Die Grenze, die Zollrevision
Der Zug hielt in Granica, der Grenzstation. Die Pässe sollten nachgesehen und das Gepäck untersucht werden. Ein blonder, russischer Polizeisoldat in seiner kleidsamen Tracht, langem grauen Rock, Uniformmütze ohne Schirm, zur Seite den Säbel, trat ein, erbat sich die Pässe der Reisenden und entfernte sich damit.
Nun erhielt man Erlaubnis und Befehl auszusteigen. Als ein Reisender meinte, man könne Decken, "Überröcke und Ähnliches im Wagen liegen lassen, da man doch in einer Stunde wieder einsteigen würde unterrichtete ihn der kleine Pole über seinen Irrtum: „Alles muss mit herausgenommen werden; schon ein vergessener Regenschirm erregt Verdacht, und liegt ein Überzieher hier, so wird das Futter untersucht."
Das erste, was man in meiner Reisetasche fand, waren die zwei Nummern der Nouvelle Revue, worin ich im Wagen gelesen hatte.
„Was ist das?" sagte der oberste der uniformierten Zollbeamten auf deutsch.
„Was das ist!" antwortete ich, „das ist Nouvelle Revue."
„Ja, was ist das?" — „Eine französische Zeitschrift." — „Was steht darin?" — „Verstehen Sie Französisch?" frug ich. — „Nein." — „Ist hier jemand, der Französisch versteht?" — „Nein." — „Es steht allerlei darin; es sind zwei Nummern; jede enthält zehn Artikel. Es ist unmöglich mit ein paar Worten zu sagen, was darin steht.“ — „So nehmen wir sie; sie wird zur Zensur nach Warschau geschickt." — „Ist diese Zeitschrift verboten?" — „Alles, was ich nicht kenne, ist verboten, und ich kenne dieses Buch nicht." — Er begann in den Heften zu blättern, besah sie von vorn und hinten und schien nach Papieren zwischen den Seiten der unaufgeschnittenen Bogen zu suchen. Man erhielt den Eindruck, wie von den alten Lithographien, die einen großen Affen vorstellen, der den Mantelsack des Reisenden plündert und in seinen Büchern blättert.
„Haben Sie mehr von der Art?" — „Ja, mein Koffer ist halb mit Büchern gefällt." — Man wollte ihn öffnen, als ich gleichzeitig von einem Zollbediensteten den Ausruf: Revolver! hörte, den ich verstand, da er international ist. Man hatte in meiner Rreisetasche eine Pistole gefunden. Sie machte die Runde unter den Herren und wurde besehen. — Ob sie geladen sei? — Ja, mit sechs Kugeln. — Ob ich so gut sein wolle, die Kugeln herauszunehmen? — Ich lehnte auf das entschiedenste ab, so gut sein zu wollen. — „So müssen wir." Man nahm nun die Kugeln heraus und fand später auf dem Boden meines Koffers eine kleine Kugelschachtel, die zur Pistole gelegt ward.
Nun begann die eigentliche Untersuchung. Jedes Buch, jede Broschüre, wurde hervorgesucht und zur Seite gelegt; jede Zeitung, selbst die Zeitungen, die um meine Schuhe gewickelt waren, wurden herausgenommen, geglättet, zu Haufen gelegt. Man frag, in welcher Sprache die Bücher waren und was darin stand. Da meine Erklärung nicht genügend befunden wurde, nahm man sie mir alle und überreichte mir eine
Quittung für 15 Pfund Literatur. Gleichzeitig forderte man von mir drei Kübel für die Übersendung dieser Literatur nach Warschau. Ich hätte gern zu bestechen versucht, wenn mir nicht Polen früher gesagt hätte, dass man vor allen Dingen vermeiden müsse, an unrechter Stelle Bestechung zu versuchen. Ich konnte riskieren, dass man den Versuch als Beweis schlechter Absichten nahm. Vergebens betonte ich, dass ich in Warschau die Bücher, die man mir nahm, zu meiner Arbeit brauche. Vergebens machte ich die Betrachtung geltend, dass man mir doch wenigstens die dänischen Bücher und Zeitungen überlassen könne, da sich mit ihnen doch kein Schaden in Polen anrichten lasse, wo niemand Dänisch verstand. „In der Zensur versteht man alle Sprachen," war die Antwort. — „Ich nehme an, dass es wahr ist, obgleich ich meine Zweifel hege; aber den Zensor der Regierung, der russisch ist, kann ich ja nicht verführen, und die übrigen verstehen nicht die Sprache, also?' — „Das ist von Ihrem Gesichtspunkte aus richtig," lautete die Antwort, und man behielt aus dem eigenen Gesichtspunkte die Bücher. Im Haufen lag das dänisch-französische Lexikon von Sundby und Baruel; ich zeigte, dass es ein Diktionär war, dass die Worte in Kolonnen standen. Man zerbrach sich den Kopf darüber und schien zu überlegen. Endlich überreichte man mir nach reiflicher Überlegung den ersten Teil, die Buchstaben A — L, legte jedoch mit ernsten Mienen den Teil M — zur Literatur zurück, welche die Zensur prüfen sollte.
„Wann und wie kann ich nun all dies wieder bekommen?" — „Was die Bücher betrifft, so wenden Sie sich an die Zensur, Sie haben ja Ihre Quittung. Für die Pistole erhalten Sie keine Quittung. Aber reichen Sie — auf einem ganzen Bogen Papier — ein Gesuch an den Generalgouverneur ein, um die Erlaubnis sie besitzen zu dürfen, dann gibt er, falls er will, dem Zollbureau in Warschau den Befehl, sie an Sie auszuliefern, wenn Sie sich dorthin wenden."*)
So erhielt man sofort von der Grenze an das Gefühl, dass man sich von jetzt an außerhalb des Bereichs der eigentlichen europäischen Zivilisation befand.
Schon in einer so geringen Sache, wie der Zollaufsicht, verspürte man die zwei Hauptkennzeichen bei der Masse russischer Vorsichtsmaßregeln: das Drückende und das Inkonsequente. Hätte ich das Verbot, eine Pistole in der Reisetasche zu tragen, gekannt, so hätte ich sie nur in der Tasche zu tragen brauchen, denn die Taschen werden nicht untersucht. Hätte ich gewusst, dass es verboten sei, fremde Bücher mit sich zu führen, so hätte ich sie nur von Wien an einen Buchhändler in Warschau zu senden brauchen, und sie wären ohne Aufenthalt in meine Hände gelangt.
*) Er gab während meines Aufenthalts in Warschau, trotz Gesuches, nicht diesen Befehl. Als ein Freund von mir nach meiner Rückkehr nach Kopenhagen sich in meinem Namen an die Kanzlei des Generalgouverneurs wandte, mit dem Ersuchen um Auslieferung oder Zusendung jener am Vergießen von Menschenblut unschuldigen Waffe, erhielt er folgende Antwort: Er müsse 1. sich von mir eine von dem russischen Konsulat in Kopenhagen bekräftigte Vollmacht verschaffen, 2. eine Bittschrift dem Generalgouverneur einliefern, um Erlaubnis bitten, den genannten Revolver über die Grenze des Weichsellandes zu senden, 3. nach erlangter Erlaubnis das Zollwesen in Granica auffordern, die Pistole zur Hauptzollstelle nach Warschau zu senden, 4. diese per Post nach Kopenhagen schicken und in der Kanzlei des Generalgouverneurs die Beweise abgeben, dass diese Sendung wirklich stattgefunden habe.
Die Regierungsbefehle sind nicht streng genug, und doch so streng, dass die untergeordneten Behörden aus Furcht vor Entlassung gezwungen werden, ihren Auftrag so brutal, wie unverständig auszufuhren. Die Ungereimtheiten, die mir an der Grenze begegneten, treffen stets den Fremden, zuweilen sogar