Die letzte Breslauer Nacht.

Der Mond trat ungeduldig hinter die Häuser der Albrechtstraße, ich mußte weiter. Ich kann nicht im Detail fortfahren, sonst würde meine Abreise zu lange aufgehalten. Ich kann nur bemerken, daß in dieser letzten Breslauer Nacht der Nachtwächter manches abgelegenen Viertels unruhig wurde, weil ein Mann so lange vor manchem kleinen Haus stehenblieb. Die Breslauer Nachtwächter sind wegen ihrer Disziplin und Tapferkeit berüchtigt. Sie halten nichts von der Dichtkunst und verfolgen die Schwärmerei. Sie sind ohne äußere Bildung und schonen kein zartes Gefühl.

So mußte ich denn auch flüchtig an einem Hause der südlichen Innenstadt vorüber, wo ich sonst ein ganzes Jahr lang nicht vorübergehen konnte, weil ich immer genötigt war, einzutreten. Ich hatte in jenem Hause viele ernsthafte Tränen geweint, sein Eckfenster war mir lieber gewesen als die ganze Stadt Breslau. Hinter ihm saß sie alle Abende im Lehnstuhl, die Hände ruhten in ihrem Schoße, und von unten herauf sah sie verstohlen nach der Tür, ob ich eintreten würde. Sie hatte mir immer etwas Trauriges zu sagen. Es ging uns sehr schlecht, und ich konnte ihr keinen andern Trost bringen als alle Tage neue Gedichte. Die lasen wir miteinander und weinten. An einem kalten Wintermorgen mußte sie fort, weit fort. Das war ein sehr trauriger Tag.


Und das arme Fenster, wo tagsüber nicht mehr ihr Kopf, am Abend nicht mehr ihr Licht hinter den Blumen zu sehen war, wie lange habe ich das arme, leere Fenster bedauert, diesen gläsernen Sarg. Jetzt wohnten fremde Leute da. Die Geschichte war schon sehr lange her, aber es fuhr mir doch wieder jener flüchtige Stich in das Herz, nur schwächer als damals. Immer weiter, die Stadt ist groß und das Leben ist lang.

Der alte Pedell Frese war tot, Sturm, sein Nachfolger, hatte die große eiserne Tür der Universität nicht zugeschlossen, ich trat hinein in die schallenden Korridore. Die Jesuiten, die geistreichsten Schufte der letzten Jahrhunderte, die ich wegen ihres impertinenten Verstandes niemals hassen kann, hatten das stolze Gebäude erbaut. Die Jesuiten und Frese sind tot. Es war doch traurig, daß auch er hatte sterben müssen. Er war so römisch lang und sprach immer im pluralis majestatis: „Wir haben beschlossen.“

Es ist ein schöner Raum, um Weisheit zu hören und zu lehren, dies Breslauer Universitätsgebäude. Ich wollte mich schnell erinnern, was ich alles hier gelernt hatte, ich drehte alle Taschen um, sie waren lächerlich leer. Außer Henrik Steffens war mir in diesen Räumen nicht einmal ein Interesse nahegetreten; die klingenden Sporen, die jungen Bärte, die bunten Mützen der Studenten waren mir in den hohen Bogengängen noch immer das Interessanteste gewesen. Die Theologen lasen drei Jahre lang über eine alte abgedroschene Geschichte und noch dazu unzweckmäßiger als auf mancher anderen Universität. Die Juristen trugen drei Jahre über ein anderes Buch vor, und die Philosophie war ganz abgekommen. Nur Henrik Steffens redete stürmisch poetische Gedanken über die Philosophie.

Henrik Steffens ist ein interessanter Mann. Sein Fehler ist nur, daß er mehr sein will. Als ich seine erste Vorlesung im Musiksaale hörte, war es mir, als stünde ich unter dem Wasserfalle des Niagara: betäubendes, überwältigendes Getöse, rings stäubendes Wasser, stockfremde, breitblättrige Pflanzen. Auf einem einzelnen Felsen ein Wilder, der nach einem Wasservogel schießt und dann kopfüber mit der Flinte in das brausende Wasser springt. Es war mir urwäldlich zumute. Und als ich hinauskam in die frische Luft, fing ich plötzlich zu lachen an. Professor Henrik Steffens hatte über Anthropologie gelesen. In dieser Anthropologie fehlten nur die Menschen, aber Berge, Pflanzen und Steine sprachen wunderbar interessante Dinge. Wie er so dastand, der lange Norweger mit den irren blauen Augen und der nach Himmel und Erde zeigenden weißen Hand, dachte ich fortwährend an einen alten Druiden, der die Natur in stiller Einsamkeit belauscht hat, Menschen und den gewöhnlichen Gang der Dinge vergaß, und der nun zurückkehrt in die Stadt, um über Menschen zu sprechen und Novellen zu schreiben. Steffens trug einen feinen blauen Frack mit gelben Knöpfen. In der einen Hand hielt er gegen Ende der Stunde seine goldene Uhr. Ich dachte jeden Augenblick, wenn in irgendeinem Flözgebirge eine Schlucht sich öffnete, er würde sie einem der Zuhörer an den Kopf werfen. Die Uhr natürlich.

Er war eine schöne Erscheinung auf dem Katheder, dieser lang und gerade gewachsene Professor. Sein Kopf ist fein und scharf, die glatten grauenden Haare und einige frühe Falten geben ihm etwas Weises, und doch wird Steffens ebensowenig jemals weise werden, als der Sturm nach dem Takt sich bewegen lernt. Er ist ein Mann der strudelnden Bewegung, der sich die unnatürlichste Mühe gibt, fest zu stehen. Durch sein Gesicht laufen so viele zuckende, spitzige Linien, poetische List, frommer Jesuitismus, ein unreifes Lächeln. All das stürzt sich über- und durcheinander, daß es mit Mühe von dem starken Geiste des Ganzen gebändigt wird, daß man in steter Erregung bleibt bei seinem Anblicke. Und nun kommen die Worte dazu, die sich wie eine unerschöpfliche Flut aus seinem Munde stürzen, eine Welle will eher da sein als die andere. Wie ausgerissene, fremdartig grüne Bäume fliegen auf den Wogenspitzen ungewöhnliche Gedanken mit herunter ins Auditorium, und das Gebrause, der fremdartig übervolle, norwegisch-deutsche Ton, die zischenden Sprachfehler brausen, schäumen, toben rastlos durcheinander, nicht ein Sonnenstäubchen kann sich dazwischendrängen, man wird betäubt, bedeckt und schnappt nach Luft.
Es gibt vielleicht keinen Menschen, der eine solch enorme und schnelle Gedankenproduktion besitzt wie Steffens. Seine Gedanken gehen wie ein brausendes Viergespann mit ihm durch. Wenn er auf das Katheder steigt, so geht es ihm wie der Pythia, die sich auf den Dreifuß setzt. Der Dampf der Weisheit, der Begeisterung umfängt seine Sinne. Die Orakel zerwühlen seinen Körper, er wird von Dämonen herumgeschleudert und zerbrochen. Natürlich hält ein langer, starksehniger Norweger das länger aus als die Pythia, von der die meisten ernsthaft versichern, daß sie ein Frauenzimmer gewesen sei.

Steffens ist eigentlich ein Professor der freien Künste. Er trägt Naturgeschichte und Philosophie, das heilige Donnerwetter der Poesie und die Menschenkenntnis, er trägt dies alles vor wie eine freie Kunst. Er faselt über alles. Aber er faselt im größten römischen Baustile. Er faselt Riesenschnörkel. Bedeutende Poeten sprechen ihm Poesie ab; ich glaube, das ist ein Irrtum: Steffens hat einen belebenden, erzeugend poetischen Blick für das Vegetabile, das Halbtote, das Ganztote. Er macht den Schnee und die Steine und die Berge lebendig, aber er hat ein ganz gewöhnliches, zu unordentliches Auge für die Menschen. Wir sind nun freilich der Ansicht, daß die Menschen in den Novellen die Hauptsache seien. Bei Steffens ist es aber immer der Boden, die Menschen sind nur die Staffage, weil er sie nicht kennt. Es wird nie Maß in ihn kommen, er wird nie ein Dichter werden. Aber ein Poet, und obendrein ein gewaltiger, bleibt er. Seine Novellen mit der altklugen oder im Traume sprechenden Natur sind Kolosse von Ungeschicklichkeit. Große Schachtelkunststücke, aber ein Kunststück ist eben kein Kunstwerk. Wenn er eine Novelle schreiben will, gehen die Rosse mit ihm durch, tief in den Wald hinein. Wenn er nicht weiter kann, steigt er ab, bewährt seine Geschicklichkeit und haut rechts und links Wege durch den Wald, bis er endlich schweißtriefend wieder herauskommt. Diese Arbeit nennt er dann eine Novelle. Es fehlt ihm alle Kunst der Empfängnis. Es fehlt ihm die Dichtkunst, aber nicht die Poesie.

Man erzählt wunderliche Spottgeschichten vom Norweger mit seinen langen Beinen in der Schlacht bei Leipzig, die er so schön beschrieben. Darauf ist aber nichts zu geben. Hinter einem ungewöhnlichen Menschen weist der Haufe immer mit den Fingern her. Es ist auch nicht schwer herauszufühlen, daß Steffens kein Mann der Tat ist. Sein Geist ist ein bunter Renommist der Phantasie. Er ist ein spekulativer Poet. Wer ihm alles glauben will, wird zuverlässig ein Dummkopf, wenn auch ein merkwürdiger. Seine politischen Bücher habe ich immer wie geistreiche Karnevalsentwürfe gelesen. Wenn Steffens einmal Minister des Auswärtigen würde, könnte die Politik auf vierundzwanzig Stunden sehr amüsant werden. Länger würde der Spaß nicht dauern. Wäre ich der König von Preußen, ich ersuchte Professor Steffens, unbekannte Gegenden zu bereisen. Dann könnten wir interessante Bücher erwarten. Er improvisierte neue Welten. Wenn sie sich auch später nicht als richtig erwiesen, sie wären doch unterhaltend. Denn er ist ein kleiner Schöpfer. Es fehlt ihm nur das bißchen Ordnung, mit der der Herrgott geschaffen hat.

