59. Der weiße Urang.

Der weiße Urang, eine wohlriechende Waldblume, bietet ein vorzügliches Mittel gegen die Unternehmungen bösartiger Zwerge. Das zeigt folgender Vorfall, welcher sich in Garz zu einer Zeit ereignete, als dort noch die Unterirdischen hausten. Eine Bürgersfrau, welche im Wochenbett lag, ließ jede Nacht drei Lichter bei ihrem neugeborenen, noch nicht getauften Kinde brennen und bemühte sich, den Schlaf für die Nächte abzuwehren. In der ersten Nacht gelang ihr dies auch ganz gut, allein in der darauffolgenden Nacht schlief sie ein. Da kam es ihr im Traume vor, als werde sie gepackt und aus ihrem Bette geschleppt, und als sie erwachte, war es in Wirklichkeit so: sie befand sich im Freien, wurde vom kalten Nachtwinde angeweht und bemerkte, dass sie von mehreren Unterirdischen fortgetragen wurde, die sie wahrscheinlich in ihre verborgenen Wohnungen schleppen wollten. Sie war nun zwar bemüht, sich aus den Händen ihrer Entführer zu befreien, aber alle Anstrengungen blieben lange Zeit vergeblich. Als sie schon im Wall und Holz angekommen waren, hörte sie plötzlich, dass einer der kleinen Gesellen dem anderen zurief: „Bört Föten hoch; se hackt hinner witten Urang!“ — „Halt,“ dachte die Wöchnerin da, „sollte das schützen?“ und strengte sich noch viel mehr an, die Füße frei zu bekommen, um damit eine dieser Stauden zu berühren. Es gelang, und alsbald ließen die Unterirdischen von ihr ab.

Seit dieser Zeit hat sich der weiße Urang noch oft als Schutzmittel gegen das kleine Volk bewährt. Man pflegte diese Blume mit der Wurzel aus der Erde zu nehmen und das neugeborene Kind damit zu schmücken; so glückte es den Leuten allemal, die Unholde zu verscheuchen.


Nach Sundine 1842 S. 151. — Unter dem weißen Urang ist höchst wahrscheinlich das wohlriechende Knabenkraut (orchis bitolia) zu verstehen, welches noch jetzt auf Rügen Uranken genannt wird. Das Kraut hat zwei Knollen als Wurzeln, eine dunkle und eine helle; die letztere heißt „Gotteshand“, die erstere „Teufelshand“. Vgl. Reling und Bohnhorst: Unsere Pflanzen, 2. Anst., Gotha 1889, S. 384.