Der Marsch

Nennt es doch ja nicht etwa Spott, wenn ich munter über die Heimatdinge berichte — er hat an Euren eignen Händen geklebt, wenn Ihr ihn findet. Der Schalk wohnt auch im Herzen, und ich gäbe alle diese kleinen schnurrigen Dinge nicht für das Größte hin, ich scherze in eitel Wohlbehagen. Solche kleine Verhältnisse haben immer wie kleine Bilder mit Duodez-Figürchen ein zum Lächeln Herausforderndes, sie mögen behandeln was sie wollen. Wenn ich hinzusetze, dass sich just in den hier beregten Zuständen eine überaus anständige Würde, stattliche Persönlichkeiten, Erkenntnis der im Vergleich kleinen Verhältnisse vorfinden, so wird um so weniger ein Missverstand zu fürchten sein.

O, ich denke so gern dieses kleinen Städtchens, das mich wie eine ehrwürdige Korporation mit scharfen Schattierungen an das Mittelalter gemahnt, wo die Individualität noch gilt, wo die Familie mit ihrem stillen Reize noch webt, wo man bloß Registrator zu sein braucht, um den Honoratioren, wie sie's nennen, anzugehören und den „Klubb“ besuchen zu dürfen mit Reverenz und Tabakspfeife, wo dem sich auftuenden Talente der Weg zum Stadtverordneten, ja zum Senator und somit zur regierenden Respektsperson geöffnet ist wie in den stolzen Institutionen Alt-Englands. Die vortreffliche, schön gegliederte Städteordnung Preußens hat gar trefflich beigewirkt, dies kräftige organische Leben zu bewahren, zu verjüngen.


Und nun zurück ins heitere Pfingstleben, die Klarinetten schreien, die Becken schallen, die große Trommel, dies Staunen sprottauischer Jugend donnert den gewaltigen Marsch, welcher genannt wird von Breslau bis Heidelberg „das Radabum,“ welcher gekannt wird von allen Deutschen, die vom Jahre 1822 an studiert haben. Dieser Sprottauer Marsch ist die deutsche Marseillaise geworden, aber seine Töne verkünden keine Guillotine, keine Volkswut, keinen Revolutionsskandal; volle Gläser, lustige Augen, grüne Jugendhoffnungen winken hinter der Sprottavienne, sie ist ein Gesang des Friedens und der Heiterkeit. Ich glaube nicht, dass sie Patrunke, der Stadtpfeifer, erfunden hat, aber er spielt sie seit Menschengedenken, und mein Cousin, ein frisches Lebegemüt, erfand den berühmten Text „Radabum, radabum, tsching, tsching,“ wenn wir heimfuhren zum Pfingstschießen in der goldnen Ferienzeit unsrer Glogauschen Schule; davon blieb ihm auf allen Universitäten, die er bezog, der chinesische Kaisername Tsching zum Gedächtnis, jenes Marsches, welcher durch ihn Studentenmarsch wurde und die Runde durch ganz Deutschland machte.

Die Freude ist flüchtig, aller Ruhm ein Augenblick — der lustige Tsching liegt schon in kühler Erde, den Erfinder des Marsches kennen wir nicht, und der Magistrat kann ihm keine Pension dekretieren, wenn er noch lebt. Aber bei dieser Gelegenheit muss ich alle die ähnlichen Märsche, selbst das beliebte und geschätzte „Bumratida“ für bloße Glossen und Schotten des ursprünglichen Textes erklären, die Patrunkes Pfeifern unbekannt sind.

Mit dem „Radabum“ beginnt eigentlich das Pfingstschießen, es ist das deutsche „Evan, evoë“ der Griechen, mit dem ersten Trommelschlage breitet sich die ganze, maigrüne Illusion über Sprottau, die Fahnen werden aufgerollt, der spanische Paradeschritt lenkt sich zum Herrn Bürgermeister, diesem wird ein Walzer aufgespielt, und er traktiert die Herren vom Rate und die Herren Fouriere mit Wein und kaltem Braten. Der Tausendsappermenter des Städtchens tritt auf, der Fahnenschwenker, und macht seine Künste, Alles schweigt und schaut und staunt. Herr Ritter ist der einzige seiner Kunst, und weitsehende, sorgliche Bürger fürchten, sie werde mit ihm aussterben. Herr Ritter ist ein schlank, wenn auch etwas mager gewachsener Mann, seine Familie gehört zu den Nachkommen Kleons des Gerbers, sie ignoriert aber ihren Ahnherrn. Er trägt einen kleinen, niedlichen runden Hut, einen braunen, würdigen Frack mit großen, thalergroßen Stahlknöpfen, ein kurzes, dunkelseidnes Unterkleid und Strümpfe gemischt aus Seide und Baumwolle, welche gestreift sind, wie das merkwürdige und seltene Tier, welches man Zebra nennt. All seine Bewegungen sind kurz und leicht, und stets von einem gemessenen Neigen des Kopfes begleitet, eins seiner graziösen Beine pflegt vorgestreckt zu weilen, und leicht und anmutig in seiner Kraft zu spielen. Im Arme ruht die Fahne, so lange er ruht, und sein würdevolles Lächeln beweist, wie er der großen Trommel und den schreienden Klarinetten gern den Spektakel gönnt, durch lange Erfahrungen überzeugt, dass seine eignen Leistungen, sobald die Reihe an ihn kommt, alles Übrige vergessen machen.

Und es schweigt der Lärm, Patrunke bringt mit Energie den Jungen zur Ruhe, welcher seine Pickolflöte von Neuem einsam das „Radabum“ schreien lässt, und entschuldigt mit einer passenden, unverkennbaren Gestikulation nach der unreifen Figur des Künstlers die Störung, dann gibt er das Signal noch einmal, es fliegt von Ellenbogen zu Ellenbogen der Musiker, ein gedämpfter Zephyrwalzer entwickelt sich, Herr Ritter schreitet vor, mit Grazie, nimmt sein Hütchen ab, senkt grüßend die Fahne, auf einem sonst ernsthaften Gesichte erscheint süße Zufriedenheit und Satisfaktion. Er schwenkt die Fahne rechts, er schwenkt sie links, er bugsiert sie zwischen den Zebrastrümpfen hindurch, ja er wirft sie in die Luft, und — staunend macht sich die Teilnahme der Jugend Luft in einem Ah! der Zephyrwalzer schweigt trotz Patrunkes, des Abgehärteten, Stampfen und Dräun — er fängt sie lächelnd wieder auf, Herr Ritter, nimmt wieder sein Hütchen ab, zieht sich mit Anmut zurück und genießt das allgemeine Staunen über seine Geschicklichkeit, indem er schweigend und lächelnd mit dem blauen Baumwollentuche sich den Schweiß abtrocknet.

Bum! dröhnt die große Trommel, und ruft neue Stimmung, und weiter geht der Zug, lebhafter bereits aber immer würdig.

Ich darf es nicht verschweigen, so schwer es mir wird, man könnte sonst falsche Folgerungen daran knüpfen, wenn es anderswie an den Tag käme: Herrn Ritters Fahne trägt jene drei Farben, welche ursprünglich dem Hause Orleans und der Stadt Paris angehört haben, die man Trikolor nennt, und welche bei allen französischen Revolutionen zu sehen waren „Roth, Blau und Weiß.“ Aber ich darf versichern, dass Sprottau solche Symbolik nicht kennt, auch Herr Ritter nicht, obwohl sein Familiengewerbe demokratischen Ursprungs ist. Einfach ist unser Sinn, und Doppelzüngigkeit verachten wir — vielleicht ist's ein punisches Geschenk der Franzosen, diese Fahne, als sie 1813 im Frühjahr bei uns waren zum Besuche; ich weiß es nicht, aber ich will keinen Menschen ins Gerede bringen. Leider fungiert sie freilich heute noch, wenn Pfingsten wiederkommt; aber Herr Ritter ist tot, man hat mir’s geschrieben, ach Alles stirbt, Ritter und Romantik! Ein geschickter Sattlermeister schwenkt sie jetzt, was Sattlermeister! der hat keine Geschichte und keine Zebrastrümpfe!

Vorüber, vorüber! Ich gebe der Wehmut nach, der Marsch nehme seinen Lauf, ich folge ihm nicht, sage nichts von den Zuständen, wenn ihn und die Nankinghosen ein Regenwetter überfällt, wenn die Fahnen, die Disziplin, die ganze Armee zu retten sind. Es sei uns ein kleines Bild einfacher Freuden und Verhältnisse, deren Eigentümlichkeit die Mode noch nicht ganz aufgerieben hat. Noch ein Blick ins Schießhaus selbst, und dann weiter, immer weiter!

Links im Saale sitzen die Honoratioren, spielen L’hombre, rauchen Tabak, trinken Bier, begrüßen Gäste aus der Umgegend, sehen dem Tanze zu, der im mittlern Saale braust. Diese Säle sind nämlich durch offne Bogen verbunden, und bilden ein gar stattliches Lokal — im Dritten sitzt der Tiersélat, der eigentliche Bürger und Meister, er schmaucht, spielt mit Bastankarten Solo, und ist in seinen Äußerungen nicht blöde. Dies ist ein Bild des Staats mit seinen Trennungen, die wir bis gegen das Weltende nicht überwinden werden.

Es ist dort artig Zuschauen: Mütter und Töchter sitzen harrend — die Mütter noch meist in jenem Staate, den sie vor Jahren getragen, die Töchter schon nach Modernem strebend, sei's nur mit einem Bande oder einem Steinchen von Glas. Die Bursche schweigend, über Bequemlichkeit höflich, still rasend im Tanze, bis sie glühen und dampfen, Heiratspläne mit bescheidenen Vergleichen und Umständen unter der Busenkrause hegend. Mit Wohlgefallen sieht man die dreisteren, frischeren, geschickteren Bürgerssöhne sich tiefer hineinwagen in den linken Saal, und die weißen Kinder zum Tanz aufziehen — hier sitzt manche Honoratiorentochter, oder Tochter des kleinen Landedelmanns, die des Respekts halber, des Sitzes halber tief zwischen vornehmen Leuten zu keinem Tanze kommt, weil sich die Bursche nicht hinwagen.

Hat man diesen Mikrokosmus genug betrachtet, dann sieht man vom Balkon dem Treiben zu, das sich unten zwischen den Gebüschen an den Spiel- und Schenkbuden herumtummelt: es wird geliebt, gewagt und intrigiert, die Sonne scheint dazu und blitzt zurück vom nahen Flusse, die alten Stadtwagen, Reste der Klosterzeit, worin die Nonnen spazieren gefahren wurden, bringen aus ihrer Tiefe immer neue weiße Gestalten, man spricht mit Diesem mit Jener, die Luft ist lind und weich — da stürzt es Einem plötzlich wüst in Kopf und Herz, das man sich verborgen hat: es ist ein Puppenspiel, das du vor dir hast, dessen leere Anmut du dir leugnest, um ein Leben zu gewinnen; auch hier ist es nicht das Glück, welches du suchest. Die Leute nehmen ein Interesse der Neugier, des Herkommens an dir, du hast von den Früchten des Weltstrebens gekostet, es ist vorbei, und du musst weiter. Wiedersehen magst du die Heimat noch hundertmal mit tiefem Reize, aber als Heimath ist sie dir doch verloren — ach arge Welt! Was zuletzt mit uns verkehrt hat, ist uns nicht nur stets das Liebste, sondern das Nötige, weil wir wachsen und uns gestalten bis in den Sarg, und Gegendruck fühlen, und nicht immer von Grund aus uns die Umgebung zubilden wollen.

Kaum ist der Strahl aus Gottes Auge, die Liebe, zu retten in dieser rasch gewordenen Welt — selbst zu diesem Glücke ist ein besonderes Glück nötig; nur eine Freundschaft ist noch das Sicherste, welche auf hohem Standpunkte der Humanität begonnen hat, und wo von beiden Seiten das Streben keinen Augenblick ermattet.

Ach, nein! Auch sie bedarf des Glücks. Liebhabereien, Richtungen, Zufälle, Irrtümer kleiner Art trennen auch hier — so stand ich gedankenstarr auf dem Altane und sah in den Trubel, und empfand es schmerzlich, dass die Welt auf solcher Bildungsstufe blasiert sein müsse, wenn sie nicht einen gesunden Leib zu fröhlicher Naturempfängnis und daher sprießend ein frisches Herz zum Liebesreize sich bewahrt.

Ade du kleine Welt, Pfingstschießen mit deinen kleinen Reizen, ich gehöre nicht mehr zu dir, weil ich keine Zukunft in dir suchen kann — und noch am selbigen Abende fuhr ich von dannen, Tränen im Auge, Weh im Herzen —

Ach, wie Viel muss der beweinen
Der die Welt erfassen will.
Altes, müdes Herz schweig still,
Neben teuren Leichensteinen
Wächst dir neues, grünes Gras.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisenovellen von Heinrich Laube, Teil 6