Abschnitt 2

Robin Hood


Der Aufgerufene trat vor, hob den Bogen, legte den Pfeil ein und zielte lange. In der fürstlichen Laube verfolgten Prinz Johann und sein Sheriff voller Spannung den schwirrenden Pfeil. „Das nenne ich eine Leistung!“ rief der Regent begeistert: „Auf solche Entfernung noch den Rand des Zentrums zu treffen!“ De Lacy, der Sheriff, nickte dienstbeflissen. „Ja, mein Fürst, kein Schütze in England kommt ihm gleich!“


„Es folgt der zweite Bewerber, Herr Robin Fitzooth“, ertönte des Herolds Ansagen.

„Der junge Mann sollte lieber auf seinen Schuß verzichten“, meinte Prinz Johann und blickte gleichgültig zu Robin hinüber.

Ruhig, als sei es etwas ganz Alltägliches, legte Robin den Pfeil ein, schätzte mit dem Auge die Entfernung und zielte sorgfältig. Dann ließ er den Pfeil schwirren. Aus der Frauenlaube hörte man Jubelrufe:

„Ins Schwarze!“

„Das nenn ich Glück“, stieß der Sheriff bissig hervor, während die. Menge wie rasend vor Begeisterung tobte.

Als der Beifall langsam verebbte, trat der Herold wieder vor. „Als dritter Bewerber schießt Herr Hugh Fitzooth.“

Jedermann sah, Robins Schuß war nicht zu übertreffen.

Herr Hugh nahm Aufstellung, sichtete kurz und ließ den Pfeil aus der Sehne schnellen.

War so etwas möglich? Sein Geschoß hatte Robins Pfeil, der genau im Zentrum steckte, in zwei Teile gespalten! „Solch einen Meisterschuß sieht man nicht in jedem Menschenleben!“ rief ein weißbärtiger Alter ganz außer sich. Die Menge war wie von Sinnen in ihrem Jubel.

Die glücklichen Schützen rief man vor die Frauenlaube, wo die Königinmutter den Sieger ehren sollte. „Majestät“, sagte Herr Hugh, „gebt den Preis dem Schützen, dessen Pfeil zuerst das Zentrum traf!“

Doch sie schüttelte lächelnd den Kopf und überreichte ihm den kostbaren Siegespreis.

Da trat ein Bote vor Herrn Hugh: „Der Sheriff läßt Euch auffordern, mit Eurem Sohne vor ihm zu erscheinen!“

Den Vater durchzuckte es ahnungsvoll: das war das Verhängnis, das er nahen sah.

Robin spürte des Vaters Besorgnis. „Ach was“, flüsterte er ihm zu, „er will uns doch nur zu unserm Siege beglückwünschen.“

„Gott geb es“, murmelte der Vater.

Als sie vor dem Gestrengen erschienen, nickte er ihnen wohlwollend zu. „Gute Schützen seid ihr, Vater und Sohn“, sagte er und blickte sie prüfend an. „Ich habe eine Frage an euch.“

Beide blickten den Sheriff erwartungsvoll an. Würde sich des Vaters Besorgnis jetzt erfüllen?

„Gute Schützen kann ich gebrauchen“, sagte der Sheriff langsam, „es gibt so viel widersetzliche Menschen, die es zum Gehorsam zu zwingen gilt. Wollt ihr nicht in meine Leibgarde eintreten?“

„Mein Pfeil richtet sich nicht auf Menschen“, sagte Vater Hugh hart. „Ich liebe meine Freiheit.“

„Und ich nicht weniger, Herr Sheriff“, fügte Robin schnell hinzu, „auch ich tauge nicht für solchen Herrendienst.“

„So frech wagt ihr mir zu trotzen?“, fuhr de Lacy auf. „Erbärmliches Sachsengesindel!“

Hugh Fitzooth wollte aufbegehren, doch der Sheriff winkte böse ab. „Kein Wort mehr von solchen anmaßenden Frechlingen! Ihr werdet von mir hören!“

Die Drohung war nicht von ungefähr. Noch am Abend machten Vater und Sohn sich auf den Rückweg. Sie sehnten sich nach ihrem festen Hause und nach der Waldeseinsamkeit. Beide wußten nicht, was der Sheriff seinem treuesten Gefolgsmann und besten Bogenschützen zugeflüstert hatte. Heimlich folgte Red Gill den Fitzooths mit einer kleinen Schar wendiger und kampferprobter Reiter.

Gedankenvoll ritten Vater und Sohn durch den dunkelnden Wald. „Wer sich gegen de Lacy aufzulehnen wagt, tut gut daran, auf der Hut zu sein“, sagte er eben, zu Robin gewendet – da schwirrte ein Pfeil durch die Luft, und sofort folgte auch ein Schrei. Voller Entsetzen blickte Robin zur Seite: zwischen des Vaters Schulterblättern haftete das Geschoß! Schon taumelte der Alte – jetzt brach er zusammen.

Erschüttert kniete Robin vor ihm: „Vater, lieber Vater!“ keuchte er.

„Das war des Sheriffs Geschoß!“ stieß Hugh Fitzooth aus. Als Robin sich über den Vater beugte, spürte er, wie das Herz zu schlagen aufhörte.

Woher war der Schuß gekommen? Vorsichtig erhob sich der Junge und spähte nach allen Seiten. In diesem Augenblick schwirrte etwas durch die Luft. Robin warf sich beiseite über ihm im Baumstamm stak zitternd ein zweiter Pfeil!

Robin hatte den Bogen von der Schulter gerissen und schlich in die Richtung des unsichtbaren Schützen. Da bekam er ihn zu Gesicht. „Dachte ich es doch“, stieß er hervor, „es ist Red Gill, dieses feige Werkzeug des Sheriffs!“

Red Gill schlich sich an, um die Wirkung seines Schusses festzustellen. Als er sich eine kleine Blöße gab, fuhr Robins Schuß ihm mitten ins Herz.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robin Hood