Die Straße nach Leipzig.

Die Straße nach Leipzig ist so zweifellos und uninteressant, daß sich auf ihr durchaus nichts ereignen kann. Und Leipzig hat auch die Merkwürdigkeit, daß man das meiste darüber zu schreiben vermag, wenn man es nicht gesehen hat. Je länger man da lebt, desto weniger weiß man darüber zu sagen. Wenn man ein bürgerliches hübsches Mädchen sieht, so kann man allenfalls mit ihr schwärmen, falls man gerade nichts Besseres zu tun hat. Kommt man aber öfter mit ihr zusammen, so bleibt nichts Besseres übrig, als sie zu heiraten. Von solch einer Heirat weiß niemand viel zu erzählen.

Bei freundlichem Nachmittagssonnenschein trat ich in das Zimmer meines Freundes. Er saß hinter einem breiten Tische voll Landkarten, reichte mir trübselig die Hand und sagte, es sei gut, daß ich komme, denn er könne nirgends Golkonda finden.


Nach einigen Tagen erfuhr ich, daß er sehr hypochondrisch sei und die Welt aufgegeben habe. Der einfache Grund davon: es gebe so erschrecklich viel zu lernen in der Welt, daß es unmöglich sei, fertig zu werden. Deshalb habe er beschlossen, lieber unglücklich zu sein, als sich noch länger zu quälen. Während er auf das eifrigste Naturwissenschaft und Medizin studiere, laufe ihm Geschichte und Geographie davon, und wolle er diese einholen, würden die andern über Nacht ganz anders. Ein ehrlicher Mensch müsse dabei zugrunde gehen, das wolle er denn auch. Dabei streckte er sich aufs Sofa und machte die Augen zu.

Ich sah ein, daß hier das Glück nicht zu finden sei, weshalb ich auf Reisen gegangen.

Ich wollte nach Paris fahren und war nun in Leipzig. Ich schrieb in den Zeitungen über deutsche Literatur und das Leipziger Theater und wurde kein Revolutionär, wie meine Mutter hoffte, sondern leider ein solider Mensch, der zweiundzwanzig Stunden auf seinem Zimmer ist, wenn's regnet, spazieren geht, wenn die Sonne scheint, vor jedem anständigen Menschen den Hut abnimmt, seine Miete rechtlich bezahlt und hoffentlich einen guten Ruf hat. Das ist aber die Hauptsache in Leipzig.

Das öffentliche Leben einer Handelsstadt sind die Kurse, die Warenpreise, der größere oder geringere Transito. Der Kaufmannsstand ist einer der nützlichsten, aber die Beschreibung seines Lebens ist die langweiligste, denn das Einmaleins ist seine wenig variierte Grundform, die Wechsel sind seine Poesie, die Poesie selbst, vorzüglich die romantische, ist sein barer Gegensatz. Von den Dichtern Phöniziens, Karthagos, des reinlichen Holland, sogar des alten wimpelreichen Venedig meldet uns die Geschichte wenig. Ewig wiederkehrende Ordnung ist des Handels Grundlage, die der Poesie aber reizende Verwirrung, Abwechslung, bunte Unordnung. Dort der Vorteil, ein vertrockneter Geselle in dauerhaften Lederhosen, hier die Lust im bunten fliegenden Gewande.

In Leipzig stört einen kein Adeliger, aber hier ist das Terrain, wo man studieren kann, was geschieht, wenn der Adel abgeschafft wird. Der Wert der Ahnen ist abgetan. Das Reich der Bildung sollte anheben. Dazwischen schiebt sich plötzlich aber jenes Etwas, das so wichtig und merkwürdig geworden ist: das Geld. Es ist die ewige Verwechslung zwischen Mittel und Zweck, Weg und Ziel, Kleidung und Mensch. Die Industrie ist nicht zu fördern, um an die Stelle des Lebens zu treten. Sie soll das Leben erleichtern, und das erleichterte Leben sollen wir dann erst verschönern lernen. Alles, was wir jetzt erstreben, ist erst das Werkzeug zum Glück. Die Kaufleute aber machen das Werkzeug zum Zwecke. Sie betrügen uns um unsere Zivilisationsarbeit. Sie müssen viel heftiger bekämpft werden als der Adel. Aber sie sind schwerer zu bekämpfen, weil sie jünger und dümmer sind. Ihre Waffen, die gelben Louis d'ors, weiß jeder Feigling und Dummkopf zu führen, die des Adels, die Ambition und die Erinnerung, bedurften der Übung und des Blutes. Ihre Verdienste sind keine Vermächtnisse auf späte Zeiten, die man studieren muß, ihre Wechsel lauten au porteur und müssen auf Sicht gezahlt werden. Sie gewinnen in einem Jahre soviel Terrain wie der Adel in einem Jahrhundert.

Der Ursprung des Adels war doch eine Art Poesie. Glänzende Vorzüge sollten doch wenigstens sein Vater sein. Die Fratze entstand erst dann, als die Vorzüge allgemeiner geworden und die Adeligen in dem lächerlichen Irrtume befangen waren, allein Vorzüge zu besitzen. Aber selbst der Schatten dieser Tendenz hob doch oft noch einzelne dieser Kaste aus der Masse. Einzelne wollten wenigstens edler sein. Der Kaufmann will nur reich sein. Zum Reichwerden braucht er keinen inneren Vorzug.

Er ist der neue Philister, der bis jetzt Frankreich betrogen hat und uns alle auf lange Sicht betrügen wird, wenn wir ihn nicht im Schach halten. Für die Kontore haben wir den Adel und die Regierung des Herkommens besiegt. Freut euch das, ihr revolutionären Götter und Sünder? Ich glaube kaum, daß bei diesen bockledernen Herzen etwas anderes als der „Schrecken“, das historische Wort Dantons verfängt. Sie müssen solange eingeschüchtert bleiben, bis sie lieben gelernt haben. Sagt man doch, daß die Weiber den Mann am innigsten lieben, den sie vorher am meisten gefürchtet. Die Kaufleute sollten die Menschen fürchten, um sie zu lieben.

Leipzig hat vor den Toren ein Schlachtfeld, auf dem viele tausend gute und böse Männer totgeschossen wurden. Mit ihnen unterhielt ich mich über vergangene Zeiten und was die Welt gehofft und gefürchtet habe bei der Schlacht bei Leipzig. Es ist nur traurig, daß die Toten, so laut sie reden, nicht verstanden werden. Und es ist traurig – ich mache mir oft Vorwürfe darüber –, daß ich immer die Plätze der französischen Marschälle suche, die doch meines Vaterlandes Feinde waren und auf meine Brüder einhauen ließen. Namentlich suche ich den Platz des Marschalls der Marschälle, der so viele deutsche Mädchen unglücklich gemacht hat. Kann ich dafür, daß die Poesie die Tochter des Genies ist, daß sie nur die Größe, den Glanz und die Herrlichkeit liebt und dem guten Willen, ja dem besten Willen den Rücken wendet? Ich habe es lange mit den Alliierten gehalten, aber sie konnten mir nichts mehr zu essen geben. Sie waren fertig mit ihrem bißchen Ruhm. Ich werde sie immer mit Pietät behandeln, mehr kann ich als rechtschaffener Poet nicht versprechen.

Der Himmel weiß, wie ich mir die wackeren preußischen Freiwilligen vergegenwärtige, sooft ich nach Möckern komme, wo sie wie Helden gefochten haben.

Preußen und Berlin sind nie so liebenswürdig gewesen als im Jahre 1813, da sie den Mut hatten zu zürnen und die besten Söhne hinzuschicken gegen die Kugeln. Wenn man das deutsche Philisterleben kennt, so weiß man, daß ein solches Verdienst zehnfach anzuschlagen ist. Ich weiß noch, wie wohl es uns tat, als nach der Schlacht an der Katzbach die ersten Freiwilligen zu uns ins Quartier kamen: die Figuren schwankten noch wie die Gerten, es war noch keine empirische Konsistenz in ihnen. Die dünnen Stutzbärtchen kamen erst schalkhaft, schüchtern zum Vorschein, die Hände waren noch fein und weich, die Wäsche war viel zu fein für das Feldlager, sie sangen Körnersche und Schenkendorfsche Lieder. Ich sah meinen Vater den Kopf schütteln. Er hatte die Schwielenhand manches alten Franzosen, der in Italien und Spanien mitgefochten, gefühlt. Er hatte die verwitterten Gesichter, die undurchdringlichen Bärte der alten Kerntruppen gesehen und schüttelte den Kopf zu unserer jungen Romantik.

Damals betete ich alle Abende vor dem Schlafengehen, und wenn der Vater am Tage die Zeitungen bekam, betete ich noch einmal für unsere Freiwilligen, und habe jeden neuen Morgen gefragt, ob ich die Nacht über nicht groß geworden sei, um auch den blanken Reitern folgen zu dürfen.

Es wird in Leipzig sehr viel spazierengegangen und geritten. Die Promenaden sind zwischen den Vororten und der Stadt. Reit- und Fahrwege gehen daneben her, der Reiter kann seiner Dame die Hand reichen, die Dame kann ihr neues Kleid während einer halben Stunde Hunderten zivilisierter Augen präsentieren. Auch gibt es sehr viele Kinder in Leipzig, ich glaube mehr als Erwachsene. Herodes hätte hier entsetzliches Unglück anrichten können.

Übrigens hat sich diese Stadt, die durch viele Jahrhunderte immer der Rücken Europas war, auf den man von allen Seiten her weltgeschichtliche Schläge austeilte, wie eine vorsichtige Schöne konserviert. Sie ist ein ordentliches, solides Mädchen ohne Leidenschaften. Sie hat Kissen voll weißer Leinwand, den Kopf voll alter grauer Hausmittel und Gleichnisreden, das Herz voll polizeigemäßer Zuneigung, die Hand voll zweifelloser, überaus gültiger Münze. Sie ist um und um eine gute Partie, die junge, erbauliche Kaufmannswitwe Leipzig. Mit roher Kriegshand hat man ihr so oft alle Reize angetastet, nach einer Entsagungskur von einigen Jahren ist sie immer wieder hübsch geworden. Nur muß man nicht weit mit ihr schwärmen wollen. Sie ist eine Kaufmannswitwe ohne Perspektive.

Die Promenaden und vielfachen Gartenanlagen haben aus der von der Natur sehr mittelmäßig bedachten Stadt einen Ort geschaffen, in dem sich der Frühling sehr hübsch ausnimmt. Von der Westseite, zwischen den Flugnetzen, die die Leipziger selbst größtenteils erst seit der Schlacht kennengelernt haben, zieht sich grüner Laubwald herauf. Erste Bekanntschaft mit ihm schließt die Stadt im Rosental. Dort sitzen die Musen und Grazien Leipzigs. Die Musen rauchen Zigarren, echauffieren sich durch Marseiller Märsche, kühlen sich durch Eis ab und sind liberal bis zum Teufelholen. Namentlich wenn es kühler wird und sie anfangen, Grog zu trinken. Seit den Bundestagsbeschlüssen spielen sie aus Oppositionsgeist täglich Domino.

Die Grazien sind sittsam und schlagen die Augen nieder. Mit einem Maskulinum gehen sie nicht eher spazieren, als bis sie mit ihm verlobt sind. So darf niemand den König von Spanien anrühren, auch wenn er brennt, als sein erster Kammerherr. Solche Gesetze sind aber den Leipziger Grazien eine Kleinigkeit: das Brennen ist ein extremer Zustand, der sich nicht schickt. Ich habe noch keine brennen gesehen, wenigstens noch nirgends Feuer und Wärme verspürt. Man kann lodernde Gedanken unter sie werfen, sie blasen sie lächelnd aus und sagen ernsthaft: „Das schickt sich nicht.“ Wenn man ein hübsches Mädchen sieht, so fragt man nicht: „Wie heißt sie?“, sondern: „Mit wem ist sie verlobt?“

Sachsen ist berühmt wegen seiner hübschen Mädchen. Vor mehreren Jahren war wirklich eine schöne Generation hier. Wir wallfahrten von Halle nach Leipzig zum Meßsonntage, um unseren ästhetischen Ideen auf die Beine zu helfen, die in Halle erlahmten. Man reiste wie zu einem orientalischen Basar. In „Rudolphs Garten“ erschienen die Leipziger Türkinnen unverschleiert und schufen die neueste Mode für Deutschland. Man sah ihnen das weltgeschichtlich schöpferische Behagen an. Manche mochte sich wochenlang nicht sattgegessen und Tag und Nacht Clauren gelesen haben, um ins Modejournal zu kommen. Es ist keine Kleinigkeit für das Hinterstübchenleben eines Mädchens, abgemalt zu werden wie Fräulein Sontag und der türkische Sultan, und zwar bloß der Schönheit halber. Daß die Gesichter in den Modebildern alle gleich sind, darauf kommt's nicht an. Man erkennt doch das Kleid oder die Frisur, und einst in späten Tagen, wenn der Mann nicht mehr dran glauben will, daß die Frau schön gewesen, holt sie unter alten vertrockneten Blumen den Kupfer aus der Modezeitung und reicht ihn ihm mit verwelktem, siegreichem Blicke. Und der Mann wird wieder stolz darauf, daß er eine historische Frau besitzt, und erzählt die Geschichte des Abends in der Ressource, in der Harmonie oder im Tunnel.

Man berichtete mir, als ich auf die verschlechterte Generation anspielte, daß in den letzten Jahren sehr viele große Häuser falliert hätten. Das wirke stark auf die Schönheit ein. Die Erklärung ist gar nicht übel. Überfluß, Reichtum, Sorglosigkeit, lauter samtene Tapetenverhältnisse, fördern das Gedeihen der Schönheit. Die Kinder rücksichtsloser Liebe sind nicht nur meist Genies, sondern sie sind auch schöner als die Sprößlinge des mühsam geordneten Ehebettes. Ein guter Kalkulator kann keine schöne Tochter haben: wenn der Chef des Rechnungshofes schöne Kinder zeugte, ich setzte ihn ab, wenn ich sein Herr wäre. Es wäre ein sicheres Zeichen, daß er nicht für sein Amt taugt.

Es ist traurig, daß die Schönheit so wenig mit dem Gedanken zu tun hat, daß sie eine Entschädigung für die Dummheit zu sein scheint. Unter zehn schönen Mädchen sind immer neun dumm, und das ungebildetste Land hat die schönsten Frauen. Ich spreche natürlich von Formenschöne, denn die Natur hat ein Einsehen gehabt, um die Tätigkeit zu wecken. Die geistige Schönheit läßt sich erzwingen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier