Fortsetzung - Es geht wieder ein Singen durch das Haus

Es geht wieder ein Singen durch das Haus. Wie an lauen Sommerabenden, wenn die Fenster zum Hofe offen stehen und wir aus irgendeinem der Fenster die langsam singende Stimme eines Mädchens hören, das sich ihre gewöhnliche Hausarbeit leicht und lustig zu machen sucht, so ist dies neue Gefühl über uns gekommen, ein schlichtes, volksmäßiges Gefühl, das mit all dem Zurschaustellen und dem kalten Paradeschein früherer Requisiten nichts mehr zu tun hat. Wie der einfachste Mann, lieben wir wieder jedes Bildchen und Väschen, das wir besitzen, weil es ein Stück von uns wurde. Nicht mehr in der Sache, sondern im Verhältnis zu ihr liegt nun der Wert, die Sache kann die wohlfeilste sein, es ändert nichts, das Verhältnis ist ja noch wohlfeiler. Wir singen das Lied von der neuen Wahrheit, die wir gefunden haben, von der Unwiderleglichkeit unserer Empfindung und dem Reichtum unserer Phantasie.

Es ist ein großer Chor von Menschen, die dies heute singen. Philosophen, die sich vom Truge des Objekts befreiten, Dichter, die die Propheten subjektiver Urteile wurden, Theologen, die aus Lebenserstarkung am Dogma zweifelten, Künstler, die die Banalität des Naturalismus früh genug erkannten, Historiker, die die Historie mit einem einzigen Strahl ihrer inneren Erlebnisse beschämten. Es ist eine Phalanx von Empfindern, nicht von schwächlichen Nervösen oder hysterischen Perversen, sondern von Männern, die uns Verlorenes wiedergeben wollen, die uns vor der Nüchternheit des kalten Denkens und leblosen Begreifens retten wollen, indem sie den Weg wieder von innen beginnen lassen. Wo steht geschrieben, dass er von außen beginnen muss, dass wir uns Fabrikschränke, Industrieornamente, Spiegelsofas um den Horizont unserer Subjektivität zu stellen haben? Nein, geschrieben steht, dass wir mit dem Kleinsten glücklich werden, wenn wir es mit Leben düngten, und dass sich Leben lohnt, wenn wir seine Melodie auf dem Rhythmus unserer Empfindung singen. Die Zeit der Philologen und der Naturwissenschaftler deckte sich. Als sie herrschten, galt das empfindungsloseste Begreifen, Rechnen, Aufreihen für den Triumph menschlichen Geistes. Welchen Lebenswert hat es, den Pausanias herauszugeben, zu Horaz Anmerkungen zu machen oder Geschichtstabellen auswendig zu lernen? Ich meine es wirklich: welchen Lebenswert hat es? Wenn der Pausanias unkollationiert bleibt, verliert kein Hund etwas auf dieser Welt. Ein Dichter, der aus einer falschen Stelle des Pausanias eine schöne Phantasie über die Geburt der Tragödie entwickelte, wäre zehnmal mehr wert, als seine sämtlichen Richtigsteller. Welchen Wert hat es, zu wissen, wann irgend ein salischer Kaiser gekrönt wurde? Wozu belasten wir unsern Kopf mit solchen Dingen? Es ist ein Belasten, weil es sich nicht umsetzt, wie etwa die Mathematik, die dem Einfältigen ein guter logischer Zwang, dem Phantasievollen ein Märchenland ist. Wir hassen die Philologen, weil sie uns den Brunnen der Schule vergiftet haben. Senkzweige uralter Kompiletik des 17. Jahrhunderts haben sie unter dem Namen Humanismus zum Baum der Erkenntnis auftreiben wollen. Sie haben vertrocknen und vermodern lassen, was jetzt eine Klasse liebenswerter Menschen in langsamer Arbeit wieder gut machen soll. Wir haben an den Absolutismus der Antike geglaubt, als wir die Schule verließen, sind aus diesem Irrtum Archäologen geworden, sind als Archäologen gereist, bis das Reisen uns wieder gesund machte, haben die Antike verloren und auf dem Umwege von Jahrhunderten wiedergewonnen, ein Werfen, das nicht jede Natur verträgt. Wir haben die sündige zersetzende analytische Kraft der philologischen Kritik anzubeten geglaubt, man hat uns eingeredet, lateinische Dissertationen zu machen, weil die lateinische Sprache logischer sei als die unserer Eltern, wir reckten uns auf vor den Resultaten der Naturwissenschaft, die heute so, morgen so, Pflanzen und Menschen katalogisiert und deduziert und Kategorien der Anschauung für Lösung von „Welträtseln“ ausgibt. Was half es uns? Wir mussten wieder durch Begeisterung und Empfindungsfähigkeit hindurch, um rückblickend den Wert der Kritik zu begreifen, ihr Kunstwerk zu sehen, den Sport Rousseauschen beschaulichen Botanisierens zu verstehen, Tatsachenfreude als Flucht zu erkennen. Alles, was uns ward, ward uns durch die Empfindung. Der Empfindung, als wir die Akropolis betraten, als wir Ruskin lasen, als wir den Champ de Mars zum ersten mal besuchten, als wir die Luft der Freien Bühne atmeten, ihr danken wir unser Bestes, sie machte unsere Lebensabschnitte. Was ist dieser ganze, grässliche „Kampf ums Dasein“, den uns die Naturwissenschaft vorführt, gegen eine einzige süße Stunde, da wir irgendeine Kleinigkeit dieser Welt, den Blick eines Kindes, die Dämmerung eines einsamen Abends, den Klang einer tiefkolorierten Altstimme, wirklich einmal unbescholten gern hatten und das Blut rollen fühlten? Es gibt ein Gewissen des Bluts, das uns genau die Augenblicke bezeichnet, in denen wir Menschen sind.


Die Krankheit, von der uns die wachsende, ästhetische Kultur heilen soll, heißt das Wissen, das trockene, mechanische, leblose, sezierende, sondierende, tatsächliche Wissen. Das Wissen hat uns auf dem Wege der Philologie hundert Brunnen vergiftet, den der Natur, wie der alten Dichter, wie der Sprache, wie der Geschichte, ja beinahe den der Zukunft. Wie konnten wir Geschichte und Natur lieben, wenn wir nicht erzogen worden wären, sie gar nicht oder ganz erschrecklich objektiv aufzunehmen! Erinnert man sich der trüben Gasflammen, unter denen Cäsar und Hannibal mumifiziert und die Naturgeschichte verschlafen wurde, und wie dann plötzlich durch ein inneres Erleuchten der Mensch in Hannibal, das Drama in Cäsar, der Triumph in der Renaissance, die Seele in der Romantik von uns entdeckt wurde? Von einem unfruchtbaren Feld waren wir auf einmal in ein fruchtbares gekommen mit wirklich unbegrenztem Horizonte. Das tote Wissen gilt uns nun nichts mehr, nur die Liebe gilt, mit der wir das Objekt umfassen, das Wissen wurde mehr als gleichgültig, es wurde der Feind.

Ich denke mir manchmal mit einer geradezu Ellen Keyschen Zukunftsfreudigkeit, wie viel glücklicher unsere Jugend gewesen wäre, wenn wir durch Bilden, statt durch Bücher zu den Römern geführt worden wären, wenn wir gesungen, spazieren gegangen, gesehen und gelebt hätten, statt Tabellen zu trichtern. Ist es denn so ketzerisch, sich zu denken, dass die Kunst wirklich als Erziehungsmittel die Grammatik und Geschichte ersetzen könnte, in ganz großem Stile, so wie die Religion, ursprünglich ein Idealismus erster Geister, dann zu einer Erziehungsform umgewandelt, popularisiert wurde? Was würde es uns schaden mit Plutarch die großen Männer lieben zu lernen, statt Cicero's Tusculanen zu lesen? Wir würden frisch und phantasievoll in der Liebe werden, wie es Pietro Bembo ist am schönen Schlüsse des Castiglioneschen Cortegiano und wie es die Akademiker von Florenz waren. Sie wussten weniger von der Antike, als dass sie sie liebten, und schufen aus einem Missverständnis die große moderne Oper. Sie dachten, die Antike wäre farblos, und sie schufen aus missverständlicher Liebe die große, moderne, weiße Plastik. Was gilt dies Missverständnis? Sie schufen!

Nur verwechseln wir das Mittel nicht mit dem Zwecke. Der Gedanke wäre entsetzlich, die Menschen zur Kunst erziehen zu wollen, statt mit der Kunst. Dieser Fehler wird gemacht, man glaubt ihm zuerst, dann widerlegt man ihn und so streitet man sich um eine Illusion. Wer wird zur Kunst erziehen wollen? Soll es noch mehr Wunderkinder, unglückliche Dilettanten und verschrobene Tischlergesellen geben, die aus Bastelsucht ihr Leben mit einer undisziplinierten Kunst zubringen? Sollen Kinder Erwachsene werden? Nein, Erwachsene sollen Kinder werden, naiver in ihrer Genussfähigkeit und gläubiger in ihrer Phantasie.

Man mache sich klar, was dieses Wort „Kunst" eigentlich für ein Wechselbalg ist. Es bezeichnete zunächst nichts als das Machenkönnen. Die Alten haben’s nie anders verstanden, die Künstler blieben ihnen Pinseler und Steinmetzen und nur in der Wirkung sahen sie das Göttliche. Erst die spätesten Philosophen achteten darauf, dass das Göttliche schon innen ruhen muss, wenn es außen wirkt. Langsam rückt nun der Begriff „Kunst" vom Technischen ins Geistige. Da das Machenkönnen von Kunstwerken durch eine starke Intuition gefördert, meist sogar erst in Szene gesetzt wird, so gewöhnt man sich daran, schon in der Empfindung etwas Künstlerisches zu sehen, womit gleichzeitig die Kunst selbst immer psychologischer wird. Die bloße Handwerklichkeit bleibt als Routine und weniger geschätzt beiseite. Das, was ursprünglich allein beachtet wurde, die technische Fähigkeit, das existierende Werk ist nun nur noch ein Mittel, um beim Autor Kunst zu finden, beim Empfänger Kunst zu erregen, um Zeuge und Anreger von Genuss zu sein.

Wir können heut das Wort Kunst streichen, wenn wir es nicht einfach mit Genuss gleichsetzen wollen. Es geht nicht mehr anders. In dem ersten Gernhaben irgendeines Vorgangs oder einer Erscheinung liegt bereits der Keim zur Kunst. In der Lustempfindung, mit der wir Zupassendes lieben, in dem Unlustgefühl, mit dem wir Nichtgenehmes abstoßen, liegt die Form unseres künstlerischen Temperaments. Darüber hinaus gibt es keine Entscheidung. Von da an aber einen Riesenweg von Genüssen, Produktionen, Reproduktionen, der durch das ganze Reich der ästhetischen Kultur geht, mit sichtbarer oder unsichtbarer Kunst, mit empfundener oder nachempfundener Schönheit, mit nur gefühltem oder in Wirklichkeit umgesetztem Inhalt — eine Welt von gepflegten Lustgefühlen, in der das reale Kunstwerk nur ein Leitungsdraht scheint.

Ich gehe in die Landschaft und empfinde die Farbe der braunen Stämme in der blauen Märzluft als Reiz. Es kann mir genügen, diesen Reiz in mir zu fühlen, aber er kann auch so stark werden, dass ich ihn umsetzen muss in etwas Wirklich-Bestehendes, wie die Natur Sichtbares, und ich male violette Stämme. Je schärfer ich sie innen sehe, desto überzeugender werde ich sie außen hinsetzen. Ich gehe den nächsten Tag wieder hinaus, finde einen neuen Reiz, steigere wieder diese Empfindung bis zur Schaffenslust, male eine zweite Landschaft. Eine dritte, zehnte, hundertste, durch Jahre hindurch, von Monat zu Monat freier, das ist innerlich bestimmter. Nun tritt eine neue Epoche ein. Wie das viele Empfinden zur Produktion führte, so führt das viele Produzieren zum Wirkenwollen. Wie das starke Empfinden starke Bilder schuf, schafft das starke Scharfen den Wunsch nach Individualitätssieg, nach Überredung, nach Resonanz. Ich finde endlich die Resonanz und meine Werke fließen in die Allgemeinheit ein. Ein Dichter sieht sie und reproduziert sie bewusst, unbewusst in seinen Werken, die wieder die Vorwerke anderer sind. Ein Maler sieht sie und nimmt die angesammelte Kultur ihrer Schönheit so bewusst oder unbewusst in seine Werke auf, wie ich es wohl einst tat, als ich in meinem ersten Bild alle, die ich bisher gesehen, mitsprechen lassen musste. Ein Spaziergänger sieht sie, er nimmt ihren schärferen Ausdruck in seine schwächere Persönlichkeit auf, seine Augen richten sich danach, er sieht jetzt die blauen und roten Farben der Stämme, er kombiniert diese Reize mit Millionen anderen, die er auf dieselbe Art von allen bisher genossenen Kunstwerken empfand, eine Nebensache kann bei ihm die stärksten schlummernden Gefühle wecken, ja ein falscher Schluss ihn glücklich machen, aber er bleibt bei dieser — noch so verfeinerten Empfindung stehen, er muss nicht produzieren, er muss nicht wirken.

Die Kette vom Genuss zu Genuss habe ich leicht hingelegt, denn wenn wir abstrahieren, glätten wir die Dinge und projizieren ihre Unebenheiten in eine schöne Fläche. Die Wahrheit ist nicht so kosend. In Wahrheit ist diese Kette vom Genuss über das Scharren zum Wirken schlitternd von Erregung, rot von Blut. Die Reize spitzen die Nerven, das Schaffen zerstört das Gleichgewicht, das Wirken beschämt tausend Hoffnungen. Missverständnisse bringen Erfolge, edle Säfte fließen in Abgründe, der Neid verschiebt Persönlichkeiten und niemand kann einen Schritt zurück. Unter schweren Geißelhieben wird diese Arbeit verrichtet und der Glaube wird verlacht, wenn er ausgenutzt ist, der Rausch verflucht, wenn er der Ironie des Schicksals gedient hat. Die Ungläubigen stecken ihren Witz auf, aus der Lust, Geschaffenes zu sehn, reizen sie sich; aus der Lust, Wirkung zu üben, buhlen sie um Wirksamkeit im Schaffen. Auf einige Jahre scheinen diese Alberiche voraus zu sein, da keuchen schon hinter ihnen Rächerstimmen und sterbend sinkt ein Edler am Ziel hin. Aber wir fliegen auf, die Stimmen verhallen, die Bewegung scheint ruhiger, scheint bewusster zu werden — von oben sehen wir nicht das Los des einzelnen, wir sehen nur die Richtung dieser gewaltigen, zwingenden, unhaltbaren Kraft, der Erhöhung des Genusses. Die Menschen arbeiten in jener Kette von Leiden an der Erhöhung des Genusses, von Jahr zu Jahr vielfältiger, wechselseitiger, verschlungener, ein Schauspiel, selbst um so grandioser, um je grandiosere Güter in ihm gestritten wird.

Ein neues Reich tut sich auf. Was einst die Religion besorgte, soll nun wirklich die Kunst vermitteln, die Auseinandersetzung des einzelnen mit dem Gesetz. Die Religion gab den einzelnen auf, die Kunst gibt ihm im Gegenteil das Bestimmungsrecht. Um ihm das Bestimmungsrecht zu geben, musste vorher die Welt objektiviert werden. Der Weg ging von der Religion über das Wissen zur Kunst. Wer ging diesen Weg unter uns und wer wurde darum ein innerer Führer? Nietzsche ging von der Religion über das Wissen zur Kunst und darum wird sein Name in aller Munde geführt. Sein Leben ist ein Abbild der Gegenwart und der Zukunft. Pastoren, Philologen und Propheten ästhetischer Empfindung wechseln sich auf der Bühne seiner Seele ab. Wir gehen hinein in das Reich subjektiver Rausch-Ästhetik, der wahren Ästhetik, wie sie Nietzsche fühlte, wir werden zusehends dionysischer, wobei Dionysos immer noch ein Gott und immer noch ein Stück Altertumskunde bleibt, nur von uns aus gesehen. Nicht Nietzsches Inhalt wird bleiben, sondern seine Form. Sein Recht auf den feinsten und baumeisterlichsten Menschen. Seine Umwertung des Objektes ins Subjekt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise um die Kunst - Ästhetische Kultur