06. Die Bullerhürn.

An der Nordseite des Wieker Boddens liegt die durch eine Sandbank begrenzte Inwiek „Bullerhürn.“ Hierher brachte man früher, als die Schifffahrt noch blühte, die Fahrzeuge in Winterlage, und deshalb waren dort große Pfähle eingerammt, an welchen die Schiffe während des Winters vertäut und verankert wurden. In neuerer Zeit ist ein Pfahl nach dem andern abgewrackt, weil ihn niemand mehr als Hort seines Schiffes pflegte. Mit den stehen gebliebenen Resten pflegt man scherzweise die lückenhafte Zahnreihe im Munde zu vergleichen, indem man sagt: „Bi den' is ok all Bullerhürn.“

Von der Bullerhürn erzählen sich die alten Wittower folgende Sage.


Es war zur Zeit des Götzen Swantewit, der auf Arkona sein Heiligtum hatte, als auf der Stelle der Bullerhürn ein herrlicher Eichen- und Buchenhain stand. Da das Wittower Land arm an Waldungen war, so wurden in diesem einzigen heiligen Hain die dem Swantewit geweihten weißen Stiere gehalten und gepflegt, von denen ihm jedes Jahr der schönste einjährige Stier zum Opfer gebracht wurde.

Die Wartung und Pflege der Stiere hatte eine Jungfrau zu besorgen, die das Gelübde der Keuschheit hatte ablegen müssen und dafür das Versprechen der Unsterblichkeit empfangen hatte. Viele, viele Jahre waren so dahingegangen; keines gewöhnlichen Menschen Fuß durfte den Hain betreten — so sagte man —; nur wenn in des Jahres längster Nacht der dem Swantewit geweihte weiße Stier von dem Priester nach Arkona geholt wurde, hörte man das Brüllen der Stiere, und ein seltsames Rauschen ging alsdann durch die Kronen der alten Stämme.

Da kam eines Tages nach Wittow ein Jüngling, schön von Antlitz und kräftig von Wuchs; das lange goldige Haar wallte über Nacken und Schultern herab; das helle blaue Auge blickte frei und klar unter der hohen Stirn hervor. Er hörte von der Jungfrau im Haine und von ihrer sagenhaften Schönheit und Keuschheit und beschloss, sie zu sehen. Trotz alles Abmahnens ging er mutig in den Hain und fand die Jungfrau. Sein Herz entbrannte in Liebe zu ihr — und wie sollte die Jungfrau dem minniglichen Werben des schönen blonden Knaben widerstehen? Sie küssten sich, und ein Tosen und Brausen erhob sich in den Wipfeln, die Stiere brüllten mächtig und konnten doch nicht von der Stelle. Der Jüngling trug die vor Schreck ohnmächtige Jungfrau in seinen Armen aus dem Hain, und kaum hatte er seinen Fuß außerhalb desselben, so versank unter mächtigem Schwanken der ganzen Halbinsel der Hain ins Meer. Die Stelle heißt aber noch heute „die Bullerhürn“ d. i. Bullenhürde, Hürde der heiligen Stiere. Der Jüngling siedelte sich auf der Insel an, und von ihm und der Jungfrau, die bald seine rechtmäßige Gattin wurde, sollen die Edelinge der Wittower Halbinsel abstammen.

Nach E. Rubarth: Die Bullerhürn (die Form „Bullerhüre“ scheint auf einem Druckfehler zu beruhen), eine Wittower Sage, in der Pom. Volksrundschau I Nr. 31.