1. Zu Hause

In dem holsteinischen Städtchen Pinneberg, das damals noch ein Flecken war, stand vor ungefähr hundert Jahren am Ufer der Pinnau das Häuschen des alten Schneidermeisters Kroll. Ein Gemüsegarten reichte vom Hof bis zum Wasser herab, und mehrere baufällige Scheunen beherbergten unter ihren moosbewachsenen Ziegeldächern allerlei Tiere, die auf dem Lande die meisten Leute selbst halten und schlachten: Schweine, Hühner und Tauben; außerdem aber auch noch eine Kuh und zwei Ziegen. Daneben gab es einen Holzstall, eine Geschirrkammer und einen kleinen ausgemauerten Raum, den etwa zehn bis zwölf Kaninchen bewohnten. Sie gehörten Robert, dem fünfzehnjährigen Sohn des Meisters, der als Oberaufseher über alle Bewohner des Hofes von seinem Vater angestellt worden war, obgleich er dies Amt nicht immer zur Zufriedenheit des Alten verwaltete. Besonders an Sommerabenden brüllte, grunzte und piepste es in den Ställen jämmerlich durcheinander, bis der Meister mit der Brille auf der Nase herauskam und all die leeren Futtertröge sah. „Wo steckt nur wieder der Junge? Auf und davon, sobald die Feierabendglocke geschlagen hat, anstatt sich noch in Haus und Hof nützlich zu machen, noch einen Groschen extra zu verdienen oder wenigstens ein gutes Buch zu lesen. Der schwimmt irgendwo auf der Aue oder auf dem Mühlteich, und wenn es mir nicht gelingt, ihn zahm zu machen, so wird er ein Vagabund, ein Taugenichts.“

Und kopfschüttelnd versorgte der Alte die Tiere, kopfschüttelnd nähte er wieder seine Flicken auf die schadhaften Kleidungsstücke der Ortsbewohner und überlegte zum hundertsten Male, womit er seinen einzigen Sohn zur Vernunft bringen sollte. Robert war ein so kluger Junge, konnte alles spielend vollenden, was andern die größte Mühe machte, aber er hatte „seinen eigenen Kopf“, wie der Vater seufzend dachte, und er verachtete heimlich das Schneiderhandwerk, zu dem er doch erzogen werden sollte. Ja, er verachtete es, er warf Schere und Bügeleisen in den Winkel, sobald es irgend möglich war, und lief lieber mit einem Loch im Ärmel herum, als es sich fein säuberlich zuzunähen.


Meister Kroll ließ die Hand mit der Nähnadel in den Schoß sinken und schaute vom Tisch herab ganz trübsinnig auf die Straße hinaus. „Könnte es so schön haben“, murmelte er vor sich hin, „könnte so warm sitzen und will durchaus in die weite Welt laufen, um sich erst einmal mürbe machen zu lassen und auszuprobieren, wie fremder Leute Brot schmeckt. Soll aber nichts daraus werden, so wahr ich Hans Fürchtegott Kroll heiße. Den einen Jungen besitze ich nur, das Häuschen ist schuldenfreies Eigentum und die Kundschaft nährt ihren Mann, also was will der Robert weiter? Sag, Mutter, was meinst du dazu?“

Die alte Frau fuhr mit der Schürze über die Augen. „Es nützt ja nichts, Vater, du kannst ihn nur halten, bis er ausgelernt hat, dann geht er zur See.“

Der Alte nickte vor sich hin. „Hat dir's wohl schon alles anvertraut, nicht wahr?“ brummte er, „aber daraus wird nichts.“

Die Mutter schwieg, um ihren Mann nicht noch mehr aufzubringen und dadurch dem Jungen zu schaden. Sie machte Robert vielmehr, wenn er spät nach Hause kam, allerlei heimliche Zeichen, daß er nur ganz still ins Bett schlüpfen und sich gar nichts merken lassen solle.

„Der Junge muß sich doch am Abend ein bißchen austoben“, dachte sie. „Er ist ja noch ein Kind, das vergißt der Alte.“

Sie nahm sich auch, wenn es irgend möglich war, der Tiere an und verschwieg es dem Vater, wenn Robert heimlich fortgelaufen war. „Er mag nun einmal nicht sitzen“, überredete sie sich, „und den einzigen Jungen habe ich nur. Warum soll er immer arbeiten, als wären wir arme Leute, die das Brot trocken essen müssen? Laß ihn nur laufen.“

Die Folgen dieser falschen Erziehung zeigten sich aber bald. Der Vater schlug den Jungen mehr als er verdiente, die Mutter dagegen half ihm immer wieder, sich durch kleine Lügen diesen Bestrafungen zu entziehen, und Robert selbst wurde immer trotziger und ungehorsamer.

„Ich will kein Schneider werden“, erklärte er eines Tages dem Alten rund heraus, „ich habe dazu keine Lust. Das Seemannshandwerk ist auch ein ehrliches Gewerbe, nicht schlechter als sonst eins. Ich möchte mehr von der Welt sehen als nur das kleine Pinneberg.“

Der Meister schüttelte den Kopf. „Ist alles dummes Zeug“, antwortete er. „Sollst in die Kundschaft hereinwachsen, dies Häuschen übernehmen und eines Tages hier begraben werden, wie schon mein Großvater selig und mein Vater hier begraben worden sind. Sie waren Schneider vom Vater auf den Sohn, und du wirst es auch, verstanden?“

Robert weinte bitterlich. „Ich sehe es aber gar nicht ein!“ schluchzte er.

„Ich desto besser. ‚Bleibe im Lande und nähre dich redlich!‘ heißt der alte Spruch. Wer's nicht getan hat, der mußte es bitter zu seinem Schaden erfahren.“

Robert hob plötzlich den Kopf. „Wenn aber jeder in seinem Lande geblieben wäre, dann sähe doch die Welt ganz anders aus!“ rief er. „Christoph Kolumbus und –“

„Ach laß doch die greulichen Heiden. Es hilft dir alles nichts, die Krolls sind von jeher Schneider gewesen, und du wirst auch einer. Da, diese Naht nähst du mir mit einem sauberen Steppstich. Finde ich einen Fehler daran, so schmeckst du den Stock, und nun den Mund gehalten, wenn ich bitten darf. Lehrjungen plappern nicht während der Arbeitsstunden.“

Robert mußte sich fügen, aber das Verlangen nach Erlösung aus diesen Verhältnissen wurde immer stärker. Hier bleiben fürs ganze Leben, nie etwas anderes sehen als den engen Hof und die enge Straße, das war schrecklich. Der Vater erlaubte gar kein Vergnügen und keine Erholung, er durfte nicht ein einziges Mal mit der Eisenbahn nach Hamburg fahren oder mit anderen Jungen eine Wanderung machen. „Das alles kostet Geld und Zeit“, war die Antwort, die er seinem Sohn gab. „Was willst du in Hamburg? Da stehen Häuser und laufen Menschen wie hier. Das Geld wäre ganz umsonst ausgegeben.“

Robert senkte mutlos den Kopf. „Und die Schiffe und die Elbe?“ fragte er kleinlaut. „Das ist doch sehenswert.“

Der Alte wich und wankte nicht. „War mir allezeit ein Greuel, das Matrosenleben“, antwortete er. „Die Kerle fluchen und trinken und sind Verschwender; hat so einer seine Heuer empfangen, dann geht es darauf los, als könnte die Geschichte gar kein Ende nehmen. In die Sparkasse wandert kein Pfennig.“

So endete jeder Versuch, etwas mehr Freiheit zu erringen, und Robert wurde endlich ganz stumm und sprach nicht mehr mit seinem Vater.

Um diese Zeit machte er eine Bekanntschaft, die für seine ganze Zukunft von Bedeutung werden sollte. Der Seilermeister, dessen Bahn an den Krollschen Garten stieß, hatte einen neuen Gesellen genommen, und Georg, so hieß er, suchte sehr bald die Freundschaft des Schneiderlehrlings.

Nur wenige Jahre älter als Robert, hatte er von der Welt schon ein gutes Stück gesehen, war als Schiffsjunge in fremden Ländern gewesen und kannte das Seemannsleben genau. Kein Wunder also, daß sich Robert mit ihm befreundete.

Zuerst sprachen die beiden nur über den Zaun hinweg, dann aber schlüpfte Georg hindurch, und auf dem Heuboden entspann sich die lebhafteste Unterhaltung. Robert hörte auf das, was ihm der Seiler erzählte, wie auf eine Verkündigung. Endlich hatte er gefunden, was er suchte, endlich durfte er alle diese Dinge kennenlernen, nach denen er sich sehnte. Selbst an die Bootsfahrten auf dem Mühlteich dachte er nicht mehr, sondern verbrachte jede freie Stunde neben dem neuen Kameraden auf dem Heuboden oder im Holzstall. Georg mußte fortwährend erzählen.

