Die Pfaffen zu Breslau.

Die Pfaffen gestatten zu Breslau kein legitimes Heidentum. Darum nimmt sich alles, was ein gefühlvolles Herz hat, des verpönten Götterdienstes an, und Bacchanalien und Orgien aller Art erfüllen Breslaus Straßen und Nächte. Ein moralischer Protestantismus und gefälliger Katholizismus halten einander hier die Waage. Der letztere wiegt noch etwas schwerer. So ist Breslau eine der liberalsten Städte geworden. Sein Umgang ist groß, seine Häuser sind hoch, es gibt verborgene, weitab gelegene Straßen. Es ist noch viel Romantik in den Mädchen aller Stände. Alle dunklen Haustüren und Hausflure sind des Abends belebt. Die Jünglinge suchen Abenteuer, die Mädchen erwarten sie. Es werden plötzliche Bekanntschaften gemacht wie in der buntesten Ritterzeit. Man fragt nach keinem Namen, es ist noch Straßenpoesie in Breslau. Die Geliebte wohnt draußen, jenseits der Oder, hinter der „Elftausend-Jungfrauen-Kirche“, der Geliebte schläft diesseits hinter den „Barmherzigen Brüdern“. Des Abends reisen sie einander entgegen bis in den breiten Schatten des Jesuitenkollegiums, wo Tag und Nacht die sieben freien Künste und unfreien Wissenschaften gelehrt werden, was heutzutage Universität heißt. Sie wissen nichts voneinander, als daß sie sich sehr lieben. Und wenn die Liebe aufhört, so kommt einige Tage nur eines von beiden in den Schatten der Universität, und dann verschwindet es auch und ein neues Paar erscheint. Das ist der Lauf der Welt. Haben sie sich aber nur zwei Abende verfehlt, so hat das Schicksal sie getrennt und sie suchen sich eine Zeitlang umsonst in dem weiten Breslau und finden sich vielleicht zufällig nach einem Jahre wieder. Dann erkennen sie sich nicht mehr oder beginnen als Fremde eine neue Liebschaft.

Das ist Breslauer Straßenpoesie. Es werden unglaublich viel Verse in Breslau gemacht. Nur läßt man die besten nicht drucken. Damit kein Unglück geschehe, hat man einen schlesischen Musenalmanach als Abzugskanal gestiftet. Jeder brave Schlesier kann hier für ein Billiges seine Verse loswerden, und Dichtervereine und Künstlergesellschaften sind ein stehender Artikel in Breslau. Es wird gereimt, gedichtet, verdünnt, rezensiert, geraucht und geschnupft, als müßte die Welt damit versorgt werden. Namentlich blühen die Scharaden und erfreuen sich enthusiastischer Teilnahme. Der Mond hat großen Anhang. Er scheint aber auch sehr schön in Breslau zwischen die himmelhohen Häuser hinein, auf die breiten Wasserspiegel und die verschwiegenen Gebüsche um die Stadt herum.


Wilhelm Wackernagel versicherte mir immer, der Breslauer Mond sei von ganz besonderer Qualität. Nicht so abgenutzt wie an anderen Orten. Wenn ich zu ihm kam, das heißt zu Wackernagel, so schrieb er auch immer Gedichte an den Mond, und ihre Überschrift war immer: „Es spricht der Mond!“ Nur in Breslau weiß man, wie der Mond sich äußert. Dabei saß Wackernagel immer in einem langen preußischen Freiwilligenmantel auf dem Sofa. Die langen blonden Haare hingen ihm mittelalterlich um Kopf und Gesicht, er sah aus wie ein Schüler Ofterdingens, der nur des Mondes wegen von Berlin nach Breslau gekommen war. In seinen großen, deutschen, harmlosen Zügen, in dem klaren, blauen Seherauge lagen alle die schönen Dichterworte, die er noch singen und schreiben wollte. Wackernagel ist einer von denen, die mit brünstiger Liebe und gesundem Kopfe die alte deutsche Poesie studiert und durchgesungen haben. Er ist eine Autorität im Altdeutschen. Auf einer Kegelbahn hat er das Nibelungenlied und den „Percival“ und den „Titurel“ bis in die innersten Falten gelesen. Auf einer Kegelbahn in Berlin hat er sich in Ermanglung einer anderen Wohnung häuslich einrichten müssen. Dort hat er, in seinen Freiwilligenmantel und seine langen Haare gehüllt, Tag und Nacht gesessen, studiert und gedichtet trotz Hunger und Kälte. Ich habe auch in Breslau nie Geld bei ihm gesehen, und doch war er immer glücklich, das heißt poetisch. Er litt nur zuweilen an Vollblütigkeit, doch schrieb er mir immer die heitersten, vornehmsten Billetts auf spiegelglattem Papier mit sauberen römischen Buchstaben, nahm Holteis Liederspiele gegen mich in Schutz und träumte von einem griechischen Lustspiele, das er demnächst in deutscher Sprache schreiben wollte. Der liebe Wackernagel! Ich war damals ein dummer Mensch, der nicht glauben wollte, daß Goethes „Tasso“ mehr wert sei als Schillers „Braut von Messina“. Ich hatte mich deshalb ein Vierteljahr lang in den Breslauer Zeitungen auf Tod und Leben mit ihm herumgeschlagen. Da erweichte er eines Tages mein grausames Herz durch eine schöne, innige Ghasele, und ich ging, ihm meinen ersten Besuch zu machen. Er wohnte bei dem berühmten Chemiker Runge und aß alle Tage Schöpsenfleisch mit ihm. Runge aß einige Monate lang nichts als Schöpsenfleisch, um zu sehen, was dabei aus ihm würde. Wackernagel litt geduldig mit als Opfer der Experimentalchemie, aß mit Runge Schöpsenfleisch und ließ den Mond sprechen.

Seit der Zeit denke ich bei Schöpsenfleisch immer an Runge, der stets gesund war, wie ein geistreicher Quäker aussah und aus einem kleinen Stummel heftig Tabak rauchte, wenn er nicht Schöpsenfleisch genoß. An Wackernagel aber denke ich, wenn mir der Breslauer Mond einfällt, der nach so schönen Liedern aussah, als ich den letzten Abend durch die Breslauer Gassen schlüpfte. Auch damals fielen mir lauter süße Wackernagelsche Verse ein, und ich stand still am trauten Turme, in dessen Nähe er gewohnt hatte, und dichtete im Mondschein ein weiches Abschiedslied. Leider habe ich es vergessen. Es war aber sehr schön.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier