Reise um die Kunst - Ästhetische Kultur

Autor: Bie, Oskar (1864-1938) Musikkritiker, Musikschriftsteller, Redakteur, Kunsthistoriker, Archäologe, Publizist, Erscheinungsjahr: 1910

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kunst, Kultur,Tempel der Ideale, Insel, Hain, Feuerbach, Peterskirche, Eremit, Denker, Philosophen, Tagwerk, Kunstgenuss, Kunstschöpfung, Kunsterweiterung, Kunstpropaganda, Traum, Heimat, Volkstheater, Menschenalter, Menschenklassen, Kunstwerk, Ausstellungen, Vorlesungen, Fortschritt, Parlament, Förderung
Der Tempel unserer Ideale liegt auf keiner wüsten Insel, sondern in einem Haine, der gleich den uralten Gärten der Päpste auf dem Vatikan vorn mit einigen zierlichen Blumenparterres und regelmäßigen Stiegen und Terrassen beginnt, um sich allmählich weiter hinten in einen Promenadenwald zu verwandeln mit geschlungenen Wegen, undurchsichtigem Dickicht und verborgen rauschenden Quellen. In ihm wandeln die Beschaulichen in feierlichen Gruppen, wie sie Feuerbach sah, oder im rhythmischen Gang platonischer Erhabenheit. Die Beschaulichen haben das Gebäude ganz oder zeitweise verlassen, gleichviel ob sie jung oder alt sind, sie wollen nur betrachten, lächeln, wissen, sogar ohne nach Eremitenart ihre Weisheit praktisch zu machen. Sie gehen in leichtem Gespräch den weiten langen Gang bis an das Ende des Hügels, wo ein freier Ausblick ist, die Weinberge vor den Augen liegen, die Peterskirche zurückbleibt und von der Stadt nichts mehr zu fühlen ist. Ihr Schritt ist nie geschäftig, selbst wenn sie sich einmal das Vergnügen gönnen, zur Tür des Hauses hereinzublicken.

Im Hause selbst sieht es wie im Parlament aus, sehr amphitheatralisch geordnet, und die Parteien sind unsere Temperamente. Wir sitzen in einem großen Kreis, die Organisatoren, die Denker, die Empfinder mischen sich nach ihrer Stufenordnung. Sie alle prophezeien aus ihrer Natur heraus und haben darum alle Recht, weil es nichts Rechteres gibt, als seine Natur zu entwickeln, diesen schimmernden Schatz ungeordneter Reichtümer. Aber es kommen Zeiten, da die eine Gruppe die Vorhand hat, die andere zurückbleibt, und es ist ein stetes, schönes und unterhaltendes Schwanken zwischen unsern Kräften, den drei großen inneren Sinnen, die uns gegeben sind, dem logischen Sinn, etwas begreifen zu können, dem praktischen Sinn, etwas formen zu können, und dem ästhetischen Sinn, etwas gern haben zu können. Heut liegt das Auge des Schicksals auf diesen Gernhabern, den starken Empfindern und den Handlern, den Organisatoren. Zwischen ihnen wird die Zukunft verhandelt, die bloßen Begreifer beginnen zu schweigen.

Philosophie ist Beruhigung über die großen Zusammenhänge. Wir Empfinder, die wir unser Tagewerk von Kunstgenuss, Kunstschöpfung, Kunsterweiterung, Kunstpropaganda selbst im Traume noch fortsetzen, müssen einmal vor die Frage kommen: was ist diese ästhetische Kultur, die unser

Boden und unsere Heimat ist, die heute in aller Munde lebt und Millionen Hände und Köpfe beschäftigt, was ist sie uns wert, und wenn unser Leben eine Steigerung des Menschen ist, was steigert sie? Sind alle die Popularisierungen der Kunst ein Wahn, vielleicht nur ein vorübergehender Rausch, oder sind sie ein dauernder Besitz? Erziehung zur Kunst ist ein Schlagwort geworden. Man hat die kunstlosen Klassen geradezu in Kunst gezüchtet, hat die Arbeiter durch Volkstheater und vorstädtische Ausstellungen und populäre Vorlesungen mit diesem Präparat reichlich geimpft, man hat nicht einmal die Kinder in Ruhe gelassen, hat ihre alten geliebten Bilderbücher durch Kunstwerke ersetzt, hat ihre ersten Dilettantismen zu einer Offenbarung gestempelt, hat ihren Unterricht von aller Unanschaulichkeit zu befreien versucht, hat sogar Kinderkonzerte geschaffen. Und viele erste Kräfte haben sich an diesem Werk beteiligt, und die zweiten haben sich selbst wieder ästhetisch erzogen, indem von der Nahrung, die sie den Damen, den Arbeitern, den Kindern vorsetzten, reichlich für sie selbst abfiel. Es gibt nun niemanden mehr, den wir nicht zur Kunst erzogen hätten. Alle Menschenklassen und Menschenalter sind durchgenommen. Was heut im Künstlerkopf entspringt, ist morgen Mode. Was Mode ist, wird wohlfeil. Das junge Ehepaar kann sich heut für die Hälfte des Preises künstlerisch einrichten, den es vor zwanzig Jahren für Muschelnussbaum ausgab. Der Beamte kann sich Gravüren der Reichsdruckerei in grünen Rahmen an die Wände hängen und für ein Geringes sich gut gebundene Bücher sammeln. Die Bürgerstochter kann in Vorlesungen, Atelierbesuchen, Skioptikonproduktionen, populären Kammermusiken ihre Zeit wunderbar ausfüllen. Wie vieles scheint erreicht, selbst wenn man weiß, wie vieles nicht erreicht ist.

Dieses Niedersteigen des Geschmacks in unsere Wohnungen, dieses wachgerufene naive, ästhetische Empfinden gehört unter die positivsten Fortschritte, unter die Fortschritte, die nicht aus einem konstruierten Vervollkommnungswege der Menschen bewiesen werden, nicht aus dem grausamen Wechselspiel von Bedürfnissen und Erfindungen herkommen, sondern eine Veredelung sind, eine Erleichterung von Lebensgängen, die uns doch nicht erspart werden. Kultur heißt jene Förderung notwendiger Neuerungen, die in den großen Gesetzen der Umwandlungen beschlossen sind. Niemals können wir diese großen Gesetze ändern, wir können sie begreifen, bewundern, beweisen, aber niemals die Finger in ihre Räder legen, Wir können nur im Kleinen helfen, die Bewegungen, die wir erkannt haben, erleichtern, die Wege ebnen, die Übel scharf ansehen und die Schwächeren an der Hand nehmen. Das können wir stets und wir empfinden viel zu sehr die Wohltat dieser menschlich schönen Kontrolle der großen Maschine, als dass wir nicht wüssten, wie all unser Geist nur in dieser Aufgabe wirksam und erleuchtend wird.

Mit einem sehr gerechten Stolz blicken wir auf diese neue Geschmackskultur zurück, durch keine Skrupel lassen wir uns das Vergnügen rauben, bei einem Sozialismus der Kunst selbst besser auszugehen. Gefühle sind entdeckt, die wir nicht kannten. Wir standen zu ihnen, wie zu den alten langweiligen und gleichgültigen Dingen, die unsere Zimmer füllten und zu denen wir gar kein Verhältnis hatten, nicht einmal ein feindliches. Jetzt sind die Augen aufgegangen, wir rissen die Tapete herunter und schufen uns zuerst einen neuen warmen Hintergrund, der nicht bloß den Kalk deckt, sondern sich darauf freut, mit den dunkeleichenen Schränken und den Karlsruher Lithographien und den japanischen Drucken ein Kammerkonzert zu geben. Die Spiegelsofas mit den Etageren, die Büffets mit den verlogenen Säulen, die so stumpfsinnig sind, sich mit den Türen herumzudrehen, die Stühle mit den Profilen, die keine Empfindung beseelt, und den Ornamenten, die ein gähnender Gewerbeschüler zeichnete, sie werden heruntergeschafft, wir senden ihnen keinen Blick nach, sie stehen frierend auf der Straße, sie ziehen mit dem Möbelwagen irgend wohin, weit in unklare Fernen, von unserer Seele nehmen sie nichts mit. Die ist schon im neuen Leben, bei den ersten aufregenden Versuchen, Stücke, die man liebgewann, noch ehe man sie besaß, zu ordnen, rote Damastdecken vom römischen Campo di Fiore auf alte friesische Truhen zu legen, Perserteppiche mit chinesischen Wandschirmen und Quattrocentofiguren und Delfter Tellern zu arrangieren, als Ausdruck unserer Wünsche — zu arrangieren, wie wir heut die Geschichte sehn und lieben, nicht als Chronologie, nicht als Deszendenz, nicht als Stil und Schule, sondern als die bunte Werkstatt der Kultur, die bald drüben in Ostasien, bald im kleinen Florenz der ersten Medici, bald in einer Fabrik der winzigsten holländischen Stadt die Kräfte zusammenschießen ließ zu zeitlosen Schönheiten. In dem kleinen Arrangierspiel in unserm Zimmer leuchtet auf einmal ein Geist, den es bisher nicht kannte, ein Kunstwerk entsteht da, wie jedes andere, aus den Instinkten des einzelnen und der Überlieferung langer Kulturen gemischt, ein Kunstwerk, das nie in einem Kodex der Ästhetik Platz gefunden hat und doch so tief und selbständig ist, dass von dem Rausche, der bei seiner Schöpfung niederfuhr, in uns, die wir nicht heut und morgen, nicht hier und da, sondern immer und in allem ästhetisch stark empfinden müssen, ein Glanz zurückbleibt, der alles bestrahlt, was noch in dieser neuen Disposition unserer Lebensrequisiten vor sich gehen wird.

Bie, Oskar (1864-1938) Musikkritiker, Musikschriftsteller, Redakteur, Kunsthistoriker, Archäologe, Publizist

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Feuerbach, Ludwig (1804-1872) deutscher Philosoph und Anthropologe

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