Der schlaue Bursche wußte sehr bald seinen Vorteil wahrzunehmen. „Willst du eine Zigarre?“ fragte er einmal, „oder ist dir eine Pfeife lieber?“

Robert errötete. „Ich – ich habe noch nie geraucht!“ stammelte er.

„Was? Nicht geraucht?“ lachte der andere. „Darfst wohl nicht, kleiner Junge, was? Gibt dir der Alte noch Schläge?“

Robert sah zur Seite. „Oh nein. Und das Rauchen verbietet der Vater auch nicht, ich – habe schon manche Zigarre verdampft, aber –“

„Ha, ha, ha, und vor zwei Minuten sagtest du das Gegenteil, Bürschchen. Dich haben sie aber schön in der Zucht.“

„Gib her!“ rief Robert, gereizt durch den Spott des anderen. „Gib her! Auch wenn es mein Vater verbietet, würde ich mich nicht daran kehren.“

„Das meine ich aber auch. Wie alt bist du eigentlich, Junge?“

„Bald sechzehn“, entgegnete Robert. „Du brauchst mich übrigens gar nicht ‚Junge‘ zu nennen, Georg. Ich bin fast so alt, wie du selbst.“

Der Seiler lächelte überlegen. „Wirst ja noch wie ein kleines Kind behandelt, mein Bester“, sagte er, „daher kommt es wohl. Ich glaube, du mußt um Erlaubnis fragen, wenn du niesen willst. Na, da war ich ein anderer Kerl!“

„So?“ fragte Robert, mannhaft gegen den Tabakrauch kämpfend, „und wie fingst du die Geschichte an? Warst du da schon Schiffsjunge?“

„Natürlich. Ach, das ist ein herrliches Leben, sage ich dir. Es geht nichts über die See. Sollte ich so wie du auf dem Tisch sitzen und immer mit der Nadel in die Lappen hineinbohren, das wäre mir was rechtes. Weiberarbeit und weiter nichts, – ich danke!“

Robert hatte große Lust zu weinen. Die Beschäftigung, die ihm von seinem Vater aufgedrängt wurde, erschien ihm in diesem Augenblick wie eine Art Schande.

„Ja, du hast gut reden“, seufzte er. „Aber was soll ich machen? Mein Alter läßt mich nicht los, sooft ich ihn auch bitte.“

Er verbiß das Unwohlsein, das ihm die Zigarre verursachte. Um keinen Preis hätte Robert dem anderen eingestanden, daß ihn dies männliche Vergnügen jämmerlich über den Haufen zu werfen drohte. „Warum verspottest du mich immer?“ fragte er. „Erzähle mir lieber von deinen Reisen.“

Der Seiler gähnte. „Die Kehle wird einem trocken dabei“, antwortete er. „Hat dein Alter nirgends einen Schluck hinter seinen Flicken und Lappen verborgen?“

„Branntwein?“ fragte Robert, „den trinkt er nie.“

„Welch ein Muster von einem Mann.“

Robert erhob sich, etwas schwankend, aus dem Heu. „Bier haben wir“, sagte er. „Ich will dir eine Flasche holen.“

„Du!“ rief ihm Georg nach, „bring auch einen Bissen Brot mit und ein Stück Speck oder dergleichen. Deine Alte hat ja natürlich die Speisekammer voll.“

Robert winkte ihm. „Pst, – laß es doch niemand hören.“

Dann aber schlich er fort und gelangte durch eine zerbrochene Scheibe in den kleinen Vorratskeller. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er eine Bierflasche und ein tüchtiges Stück Schinken an sich nahm. Das war gestohlen, sein Gewissen sagte es ihm laut genug.

Jeden Augenblick glaubte er den schlürfenden Schritt des Vaters zu hören. Und nannte nicht dort jemand seinen Namen – „Robert!“

Er horchte; aber alles blieb still. Leise wie ein Dieb kroch Robert wieder durch das Fenster in den Hof hinauf und brachte seinem Freund das Verlangte. „Da, nun iß“, sagte er, „und dann erzähle. Warum bist du überhaupt für immer an Land gegangen?“

Der Seiler setzte die Flasche erst wieder auf den Fußboden, als sich kein Tropfen mehr darin befand. „Warum?“ wiederholte er. „Hm, ich habe einmal das Bein gebrochen, – bin aus dem Mast gefallen und kann daher nicht mehr klettern.“

„Aus dem Mast gefallen?“ wiederholte Robert. „Binden sich denn die Seeleute nicht fest da oben?“

Der Seiler wollte sich ausschütten vor Lachen. „Festbinden!“ rief er, „das ist köstlich. Nein, du, sie machen sich's noch bequemer, will ich dir sagen. Die Mutter muß mit an Bord und an Deck die Schürze ausbreiten, dahinein fällt der Junge, wenn er das Gleichgewicht verliert.“

Robert errötete. Das und so vieles andere waren Anspielungen auf seine abhängige Lage und auf den strengen Gehorsam, den der Vater von ihm forderte.

„Du bist glücklich“, sagte er, „kannst tun und lassen, was du willst. Aber ich muß Schneider werden, weil mein Vater durchaus will. Wenn er nur erfährt, daß ich einmal auf dem Mühlenteich gefahren bin, so gibt es schon –“

„Ohrfeigen!“ ergänzte gleichmütig der andere. „Kann ich mir genau denken. Aber warum fährst du nicht in der Nacht? Eben jetzt haben wir die günstigste Jahreszeit dazu. Wahrhaftig, ich möchte einmal an des Müllers Segelboot meine Kunst wieder üben.“

Roberts Herz klopfte. Wie mutig war Georg, wie leicht schien das alles, wenn man ihn so sprechen hörte. An das Segelboot des reichen Müllers hatte er selbst noch nicht einmal zu denken gewagt. Das lag ja mit einer Kette und einem Schloß fest an dem zierlichen, über das Wasser hinausgebauten Gartenhaus, es war das Eigentum fremder Leute, wie konnte man also davon sprechen, als dürfte es der erste beste zu seinem Vergnügen besteigen?

„Ja“, sagte er ganz verwirrt, „aber das ist nicht erlaubt!“

„Ach, dummes Zeug. Was schadet es den Planken, wenn wir einmal darauf herumtrampeln? Du glaubst gar nicht, wie angenehm es ist, bei stillem Wetter im Boot zu liegen und sich von den Wellen schaukeln zu lassen.“

„Das weiß ich!“ rief mit glänzenden Augen der Junge. „Oh, es ist ein Vergnügen wie kein anderes. Den Kahn des Holzhändlers darf ich benutzen, weil ich den Leuten manchmal einen Gefallen tue, und dann fahre ich oft nach Feierabend quer über den Teich. Der Vater darf es aber nicht wissen.“

Georg kaute noch an dem mitgebrachten Schinken. „Der platte, schwerfällige Kahn“, sagte er verächtlich, „der Klotz, an dem man sich die Arme lahm rudern muß. Nein, mein Junge, was erst große Anstrengung kostet, das ist kein Vergnügen mehr. Ein Segelboot fliegt wie eine Möwe über das Wasser, aber dein Kahn ist ja wie ein Schubkarren. Versuch erst einmal den Unterschied.“

Robert war bereits halb besiegt. „Meinst du, daß es ginge?“ fragte er. „Ich glaube, das Boot ist angeschlossen.“

„Nun, dafür hat man krumme Nägel. Wir wollen ja nicht stehlen.“

„Wie komme ich nur aus dem Hause, daß es die Eltern nicht merken?“ murmelte Robert. „Den Schlüssel darf ich auf keinen Fall nehmen.“

„Ist ja auch gar nicht nötig. Die Hoftür hat doch einen Riegel, und den zieht man leise zurück, das ist das Ganze. Die Alten schnarchen ruhig weiter.“

„Ja“, rief Robert, „aber dann stände das Haus offen!“

„Nun, und was schadet das weiter? Schätze werden in dem alten Kasten nicht verborgen sein, denke ich.“

Robert lächelte. „Schätze wohl nicht, aber ein paar hundert Taler hat der Alte doch im Schrank. Er bringt es immer erst zur Sparkasse, wenn das Tausend voll ist, so alle zwei oder drei Jahre.“

Georg hatte aufmerksam zugehört. „Sieh an“, rief er, „also ein Krösus im kleinen. Ja, die Schneider sind kluge Leute und sparsam dazu.“

Robert seufzte. „Die Schneider sind doch überall verachtet“, sagte er. „Ich mag keiner werden, und wenn es auch noch so viel Geld abwirft.“

Georg nickte. „Wäre auch schade um einen so frischen, kräftigen Jungen wie du bist“, meinte er. „Gott, wenn ich mir dich als Leichtmatrosen vorstelle, – du könntest es in ein paar Jahren zum Kapitän bringen. Und ein Kapitän ist ein König im kleinen.“

Robert fuhr mit der Rückseite der Hand über die Augen. „Es hilft mir ja doch nichts“, stammelte er. „Ich darf nicht fort.“

„Ach, Unsinn. Komm nur erst einmal mit mir auf den Mühlenteich hinaus, dann wird dir der Mut schon wachsen. Wie wäre es, wenn wir morgen die Geschichte versuchten? Du legst dich um neun Uhr in deine Koje und schnarchst wie ein Bär, bis du merkst, daß die Alten von ihren Sparkassenbüchern träumen, dann schlüpfst du zur Hoftür hinaus.“

Robert fühlte, wie ihn die Versuchung ergriff. Was wäre es denn auch weiter? Die Söhne des Müllers durften nach getaner Arbeit im Boot fahren, soviel sie wollten, er hatte es oft gesehen und auch dem Vater vorgehalten; dann schüttelte der Alte ärgerlich den Kopf. „Der Müller ist ein reicher Mann“, antwortete er, „da kann er es schon treiben, wie es ihm gefällt. Du aber bist armer Leute Kind und mußt Pfennig auf Pfennig legen. Ich hab's auch so gemacht.“

Es war dem Jungen, als höre er die warnende Stimme des alten Vaters, aber doch konnte er nicht widerstehen. „Ich komme, Georg“, flüsterte er, unwillkürlich leise sprechend, als fürchte er sich vor dem Verbotenen. „Wo treffen wir uns?“

„Hm, ich denke am Mühlenteich – und bring mir von dem Schinken ein tüchtiges Stück mit. Deine würdige Frau Mutter hat dies verstorbene Borstenvieh außerordentlich schmackhaft zubereitet.“

Robert versprach es, und dann trennten sich die beiden Genossen. Während der Seiler zufrieden lächelnd seine Dachkammer aufsuchte, stahl sich Robert, an allen Gliedern wie gelähmt, mit brennender Zunge und schwerem Kopf zunächst wieder in den Vorratskeller hinunter, um dort die leere Flasche an ihren Platz zu stellen, und dann ging er schleunigst zu Bett. So unwohl hatte er sich noch nie im Leben gefühlt.

Am folgenden Morgen sah er ganz blaß aus. Er mochte kaum essen, aber er arbeitete den Tag über mit besonderem Fleiß, um nur keinen Verdacht auf sich zu lenken, und ging früh wieder zu Bett.

O wie lang wurde dieser Abend! Der Vater hatte noch spät eine fertige Arbeit ausgetragen, und die Mutter knetete das Brot, wer weiß wie lange. Es schien dem ungeduldigen Robert, als sei ein Jahr vergangen, seit er sich in die Federn legte. Zehnmal war er im Begriff wieder aufzustehen, aber immer hinderte ihn die Furcht, sich dadurch verdächtig zu machen. Sein böses Gewissen ließ ihn vor jedem Geräusch erzittern.

Aber alles nimmt ein Ende, auch der längste Abend. Endlich war der Teig fertig und der Vater wieder nach Hause gekommen, endlich das Licht ausgelöscht und die Eltern zur Ruhe gegangen. Robert konnte geräuschlos aus dem Bett und in die Kleider schlüpfen.

Seine Stiefel behielt er in der Hand. Nur noch rasch wieder in den Keller – heute schon viel gleichgültiger als gestern, – dann zog er den Riegel von der Hoftür. Noch einmal sah er sich ängstlich um. Sollte er wirklich die ahnungslosen Eltern hintergehen, ihr Hab und Gut preisgeben, ihr Verbot übertreten? – Noch auf der Schwelle zögerte er. „Kein guter Sohn tut das!“ flüsterte die Stimme des Gewissens.

Ja, aber wie wird Georg lachen, wie wird er mich morgen verspotten, dachte er. Ich höre es schon, daß er sich lustig macht. „Bist kein Kerl, du kleiner Schneider, hast keinen Mut. Geh und laß dir von den Alten die Lehren der Weisheit und Tugend vorpredigen, bis du ganz dumm geworden bist. Die Schafsköpfe leben am längsten.“

Er murmelte eine Entschuldigung, als stände Georg mit seinem mageren, blassen Gesicht und dem höhnischen Blick im Mondlicht unmittelbar vor ihm. Nein, so feige und unzuverlässig konnte er sich nicht zeigen. Hingehen mußte er.

Mit drei Sätzen war die Hecke des Nachbargartens überklettert, und nun ging's in eiligem Lauf weiter. Der schlurfende Schritt des einzigen alten Nachtwächters, sein Stolpern über das schlechte, unebene Pflaster waren schon von weitem zu hören, – er konnte einer Begegnung leicht ausweichen. In weniger als einer Viertelstunde hatte er die Gruppe hoher alter Linden erreicht, in deren Schatten sich der Eingang zum Garten des Müllers befand.

Georg trat ihm plötzlich von der Seite entgegen, so daß er erschrak.

„Ach, – du bist's“, flüsterte er. „Ich dachte schon der Müller –“

„Lag hier auf der Lauer, um uns zu fangen, nicht wahr?“ lachte der Seiler. „Na, komm nur; im Garten ist niemand, ich habe es schon ausgekundschaftet.“

Die beiden durchschritten den langen Kiesgang und kamen an ein kleines chinesisches Gartenhaus, dessen Tür verschlossen war. Robert wandte sich bedauernd zu seinem Gefährten. „Was nun?“ fragte er.

Der Seiler suchte in allen Taschen. „Wirst gleich sehen“, sagte er. „So mußt du die Sache anfassen! – Das ist keine Hexerei.“

Er hatte ohne große Mühe das Schloß geöffnet, noch ehe Robert eine Einwendung machen konnte. Mit pochendem Herzen folgte er ihm in den kleinen offenen Raum, an dessen Treppe das Segelboot auf dem Wasser lag. Heller Mondschein überflutete den breiten Teich und seine hübschen, von grünen Wiesen umrahmten Ufer; weiße Schwäne zogen langsam vorüber.

Georg wandte sich blinzelnd zu seinem jüngeren Gefährten. „Wie angenehm ist es doch, ein reicher Mann zu sein, nicht wahr, Robert?“ fragte er. „Aber der Einfältige, der Schüchterne wird es nie im Leben. Sieh, wie oft hast du schon im stillen die Söhne des Müllers um ihr hübsches Segelboot beneidet, aber hingehen und es dir nehmen, das wagtest du nicht. Jetzt fahren wir und kehren uns nicht daran, wer das Ding bezahlt hat, – so macht es der Kluge überall.“

„Aha, ein hübsches Fahrzeug“, fuhr er fort, „verteufelt nett. Alles so fein gemalt und sauber gehalten, man sollte meinen, daß es richtige Teerjacken wären, die es unter den Händen haben. Wahrhaftig, auch ein Flaschenkorb! Prosit, Müller!“

Er trank ein paar Schluck von dem Branntwein, den er fand, und öffnete dann das Schloß des kleinen Bootes, alles mit einer Sicherheit, als sei er der rechtmäßige Eigentümer dieser Dinge. Robert folgte ihm, der Seiler setzte das Segel, und dann stießen sie ab. Er schien so recht in seinem Element zu sein; das Vergnügen lachte ihn aus den Augen.

„Paß auf, Landratte“, rief er, „so bedient man ein Boot.“ Robert horchte fast andächtig. Sein Herz hüpfte vor Freude. Unter sich den blauen Spiegel des Teiches und über sich das weiße, bauschende Segel, – er glaubte, daß es auf der Welt kein größeres Vergnügen geben könne. Vergessen war der Ungehorsam, das Unrecht, fremder Leute Schlösser gewaltsam geöffnet zu haben, und die Gefahr einer etwaigen Entdeckung. Robert empfand nur die Seligkeit, in einem wirklichen Schiff, wie er es nannte, fahren zu dürfen. Langsam glitt das Boot über die Wellen dahin.

„Du bist ja ganz stumm geworden“, lachte der Seiler. „Hast am Ende noch nie die Planken eines Schiffes betreten?“ „Ach“, seufzte Robert, „nie eins gesehen sogar.“ „Unmöglich! Du bist doch gewiß oft in Hamburg gewesen?“ „Noch nie. Vater gibt keinen Pfennig unnötig aus.“ Georg zog verächtlich die Schultern empor. „Dein Alter ist ein Narr“, sagte er, „aber du bist ein dreifacher. Paß nur auf, die Gelegenheit zu einem Abstecher nach Hamburg soll sehr bald kommen. – Hast du etwas zu leben mitgebracht?“

Robert reichte dem Freund das Bier und den Schinken. „Sind alle Boote so eingerichtet wie dieses?“ fragte er. „Ach, das Segeln ist doch ganz etwas anderes als das Rudern.“

„Habe ich dir's nicht gleich gesagt, Däumling? Aber das Ei will immer klüger sein als die Henne. Was wirst du erst für Augen machen, wenn wir einmal auf einem Dampfer sind.“

„Wie sind die eingerichtet?“ fragte der Junge wißbegierig.

