Leipzig an einem Tage.

An einem Tage, da die ersten Mädchen in weißen Kleidern unter meinen Fenstern spazierengingen, sah ich mit Freuden ein, daß ich sie verleumdet hatte und daß sie alle schön seien. Sie haben schöne Taillen, eine weiße, europäisch süße Haut, volle Haare und große Augen. Sogar die Bankiers, die vorüberkamen, hatten die Überschuhe ausgezogen, knöpften die Fracks auf und stellten sich wenigstens so, als ob noch empfindendes Leben unter der Kaschmirweste sei. Der russische Gesandte wohnte zwar trotz des Frühlings noch immer da drüben in dem großen Hause, von wo er mit einem mäßigen Fernglas auf meinen Schreibtisch sehen und mich eines schönen Morgens mit einer guten Kugelbüchse totschießen konnte, wenn ich wieder über die Freiheit schreiben wollte. Aber ich wußte, daß sich der Frühling morgen und übermorgen so breit gemacht haben würde, daß mir Rußland nicht mehr gefährlich werden könnte.

Zudringlich und liebenswürdig fällt der Frühling auf Leipzig. Die Bäume strecken ihre Hände bis an die Innenstadt hinein, ganz Leipzig wird von der grünen Natur belagert. Die Promenade umfängt die ganze innere Stadt mit Spaziergangarmen. Zum ersten Male wollte ich mittags nicht in mein treues „Hotel von Bayern“ hinein, das mich so lange geschützt hatte vor Unglück und Verzweiflung durch den Umgang mit frischen Fremden.


Engländer sind alle Tage, Amerikaner alle Wochen, Franzosen alle vierzehn Tage bei Tische.
Ich habe die Franzosen immer nur übermütig, die Engländer aber stets hochmütig gefunden. Beim Übermut kann man liebenswürdig sein, beim Hochmut aber nicht, und Liebenswürdigkeit ist auch eine Aufgabe der Kultur.

Hie und da fand sich auch ein Holländer bei unserer Tafel ein. Und so uninteressant mir der Begriff Holland immer gewesen ist, so interessant waren mir die holländischen Individuen.

Einer sah gar nicht aus wie ein Holländer. Er war nicht klein und hatte ein geistreiches, zivilisiertes Gesicht. Nur um den Mund spielte jener fatale Diskontozug, den man hassen muß, weil er das Geld höher stellt als die Schönheit.

Der Mann war vierzehn Tage lang artig und still gewesen, hatte mit Fleiß gegessen und mit Geduld die Leipziger Zeitung gelesen. Er fing an, mir Achtung einzuflößen. Da kam eines Tages ein schwarzäugiger Franzose mit propagandistischen, lebhaften Zügen an den Tisch und warf aus Brüssel Congrevesche Raketen nach dem Haag. Jetzt entwickelte sich der moderne Holländer, der Bissen stand ihm im Munde still, der Ärger zog wie ein Heuschreckenschwarm verheerend über sein Gesicht, die Hände hielten krampfhaft Messer und Gabel, er drängte mit Mühe hie und da einige verstorbene Worte aus der Kehle und sah aus wie ein Italiener. Als der Franzose von der Schuld sprach, die Holland allein fortwährend zahlen solle, da glaubte ich, es rühre den Holländer der Schlag, so fieberisch zuckte alles an ihm. Er ließ die Mittelspeise und den Braten im Stich und ging davon. Das hätte ich nie einem Holländer zugetraut.

Ein zweiter war so ein fahrender holländischer Enthusiast, der zu seinem Vergnügen reiste. Es klingt unglaublich, daß ein Holländer zu seinem Vergnügen reist und Enthusiasmus mit sich herumführt. Aber ich habe diese Seltenheit wirklich gesehen. Er war zu Leyden geboren, hatte zu Leyden studiert, kam von Leyden, trug das orange-schwarz-gelbe Heldenband und war sehr beweglich. Er war ein moderner Holländer, das heißt eigentlich ein Irrtum. Dazu war er kein eigentlicher Kaufmann, unbekannt mit der übrigen Welt, vom Mutterleib aus gutmütig und verliebt.

Sein Entree bei Tisch war, daß er uns versicherte, die holländische Sprache sei die schönste auf der Welt und Holland sei das freieste Land. Wegen der ersten Behauptung wurde er ausgelacht. Alsbald sprang er auf – er war noch bei der Suppe – und verließ den Tisch. Beim Rindfleisch kam er wieder und verteidigte es mit republikanischer Offenheit, daß die Holländer frei, sehr frei, ganz frei seien. Es ließ sich wirklich nichts dagegen einwenden. Sogar die Engländer schwiegen, nur König Wilhelm würde sich schlecht dabei erbaut haben. Der Holländer schnitt herzhaft ins Rindfleisch. Ich sagte ihm, Wienbarg erzähle, die Holländer verehrten ihren König wie die Ägypter einen Ochsen, der im Palast einen Stock hoch vortrefflich gepflegt werde.

Er stand wieder auf wie Petrus, ging hinaus und weinte sehr. Bei der Mehlspeise kehrte er zurück und sagte, die holländische Literatur sei die erste in Europa und über ihre Poesie ginge nichts. Zum Beweise deklamierte er ein Gedicht. Allgemeines Gelächter. Er lachte mit. Ein holländisches Gedicht klingt nämlich, wie wenn ein Unglück passierte. Zum Beweise der vorzüglichen Literatur führte er den Erasmus an. Als ich ihn bat fortzufahren, so sagte er wieder Erasmus und fügte hinzu, man verachte auch in Holland die Homöopathie, der Holländer liebe die reelle Wissenschaft.

Neues Gelächter. Er verachtet uns und ißt mit Leidenschaft Schöpsenbraten. Ich sagte, Erasmus sei ein Schleicher, Hungerleider, ein Diskontogelehrter gewesen, und fragte ihn, ob er wohl wisse, wie lange Erasmus schon tot sei und ob sich eine Nation nicht schäme, seit dreihundert Jahren nichts erfunden zu haben, nicht einmal einen Schnaps. „Nicht einmal den Genever?“ sagte er stammelnd. „Nein“, sagte ich unerschütterlich. Und Petrus warf mir den ganzen Spanischen Erbfolgekrieg in einem Blicke zu, ging hinaus und weinte bitterlich.

Mit einem Waterloogesicht kam er wieder, lächelte siegestrunken, machte die Weste zwei Knöpfe weiter auf und sagte vor sich hin: „Chassé.“ Neues Gelächter. Er fragte beleidigt, warum wir lachten. Ein französischer Engländer nahm das Wort. „Ich denke immer bei Chassé an Byron, als er von Blücher sagte, er sei der Stein gewesen, über den Napoleon gefallen. Ich gebe nichts für passive Größe. Die Alternative gestatte ich nicht, bei Vollbringung einer Tat ein großer Mann, bei Unterlassung ein Schuft zu sein. So war es aber mit Chassé. Wenn er das Äußerste tat, erfüllte er seine Schuldigkeit. In Ermangelung eines freien originalen Helden wurde er zum Helden. So wie ein Soldat des Cortez, der reiten konnte, ein Halbgott war, weil die Mexikaner nicht reiten konnten. – Die Verhältnisse machten ihn bedeutend. Ein großer Mann aber macht seine Verhältnisse bedeutend.“

„Ach“, sagte ein Franzose, der dazugekommen war, „Chassé ist ein Narr, wie ich noch keinen gesehen. Die Geschichte bringt ihm ein Blatt persönlichen Ruhms auf dem Präsentierteller, er darf nur zugreifen, ein paar alte, langweilige Jahre dafür hingeben und er hätte in einem einzigen Moment die Quintessenz eines ganzen Lebens genießen können. Dazu fehlte ihm aber der Mut.“

„Aber, Mynheer“, wurde der Holländer immer weinerlicher.

„Ich will nicht sagen“, fuhr der Propagandist unbeirrbar fort, „daß ich Chasse geraten hätte, mit einer solch romantischen Fratze zu enden. Aber ich meine, er ist ein prosaischer Nußknacker. Quel bruit pour une Omelette! Wollte er weiter nichts tun, als was er getan, so mußte er vornweg ganz stille sein, nicht renommieren. Jetzt wird er ausgelacht. Fing er doch die Verteidigung so unvorsichtig an, ließ unsere Truppen ungestört die Parallele eröffnen, daß jedermann glaubte, es gehe auf ein Heldenstück hinaus. Oh – monsieur le Hollandais, cela n`est rien.“ Der Holländer tat mir in der Seele leid. Es ist ein Zauber um jede Art von Liebe. Ich wärmte eigens Hollands protestantisches Heldentum auf, und das schmeckt wie Schöpsenbraten und Sauerkraut, erzählte von der Schlacht bei Gravelingen und den Wassergeusen, den heldenmütigen belagerten Städten, in denen man lieber Pferde- und Rattenfleisch gegessen als die Spanier geduldet habe. Ich sagte den Engländern, wie einst die City gezittert habe vor dem holländischen Namen Ruyter, ich zitierte die holländischen Maler. Um ihn ganz glücklich zu machen, summte ich leise sein „Oranje boven“. Da trommelte er mit Händen und Füßen, war ganz glücklich und hatte alles vergessen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier