Abschnitt 1

Englische Fragmente


IX Die Emanzipation


Wenn man mit dem dümmsten Engländer über Politik spricht, so wird er doch immer etwas Vernünftiges zu sagen wissen. Sobald man aber das Gespräch auf Religion lenkt, wird der gescheiteste Engländer nichts als Dummheiten zutage fördern. Daher entsteht wohl jene Verwirrung der Begriffe, jene Mischung von Weisheit und Unsinn, sobald im Parlamente die Emanzipation der Katholiken zur Sprache kommt, eine Streitfrage, worin Politik und Religion kollidieren. Selten in ihren parlamentarischen Verhandlungen ist es den Engländern möglich, ein Prinzip auszusprechen, sie diskutieren nur den Nutzen oder Schaden der Dinge und bringen Fakta, die einen pro, die anderen kontra, zum Vorschein.

Mit Faktis aber kann man zwar streiten, doch nicht siegen, da gibt es nichts als ein materielles Hin- und Herschlagen, und das Schauspiel eines solchen Streites gemahnt uns an wohlbekannte pro-patria-Kämpfe deutscher Studenten, deren Resultat darauf hinausläuft, daß soundso viel Gänge gemacht worden, soundso viel Quarten und Terzen gefallen sind und nichts damit bewiesen worden.

Im Jahr 1827, wie sich von selbst versteht, haben wieder die Emanzipationisten gegen die Oranienmänner in Westminster gefochten, und wie sich von selbst versteht, es ist nichts dabei herausgekommen. Die besten Schläger der Emanzipationisten waren Burdett, Plunkett, Brougham und Canning. Ihre Gegner, Herrn Peel ausgenommen, waren wieder die bekannten oder, besser gesagt, die unbekannten Fuchsjäger.

Von jeher stimmten die geistreichsten Staatsmänner Englands für die bürgerliche Gleichstellung der Katholiken, sowohl aus Gründen des innigsten Rechtsgefühls als auch der politischen Klugheit. Pitt selbst, der Erfinder des stabilen Systems, hielt die Partei der Katholiken. Gleichfalls Burke, der große Renegat der Freiheit, konnte nicht so weit die Stimme seines Herzens unterdrücken, daß er gegen Irland gewirkt hätte. Auch Canning, sogar damals, als er noch ein toryscher Knecht war, konnte nicht ungerührt das Elend Irlands betrachten, und wie teuer ihm dessen Sache war, hat er zu einer Zeit, als man ihn der Lauigkeit bezüchtigte, gar rührend naiv ausgesprochen. Wahrlich, ein großer Mensch kann, um große Zwecke zu erreichen, oft gegen seine Überzeugung handeln und zweideutig oft von einer Partei zur andern übergehen; – man muß alsdann billig bedenken, daß derjenige, der sich auf einer gewissen Höhe behaupten will, ebenso den Umständen nachgeben muß wie der Hahn auf dem Kirchturm, den, obgleich er von Eisen ist, jeder Sturmwind zerbrechen und herabschleudern würde, wenn er trotzig unbeweglich bliebe und nicht die edle Kunst verstände, sich nach jedem Winde zu drehen. Aber nie wird ein großer Mensch so weit die Gefühle seiner Seele verleugnen können, daß er das Unglück seiner Landsleute mit indifferenter Ruhe ansehen und sogar vermehren könnte. Wie wir unsere Mutter lieben, so lieben wir auch den Boden, worauf wir geboren sind, so lieben wir die Blumen, den Duft, die Sprache und die Menschen, die aus diesem Boden hervorgeblüht sind; keine Religion ist so schlecht und keine Politik ist so gut, daß sie im Herzen ihrer Bekenner solche Liebe ersticken könnte; obgleich sie Protestanten und Tories waren, konnten Burke und Canning doch nimmermehr Partei nehmen gegen das arme, grüne Erin: Irländer, die schreckliches Elend und namenlosen Jammer über ihr Vaterland verbreiten, sind Menschen – wie der selige Castlereagh.

Daß die große Masse des englischen Volkes gegen die Katholiken gestimmt ist und täglich das Parlament bestürmt, ihnen nicht mehr Rechte einzuräumen, ist ganz in der Ordnung. Es liegt in der menschlichen Natur eine solche Unterdrückungssucht, und wenn wir auch, was jetzt beständig geschieht, über bürgerliche Ungleichheit klagen, so sind alsdann unsere Augen nach oben gerichtet, wir sehen nur diejenigen, die über uns stehen und deren Vorrechte uns beleidigen; abwärts sehen wir nie bei solchen Klagen, es kommt uns nie in den Sinn, diejenigen, welche durch Gewohnheitsunrecht noch unter uns gestellt sind, zu uns heraufzuziehen, ja uns verdrießt es sogar, wenn diese ebenfalls in die Höhe streben, und wir schlagen ihnen auf die Köpfe. Der Kreole verlangt die Rechte des Europäers, spreizt sich aber gegen den Mulatten und sprüht Zorn, wenn dieser sich ihm gleichstellen will. Ebenso handelt der Mulatte gegen den Mestizen und dieser wieder gegen den Neger. Der Frankfurter Spießbürger ärgert sich über Vorrechte des Adels; aber er ärgert sich noch mehr, wenn man ihm zumutet, seine Juden zu emanzipieren. Ich habe einen Freund in Polen, der für Freiheit und Gleichheit schwärmt, aber bis auf diese Stunde seine Bauern noch nicht aus ihrer Leibeigenschaft entlassen hat.

Was den englischen Klerus betrifft, so bedarf es keiner Erörterung, weshalb von dieser Seite die Katholiken verfolgt werden. Verfolgung der Andersdenkenden ist überall das Monopol der Geistlichkeit, und auch die anglikanische Kirche behauptet streng ihre Rechte. Freilich, die Zehnten sind ihr die Hauptsache, sie würde durch die Emanzipation der Katholiken einen großen Teil ihres Einkommens verlieren, und Aufopferung eigener Interessen ist ein Talent, das den Priestern der Liebe ebensosehr abgeht wie den sündigen Laien. Dazu kommt noch, daß jene glorreiche Re volution, welcher England die meisten seiner jetzigen Freiheiten verdankt, aus religiösem, protestantischem Eifer hervorgegangen, ein Umstand, der den Engländern gleichsam noch besondere Pflichten der Dankbarkeit gegen die herrschende protestantische Kirche auferlegt und sie diese als das Hauptbollwerk ihrer Freiheit betrachten läßt. Manche ängstliche Seelen unter ihnen mögen wirklich den Katholizismus und dessen Wiedereinführung fürchten und an die Scheiterhaufen von Smithfield denken – und ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Auch gibt es ängstliche Parlamentsglieder, die ein neues Pulverkomplott befürchten – diejenigen fürchten das Pulver am meisten, die es nicht erfunden haben –, und da wird es ihnen oft, als fühlten sie, wie die grünen Bänke, worauf sie in der St.-Stephans-Kapelle sitzen, allmählich warm und wärmer werden, und wenn irgendein Redner, wie oft geschieht, den Namen Guy Fawkes erwähnt, rufen sie ängstlich: „Hear him! hear him!“ Was endlich den Rektor von Göttingen betrifft, der in London eine Anstellung als König von England hat, so kennt jeder seine Mäßigkeitspolitik: er erklärt sich für keine der beiden Parteien, er sieht gern, daß sie sich bei ihren Kämpfen wechselseitig schwächen, er lächelt nach herkömmlicher Weise, wenn sie friedlich bei ihm couren, er weiß alles und tut nichts und verläßt sich im schlimmsten Fall auf seinen Oberschnurren Welling ton.

Man verzeihe mir, daß ich in flipprigem Tone eine Streitfrage behandle, von deren Lösung das Wohl Englands und daher vielleicht mittelbar das Wohl der Welt abhängt. Aber eben, je wichtiger ein Gegenstand ist, desto lustiger muß man ihn behandeln; das blutige Gemetzel der Schlachten, das schaurige Sichelwetzen des Todes wäre nicht zu ertragen, erklänge nicht dabei die betäubende türkische Musik mit ihren freudigen Pauken und Trompeten. Das wissen die Engländer, und daher bietet ihr Parlament auch ein heiteres Schauspiel des unbefangensten Witzes und der witzigsten Unbefangenheit; bei den ernsthaftesten Debatten, wo das Leben von Tausenden und das Heil ganzer Länder auf dem Spiel steht, kommt doch keiner von ihnen auf den Einfall, ein deutsch-steifes Landständegesicht zu schneiden oder französisch-pathetisch zu deklamieren, und wie ihr Leib, so gebärdet sich alsdann auch ihr Geist ganz zwanglos, Scherz, Selbstpersiflage, Sarkasmen, Gemüt und Weisheit, Malice und Güte, Logik und Verse sprudeln hervor im blühendsten Farbenspiel, so daß die Annalen des Parlaments uns noch nach Jahren die geistreichste Unterhaltung gewähren. Wie sehr kontrastieren dagegen die öden, ausgestopften, löschpapiernen Reden unserer süddeutschen Kammern, deren Langweiligkeit auch der geduldigste Zeitungsleser nicht zu überwin den vermag, ja deren Duft schon einen lebendigen Leser verscheuchen kann, so daß wir glauben müssen, jene Langweiligkeit sei geheime Absicht, um das große Publikum von der Lektüre jener Verhandlungen abzuschrecken und sie dadurch trotz ihrer Öffentlichkeit dennoch im Grunde ganz geheimzuhalten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisebilder Vierter Teil