Einführung

Da aber die alten Traditionen unter dem Sturmschritte der modernen Kultur in schnellwachsender Proportion verschwinden, da mit dem Glauben an sie auch das Wissen von ihnen im Volke von Tag zu Tage mehr dahinstirbt, ist es die heilige Pflicht unserer Generation, ehe es unwiederbringlich zu spät sein wird, jene Dinge, welche im Leben untergehen und untergehen sollen, für den Gebrauch der Wissenschaft zu retten, und dem Andenken unserer Kinder und Enkel ein gutes Stück des innersten Lebens ihrer Vorväter zu erhalten. Wir laden eine schwere Schuld auf uns und die Nachwelt wird uns bitter anklagen, wenn wir es trotz besserem Wissen verabsäumen die Ährenlese, die wir allein in zwölfter Stunde noch vornehmen können, mit derjenigen Genauigkeit und Vollständigkeit zu veranstalten, welche einzig der Wissenschaft förderlich sein kann. Hierzu reicht aber die bisherige Weise der Sammlung nicht aus, so notwendig und ersprießlich dieselbe immer bleiben wird. Ein streng wissenschaftlicher Aufbau der obengenannten neu entstehenden Disziplinen ist so lange nicht möglich, als nicht von jeder einzelnen Tradition alle Varianten Gau bei Gau, Ort bei Ort gesammelt sind. So erst wird es möglich, die ursprüngliche Form, die ursprüngliche Heimat und den ursprünglichen Gedankeninhalt derselben aufzufinden, die zersprengten Glieder der Überlieferungsketten zusammen zu lesen und dasjenige Fundament zu legen, von welchem jede historische Wissenschaft ausgehen muss, das Fundament einer quellengeschichtlichen Untersuchung. Freilich wird eine solche nicht ganz in derselben Weise anzustellen sein, wie bei den durch Schrift und Literatur bereits fixierten Traditionen. Soviel in den einzelnen Provinzen durch die Arbeit fleißiger Sammler zusammengebracht ist, blieben die dazwischen liegenden Landschaften noch ununtersucht und auch das von jenen einzelnen Forschern zusammengelesene Material bezieht sich größtenteils auf die nächste Umgebung der Orte, von denen aus sie ihre Nachforschungen anstellten. Doch nicht allein räumlich, auch stofflich ist das in der bisherigen Weise zusammengeführte Material unzureichend. Ein jeder Sammler hat im Wesentlichen nur solche Überlieferungen dem Volksmunde abgelauscht, nach denen er aus besonderer Neigung fragte. Es müssen daher Anstalten getroffen werden, die Lücken zu ergänzen, ganz bestimmte Traditionen durch das ganze Gebiet ihres Vorkommens Gau bei Gau ohne Ausnahme bis auf die letzte Grenze ihrer ethnographischen Verbreitung und historisch rückwärts bis auf ihre erste Erwähnung in der Literatur zu verfolgen; die Sammlung muss in ausgedehntem Masse von einem einzigen Mittelpunkt aus und nach methodischem Plane in Angriff genommen werden. So wird allmählich ein Urkundenbuch, ein Quellenschatz der Volksüberlieferung erwachsen, welcher der Wissenschaft künftiger Zeiten das hinreichende Material für eine Fülle vielleicht noch nicht einmal geahnter Forschungen bieten kann.

Den Völkern Deutschlands, Englands, Hollands und Skandinaviens liegt es ob, gemeinsam durch rege Teilnahme zunächst einen Quellenschatz der germanischen Volkssage und Volkssitte möglich zu machen; es muss für sie eine heilige und nationale Ehrensache sein, nicht länger zu zögern. Da ihre Volkstraditionen gemeinsam sind und sich vollständig nur auseinander erklären, wäre jede Vereinzelung und Beschränkung der Arbeit auf eines oder das andere der germanischen Gebiete unzureichend, um die Frage nach dem Ursprung jeder Überlieferung zu lösen. Ist die Aufgabe, in diesem Sinne begrenzt, eine germanische Nationalsache, so ist sie dies doch ohne den Stachel irgend welcher Eifersucht oder starrer Abgeschlossenheit gegen andere Völker. Vielmehr müssen wir auch um die Mitwirkung unserer slawischen und romanischen Brüder werben, und Mitteilungen über das Verhalten ihrer einheimischen Tradition zu erlangen suchen, um in jedem einzelnen Falle entscheiden zu können, wie weit germanische Sitte und germanischer Volksglaube in nichtgermanisches Sprachgebiet hineinreicht, wie weit fremdes Geisteseigentum auf unserem Boden Aufnahme gefunden oder in germanisierten Landschaften ausgedauert hat, wie weit endlich die Gemeinsamkeit indogermanischen Urguts oder christlich-mittelalterlicher Sage und Sitte mit unsern Grenznachbarn uns verbindet. Mögen die verschiedenartigen und sich kreuzenden Interessen des sozialen und politischen Lebens hier und da Gereiztheit der Nationalitäten gegen einander erzeugen, die Wissenschaft steht, der Menschheit dienend, hoch und frei darüber; in ihr sollen und dürfen sich die Männer aus allerlei Volk brüderlich die Hand reichen, einander gegenseitig fördernd; in diesem Falle aber wird die lebendigste Teilnahme unserer Nachbarn ihrer eigenen Vaterlandskunde den sichersten und unmittelbarsten Gewinn abwerfen, da das unter ihnen gesammelte Material ihnen nicht verloren geht und sie das Ihre nicht als solches, als eigentümlichstes Besitztum zu erkennen vermögen, ohne dass es vorher gegen das Unsrige abgegrenzt ist. Es müssen mithin auch die slawischen und romanischen Grenzgebiete in die Untersuchung mit hineingezogen werden. Nach einander sind jedesmal einzelne kleinere, begrenzte Überlieferungskreise zu bearbeiten.


Hoch und hehr ist das Ziel, die Schwierigkeit der Ausführung groß und nicht leichtblütig zu unterschätzen; die volle Lebensarbeit mehr als eines Mannes wird daran gesetzt werden müssen. Der Einzelne vermag nur den Anstoß zu geben, und im Glauben an die hohe Wichtigkeit der Sache mutig einen Anfang zu machen. Nachdem zuerst im Jahre 1860 die historische Kommission bei der k. bayrischen Akademie der Wissenschaften auf Grund einer eingereichten Denkschrift die Notwendigkeit eines derartigen Unternehmens, wie ich es in den obenstehenden Zeilen geschildert habe, anerkannt hatte, gelang es mir endlich Ausgangs 1863 diejenige Muße zu gewinnen, welche erforderlich war, um (einstweilen von der akademischen Lehrtätigkeit zurückgezogen) einen ersten und begrenzten Versuch zur Verwirklichung jenes Gedankens zu wagen. Ich habe es unternommen, in der Hoffnung auf die rege Unterstützung aller Freunde des Volkes zunächst durch eine Sammlung der agrarischen Gebräuche und zwar vorzüglich der Erntesitten die Ausführbarkeit und Fruchtbarkeit des ganzen Unternehmens zu erproben. Die k. Akademie der Wissenschaften zu Berlin hat diese Arbeit ihrer Fürsprache und die dabei anzuwendende Methode ihrer Zustimmung gewürdigt und durch die Allerhöchste Huld Se. Majestät des Königs Wilhelm I. und die hochgeneigte Förderung von Seiten Eines hohen königlich preußischen Unterrichtsministeriums ist auch bereits für die Deckung der nächsten materiellen Bedürfnisse hochherzige Fürsorge getroffen.

Die Arbeit soll in zwei Teile zerfallen, von denen der erste ein geographisch-ethnographisch nach den einzelnen Landschaften geordnetes Urkundenbuch, der andere eine sachlich geordnete Zusammenstellung des Stoffes nach Überlieferungen, Überlieferungsketten und Überlieferungsgruppen enthalten wird. Ein Verzeichnis aller derjenigen wird sich anschließen, welche durch ihre Beiträge das Werk gefördert haben. Der zunächst vorliegende Teil der Arbeit wird darin bestehen, eine Anzahl nach bestimmtem Plane aufgestellter bestimmter Fragen an geeignete Persönlichkeiten in jeder Landschaft zu verbreiten und nicht müde zu werden, bis überall her ein hinreichendes Material beschafft ist. Bis jetzt sind mir auf meine Bitte*) bereits einige Tausende z. T. recht ausführlicher Berichte aus Deutschland, der Schweiz, Polen, Kurland zugeflossen; zu größtem Danke bin ich einer nicht geringen Anzahl von Schullehrerseminarien, einigen Gymnasien und landwirtschaftlichen Vereinen, so wie nicht wenigen einzelnen Männern verpflichtet, die sich der Sache mit Wärme angenommen haben.

*) S. das hinten anhangsweise beigefugte Zirkular, dasselbe ist bereits mehrere male an sämtliche deutsche und schweizerische Seminarien, einmal an alle deutschen Gymnasien und landwirtschaftlichen Vereine, zusammen in 50.000 Exemplaren versandt worden.

Da ich somit angefangen, der Depositär eines der Nation gehörigen heiligen Schatzes zu sein, dessen einstweilige Verwaltung mir anvertraut ist, glaubte ich im Gefühle der Verantwortlichkeit durch eine kleine einzelne Probe Rechenschaft davon ablegen zu sollen, welcher Art die Ergebnisse sind, die schon jetzt im ersten Beginne der Arbeit durch das einmütige Zusammenwirken Vieler auf ein gemeinsames Ziel zu Tage gefördert wurden und dadurch eine Ahnung davon zu erwecken, wie groß der Gewinn sein müsste, wenn es gelänge über das ganze bezeichnete Gebiet hin von Landschaft zu Landschaft ohne Lücken und Ausnahmen das einschlägige Material zusammenzubringen. Diesem Zwecke möchte der nachstehende Aufsatz über den Roggenwolf dienen. Er behandelt nur eine Mythengestalt, wie deren bereits ein halbes Hundert mit gleicher Deutlichkeit in den agrarischen Gebräuchen zu Tage tritt. Gleichwohl wird das Mitgeteilte hinreichend sein, um die Vorteile der eingeschlagenen Sammlungsart deutlich zu machen.

Man wird nicht zweifeln können, dass die besprochenen Überlieferungen als Glieder einer Kette zusammengehören, aber wie weit sind sie größtenteils zerstreut, nur die Berücksichtigung eines größeren ethnographischen Gebietes brachte die Reihenfolge der Mitglieder zum Vorschein. Noch lässt sich über das ursprüngliche Entstehungslokal der Vorstellungen vom Roggenwolf und Roggenhunde kein Urteil fällen, da nicht allein andere sehr verschiedene Gestalten und Gebräuche in denselben Landschaften neben ihnen auftauchen, sondern auch die ethnographische Grenze ihrer Verbreitung noch lange nicht erreicht scheint. Erst der Vergleich sämtlicher Überlieferungsgruppen wird zu Ergebnissen in dieser Richtung führen.

Ich schließe mit der herzlichen Bitte an alle, welche dazu Gelegenheit haben, mich in meinem Streben mit Rat und Tat nach Kräften unterstützen zu wollen.

Danzig, den 15. September 1865.
Wilhelm Mannhardt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Roggenwolf und Roggenhund