Das Pfingstschießen

„Pfingsten kam, das Fest der Freude,
Wo da grünen Feld und Heide“ —

Seid ihr nie an blitzenden Sommertagen über Land gegangen; Alles war festlich, die Erde grün, der Himmel blau, die Vögel jubelten, die Bäume glänzten in Laub und Blüten, seid Ihr dann nicht zuweilen einer kläglichen Lehmhütte vorübergekommen, aus deren Tür ein gelbes, verhungertes, im Elend verzehrtes Antlitz blickte? Habt Ihr nie diesen schneidenden Kontrast gesehen, welcher wie ein Stoßdegen ins Herz dringt?


Nun, es gibt fast noch Schlimmeres, was Ihr wohl gesehen habt: Hunger lässt sich stillen; aber wie schmerzhaft berührt es uns, wenn wir aus dem bewegenden Geräusche der Stadt, aus dem anregenden Kreise einer Familie oder Gesellschaft in ein armes Dörfchen geraten, und hinter der handgroßen, zerbrochenen Fensterscheibe den Stumpfsinn, die Öde, die interessenlose Leere sitzen sehen mit braungelb ledernen, durchfurchten Wangen, toten Augen, gewelktem Munde. Niemals findet die kleinste Freude einen Weg über die morsche Schwelle, ohne Klang und Ton geht die Zeit in solchem düstern Loche vorüber, und solche Existenz wird auch noch Leben genannt!

So schlimm sind die Leute nicht dran in meiner Vaterstadt; sie ist fein und sauber und artig, die Mehrzahl der Bewohner kann täglich ein Stückchen Fleisch kaufen beim Schlächter an der Ecke, und etwas zu verschneiden, etwas zu schwatzen und zu klatschen oder zu diskurieren hat der Bürgersmann auch, es fehlt nicht an allen Interessen, wenn auch die geistigen nicht mehr so lebhaft sind, wie seit der Franzosenzeit und seitdem Reformationsjubiläum 1817, wo die Kirche und die Prediger und die vernünftige Gottesverehrung reichlich durchgesprochen wurden. Seit jener Zeit sind die kleinen Provinzialstädte etwas in Verlegenheit geraten über höheren Stoff; der steigende Luxus, die steigende Wolle und die Revolutionen, für welche sich diejenigen interessieren, welche viel Schulden haben, reichen doch nicht aus für sechs Wochentage und den langen Sonntag. Darum freue ich mich stets aufs Beste mit ihnen, wenn Pfingsten wiederkommt, Pfingsten mit seinen Festen! Da verschwindet dem Sprottauer die träge Erde mit ihren Besorgnissen, Schulden und langweiligen Stunden, er putzt die lange Donnerbüchse zum Schießen, Königreiche blühen vor ihm auf, er kann wieder kräftig hoffen, die Erfüllung eines Schützenkönigtums mit 50 Thalern, zwei Grasflecken, zwei Gebräuden Bier liegt dicht vor dem Tore, ein tüchtiger Schuss kann sie bringen; die Nankinghosen, die gelben, werden zur Wäsche hervorgesucht, die, langen Stiefeln acht Tage vorher geputzt, es ist eine Hoffnung da, im Tanze sein Glück zu machen; das Jahr hindurch gibt's außer dem Weihnachtsballe nur diese einzige Gelegenheit dazu, der Junggesell wird alt, und das rotbackige Rikchen hat sich noch immer nicht entschlossen — dies Pfingsten wird Alles ins Gleise bringen, vivat Pfingsten!

Um das stattliche Schießhaus, welches unweit jenes Kirchleins steht, waren die großen Buden schon aufgeschlagen, als ich Abends vorüberfuhr, diese stillen bretternen Häuser verschlossen eine reiche bewegte Zukunft, da wird getrunken und geküsst werden und Verhältnisse werden emporwachsen von allerlei Art — objektiv betrachtender, leidenschaftsloser Mond, du hast mich einstens auch in den kindlichen, wohlfeilen Illusionen dieser Buden gesehen, als mir die Kultur der Welt noch sehr gleichgültig war. Die leuchtenden Birkengebüsche zitterten flüsternd und heimlich im leichten Nachtwinde, und es war mir, als vernähm' ich die Worte: Was tut Ihr stolz da draußen in der Welt mit Euren wandelbaren Dingen, der Mensch zum Menschen, das Herz zum Herzen bleibt ewig Mittelpunkt alles Treibens dieser Welt, und es wird geliebt und gehofft und vertraut hier unter diesen Birken so schön, so stark wie anderswo. —

Und schöner: solch eine einsame, von der großen Poststraße abliegende Stadt ist ein Idyll auf der Landkarte, das schöne Mädchen, das mir die Hand reicht, wird von keinen Fremden gesehen, sie hat mich gewählt, nachdem sie alle Herrlichkeit vor sich erblickt hat, die ihr jemals geboten werden kann auf dieser Welt, sie ist mir nun ein Gut, von keiner unerwarteten Macht bedroht, mein ganz und gar; sie quält mich nicht mit Ansprüchen auf Zerstreuung, sie weiß bis auf jede Minute im Jahr, was in den kleinen Verhältnissen gewünscht und erreicht werden mag — es ist ein klassischer Zustand.

Wahrlich, sie saßen in der Vorstadt und in der Stadt noch vor den Türen Abends um neun, wie sie gesessen hatten vor zehn Jahren, in Hemdärmeln mit langen Pfeifen, die Weiber mit Strickstrümpfen, der Mond machte die Gesichter bleich, aber ich erkannte sie alle, etwas ausgehöhlter waren sie, aber unverändert. Man altert langsam in einer kleinen Stadt, man vertrocknet von innen heraus, und das wird spät bemerkt. — Noch wie sonst fragte sich Alles: wer mag in der Kalesche sitzen? noch wie sonst war solche Kalesche ein Ereignis, das die Leute nicht Schlafen gehen ließ, bevor es aufgeklärt war von Haus zu Haus.

— Als man sich bis zum andern Morgen drein gefunden hatte, dass Laubes Heinrich in der Kalesche gekommen, als der erste Anlauf von Begrüßungen der Vettern und Muhmen durchgefochten war, da ging ich unter im Pfingstschießen, die Signale schrieen, die Jungen rannten mit verspäteten Bandelieren und Nankinghosen, die Trommeln wirbelten, die große Armee schien wieder im Anzuge zu sein — die Schützengarde rüstete sich zum Ausmarsch.

Das Modernisieren wird in wenig Jahren all' solche würdige Physiognomien verwischt haben, mit Recht war die alte Garde schon sehr erbittert und drohte mit Emeuten gegen die uniformen gelben Nankinghosen der jungen — es kann ein archäologisches Verdienst begründen, wenn ich diesen Auszug der Kinder und Väter Sprottau's beschreibe. Beiläufig ist es mir auch ein Stolz, meine Vaterstadt zum Mittelpunkte einer ästhetisch-historischen Bestrebung gemacht zu sehen, vielleicht sticken die Enkel einst deshalb meinen Namen auf eine der Fahnen, von welchen ich alsbald reden will.

Der erste Held des Tages ist ein Trompeter, genannt Hôraz, er fängt bereits am frühen Morgen an zu blasen, als stammt' er von Josua, und wollte die Mauern Jerichos niederschmettern. Die Wichtigkeit seines Amtes — dunkelgrün und ockergelb sind die Farben, in denen er auftritt — erlaubt ihm übrigens kein triviales Gespräch, offiziell zürnt sein aufgeblasenes Antlitz, kein Gassenjunge erhält Bescheid, und an diesem Tage erfährt's Niemand, dass er beim Blasen weniger stammelt als beim Sprechen. Von der Würde dieser festlichen Tage lebt Hôraz den übrigen Rest des Jahres: wo er gefoppt wird, wo er anbetet und keine Erhörung findet, da appelliert er an seine gelbwollenen Epaulettes.