Der Mond wollte fort, die Korridore wurden finster, ich glaubte, die Stimme des Henrik Steffens zu vernehmen: „Meine Herren, betrachten Sie die Flözgebirge!“ Es war aber ein Irrtum. Steffens war schon nach Berlin gegangen.

Draußen auf der Oderbrücke war viel Amüsement: die lustigen Burschen führten ihre Mädchen zum Tanz hinüber nach der „Goldenen Sonne“. Durch den Dampf der Tänzer blickten die erleuchteten Bogenfenster herüber, die Musik jauchzte und wieherte. Die Mädchen hüpften vor Vergnügen schon auf der Brücke. Es ist ein merkwürdiges Institut, die „Goldene Sonne“. Der Saal ist einer der größten und schönsten der Stadt. Die Musik ist die beste, berauschend und neu. Die Gesellschaft – nun ja, die Gesellschaft ist die bunteste und harmloseste. Sie ist sehr gemischt, der Eintritt ist wohlfeil, eigentlich nur ein Unterpfand, daß man sich mit irgendeinem Genusse stärken wolle. Mit einer gutverpfropften Flasche Bier oder einem Breslauer Likör. Für die an der Tür bezahlten zwei Silbergroschen wird dem Durstigen solch ein Genuß im Saale gratis verabreicht. Hier findet man jeden Sonntag und Montag die entschlossenste Gesellschaft. Entschlossen, sich auf jeden Fall zu amüsieren. Man findet die zuschauende Frau des Bürgers, den tabakqualmenden Handwerker, die leichtfertig springende Dirne. Man findet immer Lärm, und zu jeder Stunde und ohne viel Mühe die besten Prügel. Wie vom Blitz getroffen, fliegt der Übeltäter durch mehrere Zimmer, von Hand zu Hand aus dem Haus hinaus. Aber „in diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht“. Nachdem er die Busenkrause hineingestopft hat, tritt der Deportierte wieder ein, als sei nichts vorgefallen.

Als ich noch Student war, kam ich Sonntags immer an der „Sonne“ vorüber, und der Menschenkenntnis halber ging ich gewöhnlich hinein. Damals lockten die neuen Oberontänze – es ist doch entsetzlich, daß auch solch ein Feenprinz altert –, damals scheute ich auch eine massive Prügelei nicht für ein paar schöne Augen. Ich trug noch keinen Vatermörder und haßte noch Hut und Frack.

An einem solchen melancholischen Spätsommerabende war es, als ich jene schwarzen Augen, jene schöne andalusische Figur wild an mir vorübertanzen sah, die im ganzen Julia hieß. Mein Begleiter, ein alter, erfahrener Bursche mit bemoostem Haupte, machte mich aufmerksam: „Sieh, um Gottes willen, diese Augen!“ Sie waren wirklich erschreckend und feurig schön. Ich eilte, es ihr zu sagen, mein Begleiter desgleichen. Sie lachte und legte mir die heiße Hand auf den lobpreisenden Mund. Mein Begleiter war im Feuer dieser Augen grob gegen unsere Nachbarn gewesen, und ich sah eben noch in der Ferne sein ruderndes, kämpfendes Pfeifenrohr. Er wurde just hinausgeworfen, als mir Julia ihren Arm bot. Ich geleitete sie nach Hause und kaufte ihr Bonbons.

Ich schmachtete in diesen Augen und las um jene Zeit den Plato. Das war dumm. Denn Julia wußte nichts von Plato. Ich glaubte noch an die Menschheit und an die Tugend. Eines Tages schenkte mir jener erfahrene Student ein Bonbon, das ich den Abend vorher Julia geschenkt und worauf ich geschrieben hatte: „Romeo und Julia“.

Das war einer der merkwürdigsten Tage meines Lebens. Ich verwünschte die Tugend und meine Dummheit in einem Atem. Ich verwünschte auch meine burschenschaftlichen Grundsätze, die mich schon in Halle und anderswo um soviel Vergnügen gebracht hatten. Damals, o Plato, schwor ich dir ab!
Diese Erinnerungen trieben mich fort von der Oderbrücke. Ich ging nach Hause und legte mich schlafen. Der Gedanke: „Plato oder nicht Plato“ beschäftigte mich bis zur Abfahrt. Zwei Freunde geleiteten mich bis zum „Schwarzen Bären“. Dort tranken wir zum letztenmal eine Schale schlesischen Kaffee miteinander, sie segneten mich, und ich fuhr gegen Babylon. Zuerst gegen Leipzig. Ich sah mich nicht mehr um, da ich mich vor dem Abschied fürchtete, und fuhr ohne Gedanken durch das mädchenfreundliche Liegnitz, ohne Gedanken bis nach Dresden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier