Abschnitt. 3

Wie ein Fluch folgte ihm noch etwas: das Komische. Der rechte Despot verbirgt sich in erhabener Ruhe hinter seinem Wesir, er ist ein apathischer Gott. Oder um vom Morgenlande abzugehen: Philipp der Zweite hat an seinem briefebelasteten Schreibtisch in der Einsamkeit des Eskorials*) gezeigt, wie sich ein Despot in Europa ausnehmen muß. So konnte und durfte nun zwar Napoleon nicht sein, aber dafür geriet er in das Hantieren, Renommieren, sich Spreizen, in eine Schauspielerei der Größe hinein. So verhielt es sich wenigstens, als er Norddeutschland niedergeworfen hatte und der luxurierende (Allzu üppig wachsende) Geist bereits an seinen Einbildungen krankte. Damals war er nur noch unverfälscht groß in seinen Schlachten, in allem übrigen wirklich Jupiter Scapin**), wie ihn der Erzbischof von Mecheln genannt hat. Napoleon hat sich über dieses Witzwort erzürnt, es trifft aber, denn alle seine Einrichtungen, die großen Kraft- und Schlagworte riefen in dem Volke immer sogleich Spitznamen, heimliche Travestien (wörtliche Umkleidungen; gemeint sind possenhafte Veränderungen oder Nachahmungen ernsthaft gemeinter Dichterwerke) auf. Da war kein Pfahlbürger, der einen Trunk über den Durst getan hatte, den seine Kollegen nicht damit schroben, daß er sich „mit Ruhm bedeckt habe“.
Kein Poltron lief davon, ohne über „die retrograde (rückwärtige Bewegung, schönfärberische Bezeichnung für Flucht) Bewegung“ verhöhnt zu werden. Es ist aber nicht wahr, daß das Volk „alles Erhabene in eine Posse verwandeln müsse, weil es sonst dasselbe nicht zu ertragen vermöge“ (Goethe). Einen Schwank treibt zwar das Volk gern mit jeglichem Großen, aber es persifliert (mit Ironie schmeicheln oder spitzig-witzig verhöhnen) es nicht. Es persifliert nur das Gemachte. Wie selten waren Spöttereien auf Friedrich den Zweiten!
Der Geist des Empire***) war in merkwürdiger Weise ideen- und erfindungslos. Nicht einmal ein echt-heraldisches Wappen konnte er produzieren. Der Adler sah immer nach nichts aus, auch über den „Kuckuck,“ wie er genannt wurde, lachte man. Das Komische ist aber der furchtbarste Feind des Furchtbaren; es zerreibt es heimlich. Denn der Mensch fühlt sich souverän, wenn er lacht.
Dieses Mischchaos von Größe und Kleinheit, von Schreck und Posse regte ein Chaos in den Geistern der Menschen auf. Zuerst gab es ihnen Energie. Denn unter allem Lächerlichen, und gleichsam nur mit einem grillenhaften Redoutenputze behangen, trat doch ein Übermenschlich-Menschliches vor ihren Blick. Um vor diesem Koloß nicht zu verdunsten, mußte ein Jeder sein bißchen Mut, sein Restchen Eigenes zusammennehmen. Die Seelen der geringsten Philister glichen der kondensierten Luft in der Kugel der Windbüchse (In der Windbüchse ist die treibende Kraft zusammengepreßte Luft, die in einen abschraubbaren Kolben eingepumpt wird), bereit, loszuplatzen, wenn einmal die Klappe vor der Öffnung wiche.
Aber jenes Übermenschlich-Menschliche wirkte nur wie eine gewaltsame Naturerscheinung, außer der Regel, konfus, zu kurzer Dauer vorbestimmt. Niemand knüpfte an dieses Phänomen sittliche Aussichten, Hoffnungen einer durchgreifenden sozialen Gestaltung. Wenn ich sage: Niemand, so nehme ich einige aus – besonders Juden, Lieferanten, Stellenjäger, Aristokraten, Fürsten – der große Kern des Volkes blieb aber von jenem Wahnglauben völlig unberührt. Sehr früh war man überzeugt, daß dieses Gerassel und Geprassel nicht lange die Welt durchlärmen könne, daß die Oper der Gloire****) einmal kurz vor Mitternacht ausgesungen sein werde. Ich hörte schon im Jahre 1810, folglich als das Reich auf dem Kulminationspunkte (vom lat. culmen, höchster Punkt, Scheitel, First) stand, einen ernsten Mann sagen: Napoleons Herrschaft sei schlimm, noch schlimmer aber werde die Flut der schlechten Verse und Karikaturen sein, wenn Napoleons Sturz erfolge.
Die Jugend wurde von dem Gewühle disparater Vorstellungen, welche die moderne Völkerwanderung aufstörte, noch inniger ergriffen als das Alter. Sie war noch nicht durch Reflexion und Erfahrung abgebraucht. Sie hatte das frühere Leben nicht gekannt, sie empfing daher von dem Kriegs- und Weltsturm reine, für ihre ganze Zukunft bestimmende Eindrücke. Das Leben in einer seiner ungeheuersten Entfaltungen half die damalige deutsche Jugend mit erziehen. So war keine frühere, so ist die spätere Generation nicht erzogen worden.



*) Bei Eskorial, einem Flecken in der spanischen Provinz Madrid, befindet sich ein von Philipp dem Zweiten erbauter berühmter Palast, die Herbstresidenz der spanischen Könige. Philipp II., Sohn Kaiser Karls des Fünften, lebte von 1527-1598; sein Charakter ist uns jetzt am besten bekannt aus Schillers „Don Carlos“, Goethes „Egmont“ und Schillers „Geschichte des Abfalls der Niederlande“.
**) Scapino oder Scapin ist in den italienischen und französischen Komödien der verschmitzte Bediente.
***)Kaiserreich; man meint damit besonders die Glanzzeit Napoleons und dann den Bau- und Kunstgewerbestil, der damals herrschte; es war ein klassizistischer, an griechische und römische Vorbilder sich anlehnender. Auf ihn folgte ein neugotischer und andernorts der Biedermeierstil.
****) Ruhm; man braucht das franz. Wort, um den prahlerischen, theaterhaften Ruhm zu bezeichnen, für den die Franzosen gern die größten Opfer brachten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons