04. Die Steinprobe. I.

In der Stubbnitz, nicht weit vom Herthasee, findet man einen Stein, in welchem man deutlich die Spuren eines großen Fußes und eines ganz kleinen Kinderfußes abgedrückt sieht. Davon erzählt man sich folgendes.

Zurzeit, als noch der Dienst der Göttin Hertha auf der Insel bestand, war unter den Jungfrauen, die der Göttin zu ihrem Dienst geweiht waren, ein junges und sehr schönes Mädchen. Diese, obgleich sie der Göttin ewige Jungfrauschaft hatte geloben müssen, hatte eine Liebschaft mit einem fremden jungen Ritter, mit dem sie allnächtlich heimliche Zusammenkünfte an den Ufern des heiligen Sees hielt.


Sie hatte ihre Liebe aber nicht so geheim halten können, dass nicht dem Oberpriester der Göttin Kunde davon geworden wäre. Diesem wurde es hinterbracht, dass eine der Jungfrauen strafbare Liebe pflege; nur welche es sei, konnte man ihm nicht sagen.

Der Priester stellte alle Jungfrauen zur Rede; aber keine bekannte, auch die schuldige nicht. Da rief er die Göttin an, dass sie ihm die schuldige durch ein Wunder entdecken möge, und er führte nun sämtliche Jungfrauen in den Wald zu einem großen Opferstein. Dort befahl er ihnen, dass sie, eine nach der andern, mit nacktem Fuße auf den Stein treten mussten. Das taten sie, und als die schuldige den Stein betrat, da offenbarte sich plötzlich ihr Vergehen; denn nicht nur ihr eigner Fuß drückte sich in dem harten Stein ab, sondern daneben auch der Fuß eines Kindes. Dies sind die Fußspuren, die man zum ewigen Wahrzeichen noch jetzt in dem Stein sieht.

Der Priester soll darauf die Sünderin oben von der Stubbenkammer haben in das Meer stürzen lassen; aber ein Engel hat sie, wie die Leute sagen, in seine Arme genommen und sanft heruntergetragen. Unten hat ihr Geliebter schon auf sie gewartet und sie in seinem Schiffe mit sich genommen in seine ferne Heimat.

Temme: Volkssagen Nr. 276. — Die Sage ist poetisch behandelt von Enoch Wiesener (nicht von Kosegarten, wie gewöhnlich angegeben wird). Vgl. Sundine 1829 S. 140 ff. — Eine in vielen Punkten abweichende Fassung der Sage findet sich bei Jahn: Volkssagen aus Pommern und Rügen, Stettin 1886, Nr. 225.