Abschnitt. 4

Abscheuliche Exekutionen traten vor das junge Auge. Ich war dreizehn Jahre alt, als ich eines Morgens von der Zitadelle herauf durch unsere Klosterstraße nach ödem Blachfeld vor dem Tore zwei blasse Männer führen sah. Es war ein junger und ein alter, sie waren mit den Händen aneinander gefesselt und der junge redete dem alten zu, der sehr niedergeschlagen aussah. Gendarmen ritten vor und nach, und ein Kommando Infanterie folgte. Ich hörte, daß es ein Vater und ein Sohn sei und daß sie erschossen würden, weil sie bei Kattes Korps*) gedient hätten.
Einige Wochen später hörten wir feuern; es war Schill**), der sich bei Dodendorf mit den Westfalen***) schlug. Ich machte mich, als diese Sache wieder still geworden war, an einen Holzhacker, einen finsteren, bärtigen Kerl, von dem es heimlich bekannt war, daß er unter dem Parteigänger gedient hatte. Er erzählte mir in den Pausen, wo er vom Hacken ausruhte, flüsternd, wie er nach dem Stralsunder Blutbade drei Tage und drei Nächte in einem elenden Kahne auf der See geschwommen habe und endlich von Fischern nach der Insel Usedom gerettet worden sei. Daß Schill geblieben sei, galt für eine französische Fabel; er lebe, hieß es, und werde zu gelegener Zeit schon wieder zum Vorschein kommen. Das Volk läßt seine Lieblinge nicht sterben. Es hieß seinen Helden Schild, in dieser Umgestaltung des Namens unabsichtlich sein Gefühl aussprechend.
Dann ging Braunschweig-Oels****) in geordneterem, achtunggebietenderem Zuge durch Niederdeutschland. Wir waren noch Knaben, aber ich kann sagen, daß wir die gewaltige Situation fühlten, als wir vernahmen, der Welfe habe streifend seine Stadt besucht, aber nicht auf dem Schlosse geschlafen, sondern draußen unter dem Sternenhimmel in der Beiwacht.
Wie ein ferner, sterbender Ton klang es aus den Tiroler Alpen nach unseren Flächen herunter. (Aus dem tiefen Eindruck, den die Erhebung der Tiroler im Jahre 1809 auf den Knaben machte, ist 1826 Immermanns Trauerspiel „Andreas Hofer, der Sandwirt von Passeyer“ entstanden.)
In phantastischer Energie des Hasses entlud sich die verletzte Empfindung der Jugend. Wir wußten nichts von Stabs, wir wußten noch weniger von Georges Cadoudal und Pichegru*****), aber es war unter den jungen Leuten ein gemeines Gespräch, wie man es wohl anfangen könne, Napoleon zu erschießen oder zu erstechen. Daß es Sünde sei, einen Menschen zu töten, kam hierbei nicht in Erwägung; nur daß es den Kopf kosten werde, machte die Sache bedenklich.
Man wird zugeben, daß eine Jugend, die in ihren Gedanken mit Mord und Tod spielt, eine eigenartige Jugend gewesen sein müsse. Alle Gegensätze zogen wie die unter dem Machtherrscher zusammengekoppelten Völker durch die unreifen Gemüter. Der gröbste Materialismus, der durch die Not der Zeit aufgezwungene Glaubenssatz, daß es vor allen Dingen darauf ankomme, Unterhalt und Brot zu finden, stand neben den wildesten Träumen von goldenen glänzenden Abenteuern tief in Asien oder fern bei Lissabon, worin eine maßlos an das Unmögliche verlorene Einbildung schwelgte. Drastisch zum Gefühle ihrer Wichtigkeit aufgeregt wurde die Jugend an einigen Orten durch Fichte und Jahn und durch die, welche von den Gedanken dieser Männer einen Anstoß empfangen hatten.
Die damalige Jugend lebte mehr in starken Vorstellungen als in umfassenden, mehr in Gefühl und Entschluß als in Verstand und Betrachtung. Ihren Durchschnittszustand möchte ich eine edle Barbarei nennen. In dieser Verfassung traf sie der Krieg.



*) Friedrich Karl v. Katte, 1772 im Magdeburgischen geboren, war 1808 und 1809 sehr tätig, in Norddeutschland einen Aufstand zu erregen, und nahe daran, Magdeburg durch Einverständnis und Überrumplung zu nehmen. Später schloß er sich an den gleich zu erwähnenden Herzog von Braunschweig an, 1813 trat er in die reguläre preußische Armee.
**) Ferdinand v. Schill (1776-1809) führte schon 1807 ein Freikorps; 1808 wurde er Kommandeur eines preußischen Husarenregiments; im April und Mai 1809 versuchte er mit seinem Regiment in das Königreich Westfalen einzubrechen. Er eroberte Halle, mußte sich aber bis Stralsund zurückziehen, wo er im Straßenkampfe fiel.
***) Also mit den Truppen des Königs Jerome. Dodendorf liegt bei Magdeburg, und dies lag an der preußischen Grenze des damaligen Westfalens.
****) Der jüngste Sohn und Erbe des bereits erwähnten Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand, jedoch seines Erbes verlustig, da Napoleon es zum Königreich Westfalen geschlagen hatte. Dieser Friedrich Wilhelm von Braunschweig-Oels (1771-1815) errichtete 1809 ein Freikorps, das schwarz uniformiert war, drang zuerst in Sachsen ein und zog bis zum 7. August siegreich über Leipzig, Halle, Halberstadt, Braunschweig, Hannover bis zur Nordsee, fuhr nach England über und kämpfte nun in englischen Diensten gegen Napoleon. Auch er trat 1813 in preußischen Dienst, 1815 fiel er bei Quatrebras.
*****) General Pichegru verband sich 1803 mit Cadoudal, der schon 1800 an einer „Höllenmaschine“ beteiligt gewesen war, zur Ermordung Napoleons. Manche andere planten und versuchten solche Attentate; nicht wenige von ihnen wurden hingerichtet.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons