, die an ihrer Spitze stand, — die Partei der Bolschewisten, — damals noch Bedenken hatte, die Macht zu ergreifen. Der Augustputsch wurde im Keime erstickt, weil die Koalitionsregierung sich unter den Schutz eben derselben Mächte begab, die sie gleichfalls stürzen sollten. Sie musste bolschewistische Agitatoren aufbieten, um die Petersburger Garnison zu überreden, die Hauptstadt zu verteidigen. Was man gegen Kornilow verteidigte, war nicht die Koalitionsregierung als solche, sondern das Dasein der Revolution schlechthin.

Was tat inzwischen die provisorische Regierung? Sie tat Schlimmeres als nichts: sie lebte von einem Tag zum andern, immer auf ein Wunder hoffend, das sie plötzlich über alle Berge bringen würde. Während alles ringsherum auseinanderfiel, versuchte sie sich und andern einzureden, dass alles in schönster Ordnung sei. Es gibt eben noch schlimmere Blinde als jene, die nicht sehen wollen: jene, die blind sind und vorgeben, ausgezeichnet zu sehen.

Die Beschäftigung der Koalitionsregierung während fünf Monaten ihrer Herrschaft bestand darin, dass sie immer neue Beratungen, Konferenzen, Tagungen einberief, worin immer dieselben Partei Vertreter mit immer denselben Redensarten, mit immer derselben Leidenschaft sich gegenseitig die Überzeugung beibrachten, dass ihnen die Einigkeit nottue. Man lag sich förmlich in den Haaren, um gegebenenfalls die Einigkeit mit Gewalt zu erzwingen. Jedes mal ging man freudestrahlend auseinander, nachdem man die stolzesten Entschlüsse gefasst und die besten Vorsätze bekundet hatte.

Auf diesem Wege versuchte die provisorische Regierung eine öffentliche Meinung um sich zu schaffen, sich den Anschein der Bodenständigkeit zu geben. Aber diese Surrogate des Parlamentarismus waren keine Heilmittel, sondern nur Symptome immer akuter werdender Erkrankung. Das offizielle Leben spielte sich mit mechanischer Eintönigkeit außerhalb jeglicher praktischer Berührung mit den Forderungen des gemeinen Lebens ab. Je mehr die Koalition sich zu halten versuchte, indem sie einige Dutzend oder einige Hundert Mitglieder ihrer Parteien zusammenrief, die tage- und wochenlang vom Morgen früh bis Abend spät berieten, wie dem Vaterland am sichersten zu helfen sei, — umso augenfälliger stellte es sich heraus, dass sie in der Luft hing.

Es war der unwürdigste Abschnitt der Revolutionsgeschichte. Dieses geschwätzige Schauspiel wirkte immer lächerlicher und widerwärtiger auf jene Massen, die stets den Hintergrund der Revolution ausfüllten und kein Verständnis für diese Zusammenrottung von berufsmäßigen Politikern hatten. Sie verlangten greifbare Tatsachen anstelle wohlgemeinter Reden. Sie würden der Koalitionsregierung eher machtvolle Diktatur verzeihen als dies ohnmächtige Geschwätz von der Notwendigkeit einer Diktatur, mit dem sie sich die Zeit vertrieb.

Die Regierung probierte alle Mittel aus, um, sich zu halten, ohne auf das naheliegendste zu kommen. Sie ersetzte ihre Minister durch neue, sie tauschte unter ihnen die Ministerien aus, gab sich verschiedene neue Namen, forderte immer neue Machtbefugnisse. Aber sie machte den Eindruck einer im luftleeren Raum um sich selbst wild rotierenden Scheibe.