2. An Bord der Antje Marie

2. An Bord der „Antje Marie“.

Die Matrosen liefen an Deck hin und her, der Schlepper arbeitete mit voller Maschinenkraft, und die Galliot folgte gehorsam in seinem Kielwasser. An Bord kommandierte der Lotse, denn obwohl das Schiff schon mehrere Tage vorher vollständig seeklar gemacht worden war, unterzog man doch alles einer nochmaligen genauen Prüfung. Verschiedene Wanten wurden nachgesetzt, die Befestigung des großen Bootes, das immer mitten auf Deck vor dem Großmast steht, untersucht und die Segel auf den Rahen soweit gelöst, daß sie auf Kommando sofort gesetzt werden konnten.


Robert stand in der Nähe des Matrosenlogis und sah hinter sich den Hafen von Hamburg allmählich verschwinden; dann folgte St. Pauli mit dem Hafenkrankenhaus auf der höchsten Höhe und endlich Altona. Und nun passierte die Galliot das reizende Neumühlen; hier hatte im Oktober der „Blitz“ gelegen, hier hatte damals die Sonne ein so bezaubernd schönes Landschaftsbild beschienen, doch heute kräuselte ein frischer Ostwind die Wellen am Bug zu weißem Schaum, heute pfiff es schneidend kalt durch das Takelwerk, und an Land huschten in den Gärten die welken Blätter wie Gespenster wirbelnd durcheinander.

Starr heftete der Junge die Augen auf das Ufer. Teufelsbrücke, Blankenese, der Leuchtturm – alles glitt schneller und schneller vorüber. Immer breiter wurde die Elbe, schon ließ sich eine leichte Dünung spüren, und Robert stand noch ganz in Gedanken versunken, da legte sich eine Hand auf seine Schulter.

„Nun, mein Junge, was treibst du hier?“ fragte eine Männerstimme.

Robert fuhr auf. Der das sagte, war ein älterer Mann von mindestens fünfzig Jahren, mit schwermütigem, kränklichem Gesicht und großen, tiefliegenden Augen, die jedoch freundlich auf den Jungen herabsahen. „Möchtest du lieber wieder zurück nach Hause? – Bei Glückstadt ist das noch möglich.“

„Mohr!“ rief in diesem Augenblick die Stimme des Kapitäns von der Kajütentür herüber, „Mohr – mach keine Dummheiten, hörst du.“

Der Alte wandte sich ab. „Der Montag“, flüsterte er mit einem unterdrückten Seufzer, „der Montag. Es wäre so schade um dich!“

Robert hatte inzwischen Zeit gefunden, die Frage ganz zu verstehen. „Ich fühle durchaus keine Reue“, antwortete er lebhaft, „und ich will Seemann werden um jeden Preis. – Aber was ist denn mit dem Montag?“ fügte er neugierig hinzu.

Der Seemann schüttelte leicht den grauen Kopf. „Er bringt kein Glück“, antwortete er, „man soll nichts am Montag beginnen.“

Kapitän van Swieten kam breitspurig über das Deck. „Junge“, sagte er, „geh in die Kajüte und wasch das Kaffeegeschirr, hörst du. Nachher soll dir der Steuermann deine Pflichten genau aufzählen, damit du sie ein für allemal kennenlernst.“

Die Worte wurden sehr freundlich, aber so bestimmt gesprochen, daß Robert die Absicht des Kapitäns, ihn von dem alten Matrosen zu trennen, klar durchschaute. Aber warum das? Der Mann mit den weißen Haaren und den ernsten Augen hatte ihm doch sehr gefallen.

Er ging in die Kajüte und begann das Kaffeegeschirr zu spülen. Während dieser Beschäftigung erschien der Steuermann, dessen mürrisches Gesicht ihm von vornherein Furcht einflößte, und dessen roter Bart fast an eine Mähne erinnerte.

Nachdem er in barschem Ton den neuen Kajütenjungen nach Namen und Herkunft gefragt hatte, sagte er stirnrunzelnd: „Du scheinst mir ein sehr vorlautes Maul zu haben, das soll aber bald anders werden. Du hast die Kapitänskajüte und auch meine rein zu halten, Stiefel zu putzen, Kleider auszubürsten und bei Tisch zu bedienen. Für das Geschirr bist du verantwortlich, und was du zerschlägst, das mußt du von deiner Heuer bezahlen. Deine Koje werde ich dir später zeigen. Über ihr befindet sich ein Wandschrank, und – aber geh nur gleich mit mir“, unterbrach er seinen eigenen Satz – „du sollst den Schrank sehen, damit dir meine Befehle verständlicher werden.“

Er führte den Jungen zum Vorderteil des Schiffes und gab ihm einen kleinen Schlüssel. „Mach auf!“ befahl er, auf eine Tür deutend, und fuhr dann in seiner Erläuterung fort. „Hier steht das Geschirr, jedes in einem bestimmten Fach, um es vor dem Fallen zu sichern, und darunter sind drei kleine Schubladen für den wöchentlichen Bedarf des Kapitäns an Kaffee, Tee und Zucker. Das wird dir vom Untersteuermann an jedem Sonnabend zugeteilt, und damit mußt du auskommen. Ertappe ich dich beim Naschen, so schmeckst du das Tauende.“

Robert wurde abwechselnd rot und weiß. Ihm kam die Erinnerung an das gestohlene Geld, von dem er zwar keinen Groschen für sich behalten hatte, dessen Entwendung er aber doch begünstigt hatte. Unfähig, zu antworten, schwieg er und ließ den Obersteuermann seinen Vortrag beenden.

„In jedem Matrosen siehst du deinen Vorgesetzten“, fuhr dieser fort, „und untersteh dich nicht, eine vorlaute oder trotzige Antwort zu geben. Wenn der Kapitän nach dir klingelt, erscheinst du sofort mit der Mütze in der Hand, betrittst die Kajüte und fragst höflich nach seinen Wünschen. – Wenn ich selbst dich rufe, so antwortest du gar nicht, sondern hörst nur, was ich sage. Auf jeden Ungehorsam folgt eine Lektion mit dem Tauende, das merke dir vor allem. Und jetzt geh an Deck, um mit anzufassen, wenn die Segel gesetzt werden.“

Er verließ das Logis, in dessen Nähe der Kapitän mit langsamen Schritten auf- und abgegangen war, offenbar um die Unterhaltung zwischen ihm und Robert deutlich zu hören. Jetzt winkte er dem Obersteuermann, ihm in die Kajüte zu folgen.

Kapitän van Swieten nahm aus dem Schrank eine Flasche, trank, und bot sie dann dem anderen an. „Renefier“, sagte er, „warum hast du den neuen Jungen so hart angefahren? Ich will die gewöhnlichen Schiffsgesetze auf meiner Galliot nicht eingeführt haben; ich kann sie nicht brauchen, das habe ich dir schon oft gesagt. Ein Verräter untergräbt uns die ganze Zukunft, und du selbst weißt doch am besten, welche goldenen Früchte das Geschäft trägt.“

Der Obersteuermann zuckte die Achseln. „Die Galliot ist nicht so ganz allein dein Eigentum, van Swieten“, antwortete er, „das vergiß nicht. Oder willst du mir im nächsten Hafen meinen Anteil auszahlen und dir einen anderen Steuermann suchen? Du selbst kannst kein Schiff über den Ozean führen, das weißt du.“

Der Kapitän wurde blaß vor Ärger. „Wenn du annimmst, daß ich das weiß, Renefier, so waren ja deine Worte überflüssig“, sagte er. „Was hast du davon, den Herrn zu spielen und vielleicht einen dummen Jungen gelegentlich durchzuprügeln?“

Des Steuermanns Augen blitzten. „Was ich davon habe, van Swieten?“ wiederholte er. „Den nötigen Respekt bei der Mannschaft, daß du es nur weißt. Es geht auf der ›Antje Marie‹ zu, als hätte ein Weib das Kommando. Komme ich heute nicht, komme ich morgen. Das ärgert mich.“

Der Kapitän trank wieder. „Ach was!“ sagte er, „das ist dummes Zeug, Renefier, daran änderst du nichts mehr. Wir sind eine Welt für uns, wir bilden eine geschlossene Gemeinschaft, deren Glieder untereinander vor allen Dingen gute Freunde sein müssen – das geht aber nicht bloß mit dem Tauende, mein Bester. Frißt der Schlingel ein paar Pfund Zucker, so tu, als hättest du es nicht gesehen, und gibt er eine naseweise Antwort, so lache darüber, dann gefällt ihm das Leben an Bord und er ist treu. Zehn bis zwanzig echte Spitzen im Hafen von Havanna glücklich den Augen der Spürhunde entzogen, ein paar Kisten Champagner mit Geschick an Land gebracht, und er kann so viel Geschirr zerschlagen, wie er Lust hat. Ich sage dir, du sparst Pfennige, während du Taler über Bord wirfst, oder glaubst du, daß der Bengel später die gefährliche Arbeit für unsere Rechnung willig tut, wenn man ihn jetzt hart anfaßt? – Ich mache die Reise zum sechzehnten Male und bin bei allen meinen Leuten beliebt; du bist erst seit acht Tagen an Bord und willst mir jetzt schon Lehren geben?“

Der Obersteuermann nahm die Mütze ab und kratzte sich hinter dem Ohr.

„Wollte auch, ich hätte es nie getan“, brummte er. „Wie ist das Deck gescheuert und wie sind die Kojen gelüftet, wie ist der Proviant verstaut? Zum Davonlaufen!“

Van Swieten lächelte überlegen. „Kleinigkeiten“, schmunzelte er, „unbedeutende Nebensachen. Die Matrosen sind treu, weil sie wissen, daß der Dienst auf der ›Antje Marie‹ mehr einbringt, als man jemals auf irgendeinem andern Fahrzeug verdienen kann. Das ist es, was wir brauchen.“

Der Obersteuermann schwieg und ärgerte sich im stillen. Hätte er ahnen können, was im Logis die Leute flüsterten, so würde ihm vollends die Galle ins Blut getreten sein. „Du“, sagte einer, „wie gefällt dir der neue ›Erste‹?“ „Gestrenge Herren regieren nicht lange!“ rief ein anderer. „Der braucht einmal eine Sturzsee!“ meinte der dritte. „So zehn Meter hoch aus dem Mast – das kühlt den Eifer.“ Die andern lachten. „Wer weiß? Wenn er das Maul zu voll nimmt, regnet es vielleicht einmal unvermutet hinein.“

Robert hörte das alles mit Erstaunen. Er hatte sich nach Georgs Berichten den Dienst an Bord viel strenger und härter gedacht als er hier zu sein schien. Die buntgewürfelte Mannschaft besaß offenbar von Gehorsam nur sehr schwache Begriffe; es war mehr eine Art lustiger Zechkameradschaft, denn auch mehr als eine Flasche Rum sah Robert von Hand zu Hand gehen, obwohl ihm sein Freund häufig gesagt hatte, daß Alkohol nur ausnahmsweise und in geringen Mengen vom Steuermann verteilt werde.

Sobald aber an Deck ein Kommando ertönte, änderte sich wie durch einen Zauberschlag das nachlässige Wesen der Leute. Einer suchte es im Laufen und Klettern dem andern zuvorzutun, einer war noch schneller, noch gewandter als der andere. Robert wurde, als er mit Hand anlegen wollte, von den Matrosen mehrfach beiseite gedrängt, und einmal fiel er – er wußte nicht, ob aus Versehen oder infolge einer kleinen Neckerei – sogar mit seiner ganzen Länge auf das Deck, als die Leute plötzlich ein Tau, an dem er noch aus Leibeskräften riß, wie auf Verabredung losließen. Ein lautes Gelächter brachte ihn aber schnell wieder auf die Füße.

Der Wind bauschte die Segel, das Schlepptau wurde losgeworfen und an Bord der Galliot geholt; unter dem lustigen Gesang der Matrosen glitt das Schiff dahin. Der Lotse ließ sich vor Helgoland von einem kreuzenden Kutter an Bord nehmen, und jetzt hatte Kapitän van Swieten das Kommando. Es wurden noch mehr Segel gesetzt und die Geschwindigkeit der ›Antje Marie‹ auf neun Knoten geloggt. „Loggen“ nennt der Seemann das Messen der Seemeilen, die ein Fahrzeug in einer Stunde zurücklegt.

Die Galliot machte also neun Knoten in der Stunde und hatte daher die Insel Helgoland schon sehr bald weit hinter sich gelassen. Es war völlig dunkel, als Robert ein ganz eigentümliches Unbehagen fühlte. Das starke Auf- und Niederstampfen des Schiffes, die schiefe Lage nach der Leeseite erregten ihm Übelkeit. Seine Nase wurde spitz, die Lippen farblos und das Gesicht fast grünlich. Er saß auf seiner Kiste, von der er emportaumelte, als zufällig der mürrische Obersteuermann vorüberging. Er wollte schnell nach irgendeiner Arbeit greifen, sank aber kraftlos zurück und konnte nur einen angstvollen Blick auf den gestrengen Vorgesetzten werfen. Das Schiff, die Masten, das Meer, alles schien sich mit ihm in rasender Geschwindigkeit zu drehen, während die Kehle zugeschnürt war und ein Krampf den Magen erfaßte.

„Seekrank“, brummte Renefier. „Geh an Deck in die frische Luft, aber vorher trink aus dieser Flasche einen tüchtigen Schluck Rum, das tut dir gut.“

Robert gehorchte mit vieler Mühe, aber sowie das scharfe Getränk herunter war, stürzte er zur Kajütentür hinaus, beugte sich über Bord, und – –

Oh, das tat ihm wohl, aber zuerst glaubte er, daß es der Tod sei, der ihn so entsetzlich würgte und die Eingeweide fast zerriß. Er war nur halb bei Bewußtsein, als ihn zwei Arme von hinten erfaßten und aufhoben. Der alte Matrose war es, der Mann mit den schwermütigen, freundlichen Augen. Voll Mitleid trug er den Jungen in seine Koje, wo Robert sofort einschlief und erst mitten in der Nacht wieder erwachte. Die Seekrankheit in ihrer ganzen Stärke hatte ihn ergriffen.

Robert ertrug die Sache verhältnismäßig leicht. Er spürte schon am folgenden Morgen einen wahren Heißhunger und schlich sich in die Kombüse, um etwas Eßbares zu erlangen. Der Koch gab ihm auch gleich ein tüchtiges Stück Pökelfleisch mit dem Rest des Schwarzbrotes, das noch von Hamburg her an Bord war.

Robert hätte aber alles vor Schreck beinahe fallen lassen, als er dem Mann ins Gesicht sah. Das war Gallego, der Spanier, der vorgestern abend in Peter Vollands Schenke den Malaien verwundet und den der Wirt so sorgfältig in Sicherheit gebracht hatte, bevor er den Polizisten die Tür öffnete. Der Junge stand jetzt verwirrt und sprachlos vor dem rohen Gesellen, dessen braunes Gesicht, zerschunden und mit Pflastern bedeckt, noch die deutlichen Spuren des Kampfes trug.

Sonderbarerweise war aber der Koch ihm gegenüber sehr zuvorkommend, bot ihm alles mögliche an und riet ihm dringend, einen Magenbitter zu trinken, wobei er lebhaft bedauerte, selbst von diesem unschätzbaren Stoff leider nichts zu besitzen. „Laß dir vom Untersteuermann etwas geben, mein Junge“, fügte er hinzu, „und dann kannst du mir immerhin ein paar Tropfen zukommen lassen. Bei diesem kalten Wind ist das eine wahre Wohltat, weißt du, – ich mache es mit Fleisch und Kaffee wieder gut.“

Robert wagte nicht, dem Spanier etwas abzuschlagen, daher tat er, was man ihm sagte, und Gallego stürzte den Branntwein auf einen Zug in die durstige Kehle hinab.

„Wir müssen gute Freunde werden“, raunte er mit vertraulichem Blinzeln dem Jungen zu. „Ich mag dich leiden, Kleiner.“

Aber Robert teilte diese Zuneigung durchaus nicht. Er ging dem Koch aus dem Wege, wenn es irgend möglich war, und sprach nur mit ihm, wenn er mittags seine „Back“ zum Füllen hingab. Die dicke Erbsensuppe wurde dann auf der Seekiste sitzend verzehrt, wobei jeder Mann den Napf zwischen seinen Knien hielt. Robert erfuhr hier, daß alle Matrosen ihre Spitznamen hatten, weshalb er sich denn auch nicht mehr wunderte, von der ganzen Mannschaft „Moses“ genannt zu werden. Außer ihm gab es einen „Speckesser“, einen „Rotfuchs“, einen „kleinen und großen Russen“, eine „Klappmütze“ und so weiter. Den alten Matrosen, seinen Freund Mohr, nannten sie den „Geisterseher“.

An diesen Mann schloß er sich ganz besonders an, und von ihm lernte er die Einrichtung des Schiffes kennen. Seine Fahrten mit dem Segelboot und die Erläuterungen, die ihm der Matrose vom „Blitz“ gegeben hatte, erleichterten ihm zwar wesentlich das Verständnis des Ganzen, aber dennoch gab es vieles, das er jetzt zum erstenmal sah. Und Mohr unterrichtete den Jungen und zeigte ihm alles, wenn sich dazu Zeit fand.

„Der vordere Teil des Schiffes heißt der ›Bug‹“, sagte er, „und die augenartigen Löcher, die du dort auf jeder Seite in der Bordwand siehst, nennt man ›Klüsen‹. Durch sie laufen die Ankerketten beim Herablassen und ›Hieven‹ des Ankers. Außerdem trägt der Bug gewöhnlich einen Aufbau, die ›Back‹, die das Vorschiff vor überkommenden Seen schützt und zugleich als Stand für den Ausguck dient. Im Bug, unter und auf der Back, enden alle Taue, durch welche die Vorsegel, also die dreieckigen Klüversegel, regiert werden.“

Robert begriff alles ohne Mühe. „Und was bedeutet es“, unterbrach er, „wenn der Steuermann fragt: ›Alles klar?‹“

„Das heißt“, antwortete der Alte, „ob alles in Ordnung und alles vorbereitet ist, um irgendein Segelmanöver auszuführen. ›Macht klar Deck!‹ zum Beispiel bedeutet, alle Tauenden an ihren bestimmten Plätzen aufzurollen, so daß nicht allein alles ordentlich aussieht, sondern auch sofort für ein weiteres Manöver bereit ist. Du weißt ja, Junge, Ordnung ist das halbe Leben.“

„Jetzt zum Achterschiff“, drängte Robert, und der Alte folgte lächelnd seinem ungeduldigen Schützling nach hinten. „Die Erhöhung, unter der die Kajüte liegt“, begann er seinen zweiten Vortrag, „heißt das ›Quarterdeck‹. Das Achterschiff ist ausschließlich für den Aufenthalt des Kapitäns und der Steuerleute bestimmt, wir Matrosen dürfen es nur auf ausdrücklichen Befehl betreten. Von hier aus wird das Schiff durch das Steuerruder regiert, seemännisch das ›Ruder‹ genannt. In seinem Kopf steckt eine eiserne Stange, die ›Ruderpinne‹, die mit dem Steuerrad durch eine lange Kette verbunden ist. Bei gutem Wetter steht ein Matrose am Ruder, bei schlechtem aber zwei.“

Robert wollte mehrere Male den Alten unterbrechen, jetzt endlich platzte er heraus mit einer Frage, die ihm schon längst auf der Zunge lag. „Steuert denn nicht der Steuermann selbst das Schiff?“

„Der Steuermann beobachtet auf dem Kompaß, ob der Matrose am Ruder den richtigen Kurs einhält. Ist dieser zum Beispiel Nord-Nord-West, wie wir jetzt laufen, so muß die Spitze der Kompaßrose Nord-Nord-West zeigen und dabei immer in der Mittellinie des Schiffes liegen, weicht sie aber nach rechts oder links ab, so muß das Rad so lange gedreht werden, bis sie wieder richtig zeigt.“

Robert nickte. „Noch eins!“ bat er, „›Anluven‹ heißt doch: das Schiff mit dem Bug in den Wind drehen, nicht wahr? Aber was ist ›Backlegen‹?“

„›Backlegen‹ heißt: die Fahrt des Schiffes stoppen. Die Segel am Fockmast werden dabei nicht verändert, am Großmast aber braßt man die Raaen so herum, daß der Wind auf sie von vorn einwirken muß, dadurch treibt er mit derselben Kraft das Schiff nach hinten, mit der er es durch die Vordersegel nach vorn treibt. Es ergibt sich also eine Gegenwirkung, ein Gleichgewicht der Kräfte, und das Fahrzeug bleibt regungslos liegen. Man wendet dies Manöver an, wenn ein Boot herabgelassen werden soll, oder wenn die Kapitäne zweier sich begegnender Schiffe zusammen sprechen wollen, was wir ›Preien‹ nennen.“

„Aber jetzt müssen wir aufhören“, fügte er hinzu. „Ein anderes Mal mehr darüber. Und höre noch, Junge! Wenn dich der Koch verleiten will, ihm von dem Rum des Kapitäns zu geben, so tu es nicht; Unrecht bringt keinen Frieden.“

Robert schlug die Augen nieder. „Ich will es nicht tun, bestimmt nicht, Onkel Mohr!“

Der Matrose seufzte leise. Seine Augen sahen starr über das Meer, langsam schüttelte er den Kopf. „Sollst mein Erbe werden“, flüsterte er, „sollst haben, was ich besitze, weil du mich ›Onkel‹ genannt hast, weil mir dein unschuldiges Herz Vertrauen und Liebe entgegenbringt. Du bist noch ein Kind, – und du bist seit Jahrzehnten der erste, der mir so menschlich begegnet ist. Hab Dank!“ –

Er glitt mit der wetterharten Hand über Roberts Haar und ging dann seiner Arbeit nach. Mit den übrigen Leuten sprach er wenig, obgleich ihn keiner belästigte, sondern vielmehr alle eine gewisse Scheu vor ihm an den Tag legten. Er war von der ganzen Besatzung am längsten an Bord, und Kapitän van Swieten behandelte ihn fast wie einen gleichgestellten Freund. Irgendein Geheimnis mußte aber doch den „Geisterseher“ umgeben, und irgendein Geheimnis umgab überhaupt das ganze Schiff – Robert fühlte es mehr, ohne es jedoch deuten zu können.

Es blieb ihm auch nur wenig Zeit, an andere Dinge als an seine Arbeit zu denken. Man war in den englischen Kanal eingelaufen, und dieses Fahrwasser ist bekanntlich für den Seemann eins der gefährlichsten. Es gibt viele Kapitäne, die während der Reise durch den Kanal nur von Zeit zu Zeit vollständig angezogen auf dem Sofa einen Augenblick schlafen, sonst aber immer an Deck sind, um alles selbst zu überwachen.

Auch Kapitän van Swieten und sein Obersteuermann verdoppelten ihre Vorsicht, besonders da das Schiff bei Einbruch der Nacht in dichten Nebel geriet. Die grüne und rote Positionslaterne wurde auf beiden Seiten in die Wanten gesetzt, und eine weiße Laterne kam in den Vortop. Der Untersteuermann, der seines besonders scharfen Auges wegen der „Fernkieker“ genannt wurde, verbrachte fast die ganze Zeit neben dem Matrosen auf dem Ausguck, und der Obersteuermann ging fortwährend an Deck von einer Seite zur andern, um ein vorübersegelndes Schiff rechtzeitig zu bemerken.

Diese Vorsicht war nur allzu gerechtfertigt. Robert sah, wie nacheinander mehrere Schiffe in nächster Nähe rechts und links an der „Antje Marie“ vorüberzogen, so nahe, daß zwischen dem einen und dem andern Fahrzeug nur wenige Meter Entfernung blieben. Im Nebel sahen diese Schiffe geradezu riesig aus, lautlos wie Nachtgespenster glitten sie vorbei.

Der Obersteuermann trat in die Kajüte. „Ist kein Nebelhorn an Bord, van Swieten?“ fragte er.

Der Kapitän nickte. „Doch, Renefier. Hier im Schrank muß es liegen. Such nur, es ist entweder da, wo meine Kleider hängen, oder bei den Notsegeln. Finden wirst du es bestimmt!“

Der Steuermann warf ärgerlich durcheinander, was ihm zwischen die Finger kam. Seine Füße stampften vor Ungeduld auf den Boden. „Eine Teufelswirtschaft“, brummte er. „Im dichtesten Nebel das Horn nicht finden. Da soll doch – –“

Er brach ab, weil die Tute, auf dem Boden des Kleiderschrankes unter Stiefeln und Tauenden vergraben, endlich zum Vorschein kam. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging er hinaus und drückte das Instrument dem nächsten Matrosen in die Hand. „Alle zwei Minuten!“ befahl er. „Aha, dort wird es auch schon auf anderen Schiffen lebendig.“

Und wirklich hörte man über das ruhige Wasser von allen Seiten die klagenden, langgezogenen Töne. Es lief kalt über Roberts Rücken herab, als er das sonderbare Konzert mit anhörte. Wie Warnungsrufe aus einer anderen Welt klangen die Hörner.

„Passiert es häufig, daß zwei Schiffe zusammenstoßen?“ fragte er flüsternd einen der Matrosen, der neben ihm stand.

Der Mann nickte. „Sehr oft sogar“, bestätigte er. „Ich selbst bin einmal nahe daran gewesen – auf Haaresbreite, möchte ich sagen. Das war in der Nordsee und der Nebel so dicht, daß wir vom Großmast aus den Bugspriet nicht sehen konnten. Plötzlich ertönte ein furchtbares Krachen – im Nu waren wir an Deck, aber da sank schon das Schiff unter unsern Füßen. Ich weiß von dem ganzen Vorfall nur noch soviel, daß ich halb besinnungslos ein über mir erscheinendes Tau ergriff. Es war das Bugstag des anderen Schiffes; ich hielt mich mit allen Kräften daran fest und wurde auch schon nach wenigen Augenblicken durch ein Schlingtau an Bord geholt. Es war eine englische Brigg, mit der wir zusammengestoßen waren. Sie legte sich back, setzte ein Boot aus und versuchte, auch die übrige Mannschaft des sinkenden Fahrzeuges zu retten, aber bis man die nötigen Vorbereitungen getroffen hatte, war alles zu spät. Vor unsern Augen verschwanden die Mastspitzen, als das Boot den Wasserspiegel berührte.“

Robert fühlte doch ein unüberwindbares Grauen. Er ging auch dann nicht zur Koje, als seine Wache abgelöst wurde, sondern blieb an Deck und horchte und spähte in den Nebel hinaus.

Gegen Mitternacht wurde der Wind etwas stärker, und sogar einzelne heftige Stöße fuhren durch das Takelwerk. „Alle Mann an Deck!“ erschallte die Stimme des Obersteuermanns, und die vor kaum einer Stunde zur Koje gegangene Wache mußte aus den warmen Decken wieder heraus und in der kalten Herbstnacht ihre beschwerliche Arbeit verrichten.

„Zwei Reffs in die Marssegel!“

Einer vor dem andern stürmte die Mannschaft in die Wanten hinauf, und jeder bemühte sich, der erste zu sein. Selbst Gallego und der Kochsmaat, ebenso der Zimmermann, die sonst nur an Deck arbeiteten, mußten mit hinauf, so daß bloß die Leichtmatrosen und die Jungen von diesem gefährlichen Dienst verschont blieben. Sie bedienten an Deck die Fallen und Brassen. Da bei der kleinen Besatzung nur immer ein Mast zur Zeit vorgenommen werden konnte, mußte man, bevor der Wind ganz aufgekommen war, schon die Segel wegnehmen.

Es blieb jedoch alles ruhig, und am Morgen strahlte bei scharfer Kälte die hellste Sonne vom Himmel herab. Robert sah wieder, wenn auch nur als ferne dunkle Umrisse, die Küste des festen Landes, er sah unzählige Fischerboote, die in größerer oder geringerer Nähe wie Nußschalen auf dem Wasser schwammen, und erlebte dann etwas, was ihn ganz besonders interessierte. Einer der Matrosen, der erst in Hamburg an Bord gekommen war, schrieb auf seiner Kiste einen Brief und steckte ihn dann in eine leere Weinflasche, die er vorher gereinigt hatte. Zwei englische Schilling folgten dem Papier, und dann erhob sich der Mann, um den Kapitän um etwas Siegellack zu bitten.

Roberts Augen waren neugierig jeder Bewegung gefolgt. „Was tun Sie da?“ fragte er unwillkürlich. „Wollen Sie die Flasche ins Meer werfen?“

„Beinahe!“ lächelte der Mann. „Aber hast du vielleicht auch ein paar Worte an die Deinen zu bestellen, so beeile dich. Zehn Minuten will ich noch warten, Papier ist hier.“

Robert ließ sich das nicht zweimal sagen, er ergriff mit Freuden die Gelegenheit, seine alten Eltern zu beruhigen und um Verzeihung zu bitten. Die Feder flog förmlich über das Papier, als zufällig der Kapitän in die Nähe der Tür kam und den Jungen schreiben sah. Rasch ging er zur Kajüte zurück –

Als dann der Matrose um etwas Siegellack bat, empfing er ihn sehr freundlich. „Holt nur ein Boot heran“, sagte er, „ich habe auch geschrieben und will die Flasche schon verschließen.“

Der Mann ging, aber kaum war er fort, als van Swieten mit einer langen Schere Roberts Brief aus der Flasche zog und in seinem Taschentuch verbarg. „Besser so“, murmelte er, „Gott weiß, welche Namen der Bengel nennt. Könnte mir am Ende den preußischen Konsul auf den Hals hetzen! – Nein, nein, besser so!“

Der Matrose hatte inzwischen sein Taschentuch an eine Stange gebunden und mit dieser einfachen Flagge dem nächsten entgegenkommenden Boot ein Zeichen gegeben. Das emporgehaltene Ruder gab ihm Antwort, worauf sehr bald das kleine Fahrzeug in einiger Entfernung von der ›Antje Marie‹ über die Wellen tanzte und dann fast unter den Bug herankam. Die an einer Leine befestigte Flasche wurde ins Meer geworfen, von den Fischern aufgefangen und im Vorratskasten des Bootes untergebracht. Noch ein Gruß von beiden Seiten, dann war die kurze Begegnung vorüber.

„Und diese Briefe werden wirklich auf die Post gegeben?“ fragte Robert.

„Jedesmal!“ antwortete der Matrose. „Das Geld ist nicht immer in ganz sicheren Händen – häufig wandert der Brief unfrankiert zum Schalter, und die lieben Angehörigen müssen das Porto selbst bezahlen, aber vernichtet oder unterschlagen wird kein Schreiben. Auch der ärmste Fischer würde das nicht tun.“

Robert sah mit leichtem Herzen dem Boot nach. Zum erstenmal seit langer Zeit empfand er wirkliche Freude. Jetzt würden seine Eltern erfahren, wo er war, sie konnten beruhigt sein und mußten doch auch verzeihen, wenn er sie jetzt um Vergebung bat.

Aber er ahnte ja nicht, daß unterdessen der Kapitän in aller Gemütsruhe seinen Brief an einem Licht verbrannte. Robert handhabte mit wahrem Eifer den Scheuerbesen, der ihm den Weg zur Kapitänswürde bahnen sollte, und plauderte dann während der Freiwache mit dem alten Mohr. Jetzt näherte man sich auch schon dem Atlantik, der Wind wurde steifer, und der Kurs mußte etwas südlicher genommen werden. Robert hatte gegen Mittag mit zwei Leichtmatrosen das Bramsegel zu setzen und kam dabei ebenso schnell in die Wanten hinauf wie seine erfahreneren Genossen. Es waren ihm während der kurzen Zeit die ›Seebeine‹ schon ganz nett gewachsen, und nur das ›Schlingern‹ des Schiffes von einer Seite zur andern machte ihm noch Schwierigkeiten. Bei dem großen Schwingungsbogen, den da oben die Bramstenge in der Luft beschrieb, hieß es sich tapfer mit den Händen festhalten und sicher in den ›Pferden‹ stehen, wie man die Haltetaue unter den Rahen nennt. Das Großbramsegel war am schnellsten gesetzt, und als die drei wieder an Deck kamen, erhielten sie sogar von dem mürrischen Obersteuermann ein Lob.

Am Abend kam jedoch eine Geschichte vor, die Roberts gute Laune sehr ins Schwanken brachte. Man hatte jetzt das offene Meer erreicht, und es herrschte eine Kälte, die das Spritzwasser an Deck innerhalb weniger Augenblicke zu Eis gefrieren ließ. Der Kapitän und der Obersteuermann unterhielten sich in holländischer Sprache sehr lebhaft miteinander, dann rief van Swieten durch das offenstehende Fenster der Kajüte: „Robert, bring mir mein Nachtglas!“

Der Junge beeilte sich, einen ›steifen‹ Grog zu mischen und ihn dem Kapitän zu bringen, in der besten Meinung, den an jedem Abend üblichen Nachttrunk heute einmal auf Deck reichen zu sollen; aber o weh! – Van Swieten bemerkte das unterdrückte Lachen der Mannschaft, und da er seine eigene Schwäche nur zu gut kannte, ärgerte ihn der Vorfall nicht wenig. Ein blauer Fleck an Roberts Oberarm gab später von diesem Vorfall Zeugnis, aber nebenbei hatte Robert auch die Genugtuung, das Grogglas schon leer zu sehen, als er einige Augenblicke später das in Wirklichkeit verlangte Nachtfernrohr dem Kapitän überbrachte. Von der Mannschaft glaubte ihm kein einziger, daß dieser Irrtum unabsichtlich geschehen sei, und zu seinem Erstaunen sah er, wie ihn der ärgerliche Zwischenfall in ihrer Achtung hob. „Das sind so Jungenstreiche“, hieß es, „wir haben's ja selbst nicht besser gemacht, und der ›Alte‹ säuft wirklich wie ein Schwamm.“

Die Kälte stieg laufend und Renefier war der Ansicht, daß Eisberge in der Nähe seien. Van Swieten meinte dasselbe, und so wurde früh am nächsten Morgen ein Matrose in den Mars des Fockmastes geschickt, um scharfen Ausguck zu halten.

Als bei Tagesanbruch die ersten Sonnenstrahlen das Meer vergoldeten, ertönte vom Mars der Ruf: „Eisberge backbord voraus!“ Die ganze Mannschaft stürzte an Deck, der Kapitän und der Obersteuermann gingen auf das Kajütendeck, und auch Robert drängte sich vor, um das ungeahnte Schauspiel mit anzusehen.

Im Nordwesten erschienen hoch oben in der Luft prächtig glühende, in Regenbogenfarben schimmernde Spitzen, seltsam geformt, hier wie ein ganzer Wald, dort wie ein einsamer Fels. Blau und purpurn, violett und weiß, verschwammen und spielten die Farben, während die Formen wie die Bilder einer Zauberlaterne wechselten. Je höher die Sonne am Himmel emporstieg, desto tiefer herab auf den Meeresspiegel fielen die glänzenden Lichter, desto blendender wuchsen die blitzenden Massen, bis endlich, als das große Tagesgestirn mit seiner leuchtenden Scheibe das ganze weite Meer erhellte, einige Hundert Eisberge in ihrer ganzen Pracht majestätisch langsam vor dem Winde herantrieben.

Wohl alle diese erfahrenen und sogar meistens alten Seeleute hatten ein derartiges Schauspiel schon mehr als einmal gesehen, aber dennoch standen sie alle ganz in den Anblick versunken. Nur Robert konnte nicht schweigen.

Er suchte verstohlen die Hand seines alten Freundes. „Wie schön!“ flüsterte er, „ach, wie schön!“

Der Alte nickte sehr ernst. „Aber wenn zwei von diesen Riesen das Schiff in ihre Mitte nehmen, dann kracht es einmal schauerlich schnell – und die Riesendiamanten segeln weiter – auf dem Meer aber schwimmen nur noch ein paar Trümmer. – – –“

Die dunklen Augen des „Geistersehers“ blickten wie im Traum. Sein weißes Haar flatterte im Wind. „Laß mich es allein sein, Vater im Himmel“, murmelte er, „mich allein, nicht das unschuldige Blut um meiner Sünde willen! Laß es vorübergehn!“ –

Gallego legte von hinten die Hand auf Roberts Schulter. „Der Alte hat seinen schwarzen Tag“, murmelte er, „kümmere dich nicht um ihn. Du, geh in die Kajüte und hole mir ein paar Tropfen Rum – jetzt merkt es keiner.“

Robert beachtete den Spanier gar nicht. Er hatte nur Augen für Mohr. Was mochte es sein, das den alten Matrosen so mächtig bewegte, das seine Aufmerksamkeit von der wirklichen Welt fast ganz ablenkte? – –

Aber zu Betrachtungen war jetzt keine Zeit. Das Kommando des Obersteuermanns ertönte, und das Schiff wurde erst in den Wind geluvt, dann back gelegt. Nur auf diese Weise konnte man hoffen, mit heiler Haut an der gefahrdrohenden Nachbarschaft vorüberzukommen.

Plötzlich hörte man von den kristallenen Riesen ein donnerähnliches Krachen und Prasseln; man sah, wie einige der vielzackigen Häupter sich neigten, plötzlich umfielen und sich gegenseitig zertrümmerten, während die Wogen himmelhoch aufspritzten, wie aus tausend Springbrunnen zugleich.

Dann wurde es wieder ruhiger, und nach wenigen Stunden war das eindrucksvolle Schauspiel gänzlich vorüber.

Diese im Atlantischen Ozean so oft angetroffenen Eisberge sind gleichsam Kinder der großen Gletscher, die von Grönlands Hochgebirge bis ins Meer hineinragen. Sie können besonders bei Nacht oder Nebel den Schiffen außerordentlich gefährlich werden. Diese Gletscher schieben ihre Eismassen allmählich in das Wasser hinein, dessen Temperatur wärmer ist als die der Luft und das Eis so lange unterhöhlt, bis der obere Teil dem Gesetz der Schwere folgt, vom Gletscher abbricht und ins Meer stürzt. So treiben die Massen auf dem großen Ozean, der Windrichtung folgend, nach Süden, wo sie allmählich zerschmelzen.

Der alte Matrose nahm die Mütze vom Kopf und sah über das Meer. Robert wagte es nicht, ihn zu stören, aber als die beiden später allein waren, da fragte er: „Onkel Mohr, was dachtest du vorhin, als wir die Eisberge sahen? Du hattest so sonderbare Augen.“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Noch nicht“, antwortete er. „Das gehört mit zu meinem Nachlaß. Wenn wir hinter Ferrol sind, dann sollst du es erfahren. Diese Reise ist meine letzte.“

Der Junge erschrak. „Du willst das Seemannsleben aufgeben, Onkel Mohr?“ fragte er. „Aber ob du es aushalten wirst an Land?“

Der Matrose lächelte. „Ich gehe nicht an Land, Kind, – das große Seemannsgrab nimmt mich auf. Ich sterbe.“

„Du? – Aber weshalb glaubst du das?“

„Still. Das erzähle ich dir zur rechten Zeit. Für heute wollen wir Fische fangen.“

Der Junge fuhr auf. „Wo?“ rief er. „Wie ist das möglich?“

„Siehst du nicht, daß uns dauernd Fische aller Art begleiten?“ fragte der Alte. „Besonders die kleinen Delphine, die man auch ›Tümmler‹ und ›Schweinfische‹ nennt, trifft man hier überall. Sie schmecken vortrefflich, wie du bald erfahren wirst.“

Gallego mußte nun ein kleines Stück Fleisch hergeben, das am Angelhaken befestigt wurde. An Stelle des Stockes wurde eine Leine genommen, die man von der Rolle ablaufen ließ und an Deck festhielt. Plötzlich zuckte es so stark, daß die Bewegung einen großen Fisch zu verraten schien. Zwei Matrosen sprangen hinzu, und mit vereinten Kräften zogen die drei Männer das zappelnde Tier bis unter den Bug. Hier wurde ihm eine Schlinge um den Kopf geworfen, hinter die Kiemen gehakt und nun der Fang an Bord geholt. An Deck wurde das fast zwei Meter lange Tier mit einem Schlag auf den Kopf getötet. Nachdem die Eingeweide entfernt waren, ließ der Koch das Blut ablaufen, wusch das Fleisch und zerlegte es in Stücke. Der Rücken, mit Salz und Pfeffer eingerieben, wanderte in die Kombüse, um sogleich wie Roastbeef gebraten und dann von Kapitän und Mannschaft mit großem Appetit verspeist zu werden. Auch weniger wohlschmeckende Gerichte würden auf hoher See schon willkommen gewesen sein, nur weil sie eine Abwechslung boten. Jeder Tag hatte seinen bestimmten Küchenzettel, von dem man nur notgedrungen abwich, wenn der Vorrat an Lebensmitteln aus irgendwelchen Gründen nicht mehr ausreichte und die Rationen verkürzt werden mußten. Es konnte also für den Matrosen in jedem Falle nur schlechter, nie aber besser werden. Wie oft saß Robert mit seiner Schüssel auf der Kiste und konnte die schlimme Kost kaum hinunterwürgen! –

Was dem Matrosen fast jeder Nationalität gesetzlich zustand, war ein Pfund Pökelrindfleisch dreimal wöchentlich, dann ein halbes Pfund Pökelschweinefleisch viermal, und dazu abwechselnd Erbsen, weiße Bohnen, Reis und Graupen oder Kartoffeln, solange sie vorhielten.

Einmal während der sieben Tage gab es auch Klöße mit Pflaumen und hin und wieder „Labskaus“, ein Gericht aus kleingeschnittenen Fleischresten, die mit zerstampften Kartoffeln, Zwiebeln und Pfeffer tüchtig geschmort werden und sehr gut schmecken.

Im Hafen war die Sache natürlich anders. Jeder Kapitän sorgte dann für frisches Gemüse und Fleisch, schon um die Leute gesund zu halten.

An Getränken gab es Kaffee, Tee, Branntwein, Rum und Wasser, das in Tanks und Fässern mitgenommen wurde.

War aber auf diese Weise das Leben des Seemanns sehr hart und einfach, so war es andrerseits auch für einen von Haus aus kräftigen Körper sehr gesund. Robert wurde von Tag zu Tag stärker und gewandter; er zeigte sich den Anforderungen des harten Borddienstes durchaus gewachsen und konnte sich in die Gemeinschaft der Matrosen gut einfügen.

Als der spanische Hafen Ferrol erreicht war, ging er mit den andern in der fremden Stadt spazieren. Die alte Jacke aus Peter Vollands Hinterzimmer hatte ihm Kapitän van Swieten gegen einen neuen Seemannsanzug vertauscht, aber Geld bekam er nicht in die Hand, und ebensowenig durfte er allein von Bord gehen. Immer begleitete ihn einer der älteren Matrosen.

„Onkel Mohr“, fragte er eines Tages seinen alten Freund, „wann wirst du denn endlich Urlaub nehmen, um die Stadt anzusehen?“

Der Matrose schüttelte den Kopf. „Nie, mein Junge.“

„Und warum nicht?“ forschte Robert.

„Weil mein Fuß überhaupt die Erde nicht wieder betreten soll.“

Der Junge schwieg, dann aber sah er treuherzig in das Gesicht des alten Mannes. „Onkel Mohr, gehört auch das mit zu deiner Geschichte?“

Der Greis beugte sich über seinen jungen Schützling. „Hinter Ferrol“, murmelte er, „wenn die Fahrt fast zu Ende geht, wenn – die Stunde schlägt!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert der Schiffsjunge