Georg lachte laut. „Wie tief ist das Meer bei Grönland? Ebensogut könnte ich das auf Stecknadelbreite angeben wie ohne weiteres beantworten, wie Dampfschiffe gebaut sind. Sehr verschieden, das ist erst einmal alles, was du zu wissen brauchst.“

Der Seiler zog aus der Brusttasche seiner Jacke eine kleine Flasche hervor und tat einen tüchtigen Zug. Dann reichte er Robert den Rest. „Trink aus, mein Junge“, sagte er.

Der hielt verlegen das Fläschchen in der Hand. „Branntwein?“ fragte er.

„Natürlich, es ist kein Gift. Hast wohl noch nie ein paar Tropfen über die Zunge laufen lassen?“

Robert umging die Antwort, indem er das Getränk eilends verschluckte. Es schmeckte ihm schlecht, aber er fühlte sehr bald eine angenehme Wirkung, so etwas wie ein Wachsen und Dehnen aller Kräfte, eine Unternehmungslust, wie er sie nie vorher in dem Maße gekannt hatte.

„Ich möchte, daß das Amerika wäre oder Afrika“, sagte er, auf die bewaldeten Ufer deutend, „und daß dort Wilde hausten, die wir bekämpfen oder überlisten würden. Hast du wohl schon wirkliche Schwarze gesehen, Georg?“

„Gesehen?“ lachte der Seiler „Das ist nicht schlecht, wahrhaftig. Ich bin über ein Jahr lang als Heizer auf den Red–River–Dampfern gefahren, mit lauter Negern als Schiffsmannschaft.“

Roberts Augen glänzten. „Habt ihr da Abenteuer erlebt, du?“

„Mit den Schwarzen? Das sind urgemütliche Kerle, sage ich dir. Wenn ihre Arbeit getan ist, so balgen sie sich wie die Kinder und stoßen mit den eisenharten Köpfen zum Spaß wie die Ziegenböcke gegeneinander. Einmal, als bei einer großen Überschwemmung alle Holzlager weggespült waren und auch in den durchnäßten Wäldern kein brauchbares Feuerungsmaterial aufgetrieben werden konnte, nahmen wir zum Ersatz die Staketpfähle der Farmen, und unsere Neger mußten, sooft der Vorrat zur Neige ging, an Land, um wieder Nachschub herbeizuschaffen. Das war überaus komisch.

Stell dir vor, daß unser harmloses kleines Gehölz der Urwald wäre, mit breiten, himmelhohen Stämmen, von Unterholz und Schlingpflanzen in eine grüne, unentwirrbare Wildnis verwandelt und von unzähligen Tieren bevölkert. Affen und Papageien in den Wipfeln, ein brauner Bär mit seiner Familie am Ufer oder ein schwerfälliger Alligator, der, so schnell es ihm seine kurzen, unbehilflichen Beine erlauben, die Flucht ergreift; dazu alle Arten von kleineren Tieren, alle möglichen Stimmen, alle erdenklichen Geräusche. Jeden Abend entzündeten wir riesige Feuer, um das Gesindel aus unserer Nähe zu vertreiben, und dann mußten die Neger in das Wasser hinein, an einzelnen Stellen sogar bis unter die Arme. Sie jauchzten dabei vor Vergnügen und trugen auf ihren Schultern größere Lasten, als sie ein Weißer auf ebener Erde fortbringen könnte.“

Robert legte den Arm über die Augen. Er weinte.

„Erzähle mir lieber gar nichts mehr, Georg“, schluchzte er. „Solche Abenteuer möchte ich erleben, die ganze weite Welt sehen, wilde Tiere und wilde Menschen, – aber ich soll ja Schneider werden. Am liebsten möchte ich sterben, Georg.“

Der Seiler pfiff spöttisch durch die Zähne. „Du bist ein Narr, dir den Tod herbeizuwünschen. Halte dich doch lieber an das Leben und erobere es mit Gewalt, wenn andere es dir mit Gewalt aus den Händen reißen wollen. In Hamburg gibt es Kapitäne genug, die einen solchen Jungen, wie du bist, an Bord nehmen, ohne viel nach Papieren oder der Erlaubnis des Herrn Vaters zu fragen. Weil sich so ein alter Schneidermeister in den Kopf gesetzt hat, daß sein Sohn unbedingt auch mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch sitzen und allerlei Flicken zusammenstoppeln soll, darum ist die Welt noch nirgends mit Brettern vernagelt. Laß mich nur machen.“

Robert fühlte wohl, daß es nicht recht war, Reden mit anzuhören, die seinen Vater beleidigten. Georg hatte ja recht, der Vater mißhandelte sein eigenes Kind.

„Es sind schon viele Jungen auf- und davongegangen, weil es ihnen in der Heimat nicht mehr gefiel“, fuhr der Seiler fort. „Ich selbst hab's ja so gemacht!“

Robert fuhr auf. „Du?“ fragte er ganz erstaunt.

„Natürlich, ich und kein anderer. Meine Mutter war eine Milchhändlerin, die mich an jedem Morgen vor ihren Wagen spannte, bis es mir nicht mehr gefiel. Da ging ich durch die Lappen, – wer wollte mir das verdenken? Zum Hund fühlte ich mich nicht geschaffen.“

Robert saß da mit heißer Stirn und unruhigen Gedanken. Seine Augen gingen sehnsüchtig über das Wasser und den dunklen Wald.

„Laß uns umkehren, Georg“, seufzte er, „und am linken Ufer entlangfahren. Da liegen die kleinen Inseln, auf denen wir als Schuljungen oft Krieg spielten und denen wir Namen gaben. Ich war immer der König.“

Georg musterte die Umgebung. „Vor allen Dingen müssen sich Eure Majestät die Landratten–Bezeichnungen abgewöhnen“, antwortete er. „Vom Umkehren weiß der Seemann nichts, und mit einem Segelboot so ohne weiteres einen andern Kurs einschlagen, das kann er auch nicht. Die verschiedenen Arten der Fortbewegung nennt man erstens, wie wir es bisher taten, ‚vor dem Wind segeln‘, wenn er von hinten, zweitens ‚bei dem Wind‘, wenn er von der Seite weht, ‚mit halbem Wind‘ oder ‚backstags‘, wenn er halb von hinten, halb von der Seite kommt, und ‚kreuzen‘ oder ‚lavie–ren‘, wenn er entgegenweht. Dabei kann man sein Ziel natürlich auf geradem Wege nicht erreichen, sondern segelt in stumpfem oder mindestens doch rechtem Winkel von einem Ufer zum andern. Was du eben in richtiger Fuhrmannssprache ‚umkehren‘ genannt hast, heißt ‚über Stag gehen‘, das Kommando lautet: ‚Klar zum Wenden!‘ und dann, wenn alle Schooten bedient sind: ‚Wen–den!‘“

Er hatte während dieser Auseinandersetzung die erforderlichen Handgriffe ausgeführt, und Robert verfolgte mit fast zärtlichen Blicken jede Bewegung seines Freundes.

„Georg“, rief er, „jetzt fahren wir ‚beim Wind‘, nicht wahr?“

„All right, Sir“, lachte der Seiler. „Wahrhaftig, du bist zum Seemann geboren. Gib doch noch einmal die Flasche da aus dem Kasten herüber. Der Müller wird ja nicht arm werden, wenn ich mit seinem Kognak auf dein Wohl trinke.“

Robert gehorchte widerstrebend, nur um in seines Freundes Augen als ein ganzer Mann dazustehen. Georg machte sich ja aus solchen Kleinigkeiten nichts, also durfte er nicht weniger mutig erscheinen.

Der Seiler hielt die Flasche gegen das Licht. „Wird gar nicht bemerkt“, sagte er, „und darauf kommt im Leben alles an.“

Robert verbarg aufatmend die Flasche. Obwohl niemand dabei war, so schien es ihm doch, als sähen tausend Augen den Diebstahl. – Jetzt hatte das Boot den eigentlichen Mühlenteich wieder erreicht, und Georg hielt sich links, wo verschiedene kleine Inseln wie grüne Punkte im ruhigen Wasser lagen. Durch alle diese einzelnen Arme des Teiches kreuzte das kleine, wendige Fahrzeug, während der Seiler von seinen Reisen erzählte und den lauschenden Jungen so gut zu fesseln wußte, daß er tief seufzte, als der Garten des Müllers wieder erreicht war.

„Du fährst noch manches Mal mit mir, nicht wahr, Georg?“ fragte er.

„Sooft du willst, mein Junge. Aber für heute müssen wir es genug sein lassen, glaube ich. Mitternacht ist vorüber, und bald wird es heller Tag werden.“

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Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert der Schiffsjunge