Abschnitt 3

Robin Hood


Eben wollte er sich wieder dem toten Vater zuwenden, da hörte er hinter sich Hufgetrappel. „Dort ist der Mörder!“ schrien mehrere Stimmen. „Los, packt ihn!“


Es ging um Sekunden. Wieselgleich suchte Robin hinter den Stämmen Schutz, wand sich durchs dichte Unterholz, wo die Pferde keinen Weg finden, und ließ das Waldesgrün über sich zusammenschlagen.

Mehrere Tage irrte Robin durch den Wald, um den Häschern zu entgehen. Erst als sich der dritte Abend herab senkte, wagte Robin sich aus seinem Versteck. Vorsichtig pirschte er sich um die Waldecke, um das freie Feld zu überqueren, an dem das Elternhaus sich vor dem jenseitigen Waldrand erhob. Er würde nur auf einen Sprung einkehren, um der Mutter vom Tode des Vaters zu berichten. Er würde ihr raten, zum Onkel Gamewell, dem alten Landedelmann in Norfolk, zu ziehen, bis bessere Zeiten kämen.

Ich darf mich nicht lange bei der Mutter aufhalten, dachte Robin bitter bei sich selber. Ich werde... Da, was ist das? Welch seltsame Abendbeleuchtung, daß er das feste Haus am Waldrand nicht erkennen konnte? Narrte ihn etwa ein Trugbild?

Bin ich wahnsinnig geworden? durchfuhr es Robin wild.

Nein, es war kein Trugbild, was sich dort seinen Augen zeigte. Wo einst das Elternhaus stand, hoben sich verkohlte Mauerreste gegen den Abendhimmel ab. Noch qualmte es zwischen den Ruinen. Wie in stummer Anklage ragte der alte Turm über den zusammengestürzten Mauern empor.

Fassungslos stand Robin vor den noch schwelenden Trümmern des Hauses, in dem er einst mit Vater und Mutter glücklich war. Ganz gebrochen trat der Hausverwalter zu seinem jungen Herrn.

„Wo ist meine Mutter?,“ stieß Robin heiser hervor.

Der treue Mann hatte sie abseits von den Trümmern auf eine Felldecke gebettet. Dort lag sie unter freiem Himmel. Nur mit größter Vorsicht konnte Robin es wagen, in ihrer Nähe zu bleiben, denn jeden Augenblick mußte er gewärtig sein, daß des Sheriffs Häscher zurückkehrten, um ihn zur Stadt zu schleppen. Und dabei war es der Mutter anzusehen, daß sie in den letzten Zügen lag. Als sie von dem schrecklichen Ende ihres Ehemannes hörte, sank ihr der Kopf zur Seite; der unendliche Schmerz brach ihr das Herz.

So wurde Robin ein Geächteter, ein „outlaw“, das heißt ein Mann außerhalb der Gesetze. Die Landesgesetze, die für ihn galten, besagten, niemand dürfe ihm helfen, ihm Nahrung und Trank reichen, niemand dürfe ihm Obdach gewähren Robin Hood war vogelfrei!

Die Mutter war gestorben – an gebrochenem Herzen, sagten die Leute mit Recht. Das Hausgesinde von daheim war in alle Winde verstreut; nur Muck, der Reitknecht, hatte seinen jungen Herrn nicht verlassen wollen.

Tief drinnen im Dunkel des Sherwood–Waldes, wo man sich vor dem Arm des Sheriffs sicher fühlen darf, hatten die beiden ihr Freiheitsasyl gefunden. Was scherte es sie, daß sie auf nacktem Boden schlafen mußten, mit dem Laub der Waldbäume zugedeckt! Was scherte es sie, daß die Mahlzeiten karg waren und die Nächte kalt.

Bald hatten sie, wo der Wald am dichtesten war, sich ein Lager eingerichtet. Mit Eschenbogen und Hirschfänger bot der Wald Nahrung genug, und der sprudelnde, frische Waldbach gewährte Trunk in Fülle.

Wie herrlich ist es, durch den Wald zu streifen, wenn der Tau noch auf Gräsern und Zweigen liegt, wenn die Vögel erwachen und die Sonne langsam über den Waldrand klettert. Wie schön ist die Gottesnatur in der unberührten Morgenstille.

Bald sammelten sich um Robin Hood Männer, die geächtet und vogelfrei waren wie er, alle entschlossene Gesellen, die die Fremdherrschaft der Normannen haßten wie er. Da war Klein John, ein ungefüger, bärenstarker Kerl, der wie Robin ein Meister im Stockfechten war, und Bruder Tuck, ein entlaufener Mönch; da war Muck, des Oheims getreuer Knecht, dazu die drei Brüder Huggins, denen die Normannenschergen das Elternhaus niedergebrannt hatten, weil die bedrängten Bauern die Steuern nicht bezahlen konnten. Immer mehr dieser tollkühnen, wildentschlossenen Freiheitskämpfer stießen zu dem Haufen der Ausgestoßenen.

Wenn Ritter de Lacy, der Sheriff von Nottingham, von der Höhe seiner Stadtburg über das weite englische Land sah, wandte er nur ungern seinen Blick zu dem grünen Waldstreifen hinüber, denn mochte er auch Herr über die weite Stadtumgebung sein: in den Sherwood reichte seine Macht nicht, denn dort hausten die sächsischen Outlaws – und Robin Hood war ihr Führer und der König des grünen Waldes, denn er war der kühnste und verwegenste und klügste unter ihnen.

Bald traute sich kein Normanne mehr in den Sherwood–Wald hinein, so gefürchtet waren Robin und seine tollkühnen Gesellen. Man erkannte sie an dem Lincolnrock, den sie trugen, aber dieses waldgrüne Tuch machte sie unsichtbar. So waren sie allgegenwärtig, ein Schrecken der normannischen Häscher. Auch die Reichen ringsum, die das Volk aussaugten, waren vor Robin Hoods Männern nicht sicher, denn er schonte keinen, zum Nutzen der Unbegüterten und Unterdrückten, die darben mußten.

Als Robin eines Tages durch das maiengrüne Land ritt, sah er auf einer Wiese neben der Landstraße eine seltsame Gruppe. Drei normannische Reiter waren es, die einen jungen Menschen in kanarienbuntem Gewand in die Mitte genommen hatten. Der eine ließ drohend seine Reitpeitsche spielen, der andere zerrte das Bürschlein derb am Arme, während der dritte ihm seinen Spieß vor den Bauch hielt. Sie wollten dem Spielmann das Pferd abnehmen.

Blitzschnell hatte Robin seinen Eschenbogen in der Hand, den armlangen Pfeil auf der Sehne.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robin Hood