Später treten auf die Tambours, die sich zum Ärger ihrer Ehehälften seit mehreren Wochen die stacheligen Bärte haben wachsen lassen; sie tragen, wie Mephistopheles, rote Hahnenfedern auf den Hüten und trommeln ohne Erbarmen. Die Jugend begleitet sie mit patriotischem Gefühle ob des Spektakels, welchen drei Sprottauer machen können, in hellen Haufen.

Die alte und junge Garde versammelt sich einzeln, man wundert sich alle Jahre, dass die Herren Bürger nicht pünktlich kommen, man kann nicht antreten, weil noch die wichtigsten Mitglieder fehlen, man spricht über die Witterung, über Getreide- und Wollpreise, und ob der Herr Hauptmann reiten werde, oder nicht. Das war von jeher der wunde Fleck: durchschnittlich existierte gar kein Reitpferd im Städtchen, und der Herr Hauptmann war aller Frage überhoben, und ging in den blanken Reitstiefeln stolz zu Fuße. Dies ziehen die Meisten vor, es gewährt mehr Sicherheit beim Marschieren; denn im andern Falle, wo ein Gaul zu haben war, traten größere Übelstände ein. Die edle Reitkunst wird aus tausend Gründen in meiner soliden Vaterstadt nicht kultiviert, und die etwaigen Reitpferde bezeigten gewöhnlich eine unangenehme Aversion vor der kriegerischen Janitscharen-Musik, es waren Kinder des Friedens, und sie protestierten öfters energisch gegen den Schlachtenlärm. Diese Protestaionen hatten ihr Unangenehmes: der Herr Hauptmann verschwand oft vor der Fronte, und erschien wieder mitten im dichtesten Haufen der Garde, welche sich bei solcher Gelegenheit gar nicht berufen fühlte, Stand zu halten, und patriotische Äußerungen vernehmen zu lassen. Ja, es hat sich einmal zugetragen, dass der Herr Hauptmann in der Nähe des Schießhauses, als das Heer über die Brücke zog mit lustigem Zinken- und Glockenspiel, ganz allein unten, mit seinem Rosse durch den Fluss geschwommen ist — erstarrt hat der Zug still gehalten, die rasende Musika ist mit Mühe gedämpft worden. Tüchtig wenn auch nass ist der absichtslos kühne Schwimmer, der Herr Hauptmann mit seinem Schimmel, wieder ans Land gekommen, und hat mit einer zweideutigen Bewegung Mut und Vertrauen wieder hergestellt. Des nächsten Jahres hat indessen die Frau Hauptmännin ein besonnenes Veto eingelegt, es ist von mehreren Seiten unverhohlen geäußert worden, dass die würdigsten Leiber der Stadt nicht fürder gefährdet sein dürften, der Schimmel ist nie wieder vor der Front erschienen.

Dieses Jahr fand sich ein besonnener brauner Engländer vor, welcher die stürmische Zeit der Jugend hinter sich hatte, und von dem sich ehrbare, solide Bewegungen erwarten ließen. Er hatte die Proben mit schöner Ruhe bestanden, sogar Hôrazens Trompete hatte ihn nicht alteriert — der Herr Hauptmann erschien zu Ross, die Garde trat an, und setzte sich stattlich in Marsch. Nachzügler stürzten zwar noch aus manchen Häusern, und beflissene Gattinnen eilten hier und da im häuslichen Neglige herbei, um dem Gemahle das Vergessene baumwollene Schneuztuch, die grüne Fourierbinde zuzutragen, oder mit drei hastigen Stichen die lockere Kokarde fest zu nähen an das schlanke, schwarze Schiff, den geschweiften französischen Hut; aber nichts hielt mehr wesentlich den kriegerischen Ungestüm auf, sobald der alte klassische Marsch, das weltbekannte „Radabum“ begonnen hatte.

Um diesen Marsch, der ein Stück deutscher Geschichte geworden ist, völlig zu würdigen, muss ich ein neues Kapitel anfangen

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisenovellen von Heinrich Laube, Teil 6