Leipzig, der Mittelpunkt der deutschen Literatur.

Ein Schauspieler, der gerne gelobt sein will, nennt mir Leipzig immer „den Mittelpunkt der deutschen Literatur“. Und dabei drückt er mir die Hand. Ich verstehe ihn und schreibe den anderen Tag: „Herr X ist ein historischer Schauspieler, dessen Vorzüge nicht bekannt sind.“

Das Zentrum dieses Mitteltums der deutschen Literatur ist Kintschys Schweizerhüttchen im Rosentale, wenn nachmittags die Musen Zigarren rauchen und Domino spielen. Von hier geht Deutschlands Kultur aus. Die Fremden kommen und sehen sich diese Kultur für einen sächsischen Groschen an. Wenn sie zwei Groschen dafür geben, so ist das schon Luxus. Ist gar Buchhändlermesse, so findet man bei Kintschy die literarische Börse. Es treffen auch die „ausländischen“ Schriftnotabilitäten ein aus den sächsischen, anhaltinischen und reußischen Herzog- und Fürstentümern, aus dem Harzgau, aus der Lausitz, aus Berlin und aus Gattersleben, wo Krug von Nidda wohnt. Alte Häuser, die keinen Kurs mehr haben, wie Langheim, Müchler und andere, die sich im Sterben verspäten, schicken Abgeordnete. Der Kurs der deutschen Literatur wird gemacht. Die Schriftsteller erscheinen in den besten Röcken und den nachlässigsten, genialsten Physiognomien, die sie auftreiben können. Der humoristische Autor notiert seine besten Witze für diese Nachmittage. Er hält einen Kreis hungriger Bekannter frei, daß sie um ihn herum Spektakel machen und lachen helfen, er stülpt einen Vatermörder um und grüßt alle Welt. Der Dichter legt das Halstuch ab, sieht keinen Menschen an, durchwacht einige Nächte, um die materielle Röte seines unanständig gesunden Antlitzes zu bändigen und durchsichtiger, lyrischer auszusehen. Er lehnt sich an eine Säule und sieht über das Gewühl hinweg nach den Wolken. Wenn ein Sperling zwitschert, so belebt sich sein Gesicht süßsauer auf einen Augenblick. Man fühlt eine Hymne auf die Natur entstehen; er raucht nicht und vergißt zu zahlen.


Der Publizist trägt einen langen, verschwiegenen Rock, sieht malkontent aus wie eine losbrechende Revolution, drückt den weißen Republikanerhut tief in die Stirn, streicht sich den Schnurrbart, daß allen soliden Leuten bange wird, geht forschend, aber totenstill unter den Gruppen herum, drückt hie und da einem ernsthaft die Hand, und wenn man ihn nach Politik fragt, lächelt er höhnisch wie Robespierre und spricht: „Wie ich's vor einem Vierteljahr prophezeite!“ Redet ihn ein Buchhändler an, so spricht er ihn an einen Baum fest und schweigt nicht eher, als bis der Mann um Gnade bittet.

In Deutschland und bei Kintschy ist das Verhältnis umgekehrt: die Buchhändler sind die Herren der Literatur, die Schriftsteller ihre gehorsamen Diener. Es ist wie in den Zeiten der römischen Hierarchie: nur diejenigen Entdeckungen wurden gemacht, nur die Gedanken erfunden, die die Pfaffen erlaubten. Außerhalb der Kirche konnte man nicht leben. Jetzt kann es der Schriftsteller nicht außerhalb des Buchhandels. Nur der zahlt einige Taler Honorar für die sublimsten Gedanken.

Hier am Ende des Rosentals hat Seume seine derben Lieder erfunden, drüben aber in einem der äußersten Häuschen von Gohlis dichtete Friedrich Schiller das Lied „An die Freude“ und den letzten Akt des „Carlos“. Jetzt hängt unter jenen spanischen Fenstern ein betrübtes schwarzes Schildchen mit den deutschen Worten „Bier und Branntwein bei Johann Gottlieb Nitschke“.

Nördlich und östlich vom Rosentale der Musen strecken langweilige Flächen gähnend ihre bleifarbenen Zungen dem Beschauer entgegen. Um so liebenswürdiger ist es, daß man Naturkünste benützt, um die nächste Umgebung so hübsch wie möglich zu machen und unermüdlich bürstet und putzt, die Reize der spröden Dirne zu kultivieren. Sogar einen kleinen Park hat man zusammenaddiert, mit unglaublicher Anstrengung einen Berg aus Makulatur erbaut, Rasen darüber gedeckt und streng kritisch die Meßdichter hergenommen, um einen Wasserspiegel zustande zu bringen. Der Mond liest darin die schlechtesten Verse. Die einsamen Liebespaare, die am Ufer wandeln, schöpfen daraus ihre überflüssige Unterhaltung, da es für unanständig gehalten wird, stumm zu küssen.

Die gutmütige Natur borgt ihr Grün, verdeckt Blößen mit freigebigen Ästen und Zweigen, und das Ganze sieht jetzt schon so naiv hübsch aus, wie man von einer Gegend nur verlangen kann, der die Erde kaum die Fähigkeit zum Brotstudium gestattet, alle Genialität aber versagt hat. Unermüdlichem Fleiße ist es gelungen, daß man nach zwanzig Jahren nichts mehr davon sieht, wie der Kampf eines ganzen Erdteils hier zerstörte. Ein Denkmal im hiesigen Park nennt den verstorbenen Bürgermeister Müller einen Hauptlenker dieser verschönerten Ausgabe Leipzigs. Solche Leute sollten Plätze in einer Literaturgeschichte der tellurischen Ästhetik erhalten. Sie haben wirksamer für Schönheit gesorgt als mancher Poet sein Leben lang. Sie sind die plastischen Künstler des Frühlingsgrüns und Sommerschattens.

Die abenteuerliche, romantische Liebe, die sich auf den Straßen begegnet, die Liebe aus dem Stegreif, erholt sich jetzt allmählich in Leipzig, seit die Kaufleute ärmer und die Bäume und Sträucher reicher geworden sind. Einst wollte und konnte sie sich nirgends verbergen. Jetzt gedeihen schon immer mehr Schattenpartien. Je dichter der Park wird, desto dünner wird die Leipziger protestantische Moral. Die Natur ist den Moralisten nie grün gewesen. Wird gar noch das Rosental der Stadt einverleibt und sein kleines Tor des Abends nicht mehr geschlossen, dann sehe ich tibetanische Riesenfeste beginnen, und ich weiß, was man in den Kirchen umsonst predigen wird.

Gehörte ich zu den protestantischen Leipziger Historikern, ich regte an, das Rosental auszureuten. Denn von dort her, von jenem immer wiederkehrenden Liebesgrün, jenem beglückenden, säuselnden Schatten droht ihrer Armut das Verderben. Das Rosental ist viel zu katholisch, als daß es gelitten werden dürfte.

Seit einigen Jahren bin ich zu wiederholten Malen nach Leipzig gereist. Ich bin viele Monate lang da über Nacht geblieben; was Wunder, daß meine Reise hier ein wenig anhält. Ich muß erst alle Wirtshauszettel zusammensuchen, die ich hier bezahlt, damit ich erfahre, was ich hier genossen, sonst fällt es mir nicht ein. In Leipzig habe ich immer viel Zeit gefunden nachzudenken, obwohl ich hier eifrig an der Weltgeschichte mitgearbeitet und ein Journal redigiert habe.

Es ist alles anders in Leipzig. Wenn man über eine andere Stadt schreibt, so schreibt man eben, um die Stadt zu charakterisieren. Man charakterisiert aber Leipzig, wenn man über alles, nur nicht über Leipzig schreibt. Ich will nicht sagen, daß Leipzig keinen Charakter habe. Es ist im Gegenteil in Leipzig Hauptsache, einen Charakter zu haben. Denn wer keinen Charakter hat, ist ein schlechter Mensch, und wer seine Miete nicht bezahlt, hat keinen Charakter. Leipzig ist eine artige Stadt und nötigt einen durchaus nicht, über etwas Bestimmtes, Interessantes zu schreiben. Es hat so verschiedene Interessen. Dreiprozentige, vier-, fünf-, sechsprozentige, die Auswahl ist sehr schwer. – Sollten meine Leser nie eine jener wohlkonservierten Kaufmannsfrauen gesehen haben, die ein schwerseidenes Kleid, eine goldene Kette und eine sehr schöne Haube tragen, die äußerst höflich und freundlich sind, die alles vortrefflich finden, was ihr sagt, ja, das Ungezogenste schalkhaft und liebenswürdig nennen und die, sobald man zur Tür hinaus ist, vom Stuhle springen und nicht begreifen können, daß die Polizei solche verworfene Menschen, wie ihr seid, vierundzwanzig Stunden in der Stadt dulde, daß solche Leute in respektable Gesellschaft geladen werden könnten. Sollten sie solche Frauen noch nicht gesehen haben, so wissen sie freilich nicht, was es heißt, eine Kaufmannsstadt zu schildern, der die Elle aus der Tasche guckt, auch wenn sie Boston spielt und über das Christentum spricht. Liebe und Poesie sind Einseitigkeiten. Darum sind sie so schön.

Weil Leipzig keine Augen und kein Herz hat, weiß man nicht, was man darüber sagen soll. Ehe ich nach Leipzig kam, machte ich alle Tage, wenigstens jede Woche, ein Gedicht, wenn es auch nur ein Gedicht fürs Haus war. Seit meiner Leipziger Zeit habe ich keinen einzigen Vers verbrochen.

Aber heroisch wird man. Man fürchtet den Tod nirgends so wenig wie hier. Leidenschaft und Gleichgültigkeit haben oft ein und denselben Ausgangspunkt: Verzweiflung, und wirken darum oft gleich. Oh, ich weiß jetzt, was englischer Spleen heißt, und ich glaube es jetzt aus Eitelkeit, daß es die Geistreichsten waren, die sich aus Langerweile erschossen. Ein Dummkopf langweilt sich nie. Ich war noch nicht geistreich genug in Leipzig, sonst säße ich lange nicht mehr drinnen.

Es ist alles anders hier als sonstwo. Die Polizei ist sehr gut und geniert niemand. Des Sonntags, wenn andere vernünftige Leute und schlechte Christen sind, sind die Leipziger gute Christen und gehen in die Kirche, lassen Ketten über die Straße spannen und Wachen aufstellen, daß kein Frevler Gottes Wort störe, und sind sehr still und feierlich. Sie sprechen vom Jüngsten Gericht und vom Teufel und seiner Großmutter. Es ist überhaupt noch sehr viel Religion im Munde der Leute. Es kommt hier auch die „Leipziger Zeitung“ heraus, die an anderen Orten nicht geduldet würde, wo wenig auf Religion, aber auf Geschichte und Reputation gehalten wird.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier