Fortsetzung - Das Kunstwerk hat seine Mission gefunden

Das Kunstwerk hat seine Mission gefunden. Es löst die schlummernde Genussfähigkeit, die unentwickelte Empfindung und gibt eine Möglichkeit, durch einen neuen Glauben über die Widersprüche hinwegzukommen, indem wir nicht mehr uns in die Welt, sondern die Welt in uns eingehen lassen. Das Kunstwerk, in der edelsten Stunde eines schöpferischen Menschen geboren, scheint eine zweite Bestimmung zu erhalten, Gesetze der Schönheit zu verbreiten, Feinheiten der Stimmung zu verallgemeinern. Neben der ersten Natur wird es eine zweite Natur, mit Menschenblut gedüngt, und darum unmittelbarer. Alle großen Taten, alle inneren Befreiungen, alle tiefe Religiositäten wirken in ihm mit und predigen durch seinen Mund und, wenn nur eine Silbe von Idealität ins allgemeine Bewusstsein fließt, so ist schon ein Engel wieder gewonnen. "Wenn die sanfte Schönheit eines gedämpften Streicherchors durch den vollen Saal tönt, in tiefer Ruhe, minutenlang gleichmäßig und süß verschwebend, so lösen sich zwei oder drei Herzen im Traume einer unnennbaren Glückseligkeit und sie bleiben auserwählt. Was klingt aus dieser Musik, aus diesem Drama, diesen Landschaften? Der alte und unzerstörbare Wunsch zur Idealität, über alles Handeln, alles Begreifen hinweg zu jener in sich gebetteten Empfindung von Rhythmus und höherer Reinheit zu gelangen, die uns heimzuführen scheint. Vielleicht bleibt uns ein Schimmer von ästhetischer Gesinnung zurück und hilft uns Dunkelheiten zu beleuchten, vielleicht lernen wir, das Leben in seinen Mischungen etwas mehr als ein Schauspiel, von uns selbst gedichtet, zu sehen und das Glück wie das Unglück als unser Werk zu nehmen, vielleicht werden wir ein klein wenig mehr Künstler und balanzieren sicherer, weil wir den Schwerpunkt in uns fühlen. Wir müssen trachten, der Kunst die Schönheit des Lebens zu verdanken.

Gefahren sind hier dieselben wie im Schaffen der produktiven Künstler. Ich nannte die Verschiebungen der Mittel und Zwecke: den Künstler, der sich reizt, um zu scharfen, statt dass er schafft, weil er den Reiz fühlt, und den, der schafft, um zu wirken, statt dass er wirkt, weil er des Schaffens voll ist. Die dritte Verschiebung liegt auf der Seite des Genießenden: es sind die schiefen Veranlagungen, die sich ästhetisch gereizt stellen und die Kunst dieser Lüge wegen aufsuchen, statt dass die Kunst von selbst und ohne Heuchelei den Empfinder in ihnen weckt. Es sind die Asthetizisten, die Schöngeister, die überall auftauchen, wo ästhetische Kultur herrscht, wo romantische Feinfühligkeit sich verbreitet und künstlerische Religion gepredigt wird. Die Kunst nimmt an ihnen eine furchtbare Rache. Denn weil sie schon ohne Gleichgewicht ihren Schöpfungen gegenüberstehen, verlieren sie dieses ganz, wenn sich der Lebenswert ihrer ästhetischen Schule zeigen soll. Hier gelangt man nur weiter mit der peinlichsten inneren Ehrlichkeit. Ja sogar, wenn ich sagen soll, aus welchen Dramen, Symphonien, Bildern ich am sichersten etwas für die Ruhe des Lebens mitnahm, so waren es, selbst in der Wiederholung, meist solche, bei denen ich es nicht erwartet hatte, also auch nicht bestellen konnte.


Ich muss an dieser Stelle über den Begriff Alexandrinismus reden. Es ist eines der missverständlichsten Worte, die es gibt. Schon um das arme Alexandria tut es mir leid. Der Hellenismus war eine so gewaltige Kulturmission, eine durchaus eigene Form des Geistes und der Ökonomie, die die Despotie des alten Asien mit dem Inhalt Europas erfüllte, worauf das Imperium, das Christentum, der Sozialismus basierte — etwas Spätgeborenes, Dekadentes ist das wahrlich nicht. Ihre gelehrten Dichter und dichtenden Gelehrten waren eine sehr fruchtbare Menschenklasse, Epigonen ja, aber nicht Dekadenten. Es gibt keine andere Dekadenz, als jenes Missverhältnis von Mittel und Zweck, das wir immer wieder brandmarken. Mittel nehmen für Zweck ist die einzige Sünde. Jede Wirkung rächt sich, die nicht ihren zureichenden Grund hat. Dies ist Verfall, dies Krankheit; die Heuchelei ist tödlich. Aber was ist sonst Alexandrinismus? Sind wir Alexandriner, wenn wir eine ästhetische Kultur predigen? Nicht einmal Epigonen sind wir. Jede neue Phase wird der vorhergehenden Generation gefährlich, geklügelt, geheuchelt erscheinen. Aber die vorhergehende Generation hat nie Recht. Wo ist ein Ende, wo eine Grenze? Meine ackerbautreibenden Vorfahren hätten mich sicher für einen Dekadenten erklärt, dass ich in einer Millionenstadt an einem Novemberabend über den Wert höherer Empfindungsfähigkeit schreibe. Ich bin nur in sehr trüben Stunden ihrer Meinung. Und wenn man will, kann man so trivial sein, die stolzeste Eigenschaft des Menschen, das Selbstbewusstsein, als Dekadenz gegen das Tier zu beweisen, kann man jeden Schritt weiter, jede Verfeinerung und Vergeistigung als Alexandrinismus höhnen. Was sich lebensfähig erweist, ist nie Dekadenz. Man hat Mozart, Wagner, Strauß jedes mal mit denselben Worten vorgeworfen, dass sie zu viel Noten machen. Heut klingt mir Wagner oft schon mozartsch. Was ist das alles für Spielerei? Seht, wo Funken sprühen und der Geist sich regt, das ist Kultur; und wo Grimassen sind, das ist Dekadenz. Es ist unheimlich, wie viel Geist wir schadlos uns inkorporieren können. Was wird, liegt ja in unserer Hand. Es ist nicht wahr, dass nur im Handeln und Denken die Gesundheit ist, ohne Empfindung wären dieses zwei Leichname. Die Empfindung, das brüderliche Gefühl zur Welt, der Genuss am Wahrnehmen und Schaffen ist die Gesundheit, ist die Seele, das andere sind nur zwei Arme. Die gesteigerte Kunst wird den Genuss steigern, die Empfindung erhöhen, die Urkraft heraufbringen, und lebensfähiger machen, so wahr, als Genuss nicht Genüsslichkeit ist.

Wenn wir das Kunstwerk zu einem Erziehungsmittel machen, wenn wir die energetische Kraft des Genusses betonen, so tun wir ja nichts anderes, als das Seil weiterspinnen, das die Vorfahren unserer Kultur in unsere Hand legten. Einst haben sich die Menschen tausend Jahre ohne merkliche Kunstkultur begnügen können, sie sahen ornamental und nicht inhaltlich, weder die Musik noch Dichtung noch Malerei bringt tausend Jahre lang etwas inhaltlich Neues. Es ging auch so, ihr Idealitätsbedürfnis war ganz vom Religiösen erfüllt, darin waren sie glücklich. Man wurde aber weltlicher und brauchte eine neue Quelle des Idealismus. Jetzt gibt es auf einmal etwas, was ein Jahrtausend lang nicht existiert hatte: Kunstgeschichte. Aber wie man Jahrhunderte nötig hatte, eine religiöse Lehre zu bilden, so wird auch die Kunst an einer Krippe geboren, unbeachtet, eine Privatangelegenheit, Bestellung und Stiftung, und ganz langsam erst wird sie öffentliche Angelegenheit. Heut steht in der kleinen Kapelle des Palazzo Riccardi zu Florenz, wo Gozzoli seine holdseligen Dreikönigswunder malte, ein Beamter der italienischen Regierung mit einer großen elektrischen Blendlaterne, weil es so finster ist, dass man das nur künstlich sehen kann, was uns mehr entzückt, als alle robusten Dekorationen der Farnesina und Borgiagemächer. Aus finsteren Winkeln holen wir uns die ersten Ahnungen jenes heiligen Wahns, den wir heut Kunst nennen. Die Medici schrieben ihre Ordres aus, sie schätzten und diskutierten Kunst, aber Eitelkeit war das Motiv. Was von wahrer Kunst dabei unterlief, war gern geduldet, doch hieß es in der Hauptsache, Wände bemalen, Porträts anbringen, Pracht des Besitzes zeigen. Wir wandeln heut wie die drei Könige zum Stern im Quattrocento, in der Krippe finden wir das Knäblein der Kunst. Porträtbüsten, Friese, Statuetten, strenge Profile der fürstlichen Damen, Botticellische Frühlingskinder, Lippische Madonnen, Castagnosche Apostel und die weichen Reliefmedaillons des Rossellino — mit der Blendlaterne gehen wir umher und suchen sie. Was einst Schmuck und Auftrag war, oft an verborgenen, unansehnlichen Plätzen aufbewahrt, ward uns nun inneres Dasein, Lebenswert, Lebenserhöhung. Was die Medici und die Würdenträger bestellten, ist ein Stück unseres Heils geworden. Es gehört uns, gehört uns mehr, als all der geistig hohe, künstlerisch kühle Inhalt sämtlicher Stanzen Raffaels. Wir sind bescheiden geworden, als wir zum Kindlein traten. Im Drange, die Kunst zu sozialisieren, entfernten wir die Aristokratie des Cinquecento von uns, wir lernten die Niederlande lieben, wo unsere Liebhabereien geboren wurden, wo langsam in der Bürgerlichkeit, der Industrie, den Ausstellungen Beziehungen geknüpft werden zwischen Kunst und Leben, bis wir endlich uns reif fühlten, unsere Kunst und unser Leben ganz innig miteinander zu verschmelzen. Einst glaubte das Publikum an die Kunst, wie es an Gott glaubte, es nahm sie hin. Wir sind erwachsener geworden. Wir stellen uns zu ihr und fragen sie, ob sie Freund oder Feind sein will, dann machen wir Blutsbrüderschaft. Tot ist das Gemälde alter und neuer Zeit, das nicht in uns selbst auferstand; tot ist jeder Ton und jedes Wort, das nicht ein Zeuge von Empfindung ist. Dies ist der große Wechsel, dies die wunderbarste Vervollkommnung. Nun ist die Kunst, die als ein unschuldiges Kind in die gotische Welt eintrat, reif zur Mission. Der Leidensweg liegt hinter ihr.

Ja, ihre Leiden werden geringer werden. Wird das Kunstwerk, einst der Besitz weniger, heut ein öffentliches Kulturmittel, so mag zunächst die Kunst selbst, diejenige hohe Kunst, zu der niemand erzogen werden kann, feiner und immer geistiger werden. Es ist die natürliche Reaktion auf die Popularisierung. Aber dort, wo dann diese feine Werkstatt der noch unzerkleinerten, noch in keinen Kurs gesetzten Kunst ist, dort, wo dann die edelsten Schöpfer in der Keuschheit ihrer Persönlichkeit beharren, dort braucht keine Angst mehr zu sein um endgültige Vereinsamung, um Not und Untergang, nur um das Buhlen der Menge. Schubert's und Kleist's und Keller's Schicksal ist heut schon ausgeschlossen. Es bedarf nur kleiner Geduld, und es macht heut Jeder von sich reden, nur durch seine Kunst, auch ohne die geringste äußere Nachhilfe. Ja, zweifellos sucht man schon mehr Kunst, als man findet. Und fast noch zu Lebzeiten wird nach Gutem und Schlechtem die letzte Rechnung der Gerechtigkeit über dem Künstler vollzogen. Die Kunst wird stürmisch vom Leben begehrt. Noch überwiegen die Vorteile ihrer Öffentlichkeit die Schäden. Was sie an dauernder Isoliertheit verlor, gewann sie an Kulturkraft. Und, was sie an Lebenserhöhung dem Genießenden vermitteln will, davon strahlt nun auch, so gut es in dieser Welt geht, etwas mehr Heiterkeit auf die einsamen Stunden ihres Schaffens zurück. Wünschen wir: nicht zu viel, damit sie in Schmerzen gebäre.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise um die Kunst - Ästhetische Kultur
Schubert, Franz (1797-1828) österreichischer Komponist

Schubert, Franz (1797-1828) österreichischer Komponist

Kleist, Franz Alexander von (1769-1797) deutscher Dichter

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