Breslau. Eine lebhafte Sehnsucht.

Ich empfand wirklich eine lebhafte Sehnsucht nach dem Monde, ich hätte mich auf das Pflaster legen und den Schein küssen können. Aber es hatte kurz vorher ein wenig geregnet, drum tat ich es nicht. Die nüchternen Leute, die in einer Passion für den Mond viel Überschwenglichkeit und wenig Vernunft finden, mögen sich beruhigen. Für gewöhnlich liebe ich den Mond nicht; er ist mir zu bleich, zu schwindsüchtig, zu kraftlos, zu monoton, zu langweilig. Es stehen noch einige Eigenschaftswörter zu Diensten, wenn es sein muß.

Aber wenn ich einen Raum zum ersten- oder letztenmal sehe, dann ist der Mondschein sein Himmelsnimbus, dann macht er alles so weich, so fromm, so rührend. Es war mir damals am Graupenturme in Breslau, als sähen mich all die lieben Augen im Strahl des Mondes an, denen ich jemals in zärtlicher Neigung zugewendet war. Ich konnte nicht die Züge unterscheiden, aber es war ein süßes Gewirr von all den Mienen, die meinem Herzen wohltun, es im süßen Weh bewegen.


Kuß auf Kuß warf ich dem Monde zu. Ich fühlte, daß der Abschnitt all meiner Jugendneigungen mit diesem Mondschein zu Ende ging. Des anderen Tages reiste ich in die Welt nach Spanien, Babylon und Leipzig. Ich mußte Abschied nehmen von all dem, was küssenswert war unter diesem Monde.

Hinter mir im Schatten des Graupenturmes stand ein langer Mann mit gekreuzten Armen und sah ebenfalls in den Mond. Langsam kam er in den hellen Schein heraus. Wiederum das Bild eines Minnesängers. Breslau hat in vielen schweigsamen Winkeln ungewöhnliche, ernsthaft ganze Figuren. Es hat viele Blätter, die noch niemand umgewendet hat, noch viel unberührte Jugend.

Der Mann war lang, ein magerer grauer Mantel verhüllte kaum seine Länge. Er hatte einen Kopf wie ein ernsthafter Vogel. Weit flogen im leichten Abendwinde die weichen Haare. Fein, spitz und klar wie Luft formten sich nach vorne saubere Gesichtszüge voll kindlicher Unbefangenheit, und die sanften, ahnungsreichen Augen sahen mild wie zwei glückliche Sterne. Ein schwarzes Napfmützchen deutete darauf hin, er sei ein Scholiastenvogel, der sich von Weisheit nähre. Aber in freien Stunden singt er, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und der ist ihm schön gewachsen. Wir gaben einander die Hand und sprachen über den Mond.

Es war Hoffmann von Fallersleben, damals Kustos der Breslauer Universitätsbibliothek. Er lud mich ein, mit ihm zu gehen, und bemerkte, alle alten Poeten würden unruhig auf ihren Repositorien, wenn ihr alter Bekannter Signore Mond sie besuche. Es beginne ein Flüstern von alten unbekannten Liebesgeschichten, daß man nicht Ohren genug habe zu hören. Namentlich der heilige Augustinus erzähle gern von den warmen afrikanischen Abenden seiner Jugend, und der heilige Abälard beschreibe in süßen Stanzen die verführerischen fränkischen Nächte. Hoffmann konnte gar nicht fertig werden zu erzählen. Dann setzt er sich in einen Winkel, macht die Augen zu und läßt alle alten Gedichte durch sein offenes Herz aus- und einziehen wie prächtige Brautpaare. Daher kommt es auch zum Teil, daß er so schöne Gedichte schreiben kann. Er hat auch ein sehr feines Gehör.

Es tat mir leid, seine Einladung abschlagen zu müssen. Aber ich hatte noch zu viele Besuche zu machen, und den Mond brauchte ich notwendig dazu. Ich versicherte Hoffmann, daß es in Breslau sehr viele Fenster gebe, große und kleine, in denen meine Blicke noch während des Mondscheines suchen müßten. Er nickte mit dem Kopfe, denn er ist ein Dichter. Ach, die Geschichten von den Fenstern, aus denen Lockenköpfe und weiße Hände sehen, sind nicht eben lehrreich, aber sehr schön. Hoffmann sagte, das habe seine Richtigkeit. Er freue sich immer, wenn er mich mit unternehmenden Augen und Schritten sehe. Die Klassiker auf der Bibliothek wüßten zwar von schönen Liedern, aber wenig von realen Küssen, der Mensch lebe doch nicht von Brot allein ...

Er wünschte mir glückliche Reise nach Spanien und bat, ich solle ihm drei anständige Balladenthemen aus Granada schicken mit der ordinären Post, aber nicht zu leichtfertige.

Ich habe es versprochen. Er blieb noch stehen auf der kleinen Brücke auf dem Graupenturme, die großen Augen ernsthaft auf den Mond richtend.

Durch unterschiedliche Gassen ging mein Lauf, und der Mond bewegte sich mit und blieb stehen, wenn ich stehenblieb. Wie ein lustiger Pudel. Ich blieb oft stehen. Hinter den meisten Fenstern waren weiße Gardinen; in ein paar Jahren ändert sich viel. Man sieht sich, man begegnet sich, man sucht und findet sich – und verliert sich auch. Mein Gott, die Stadt ist groß. Das Auge ist kein Philister, es ist frevelhaft, die Schönheit der Welt nicht in ihrem größtmöglichen Umfange zu würdigen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier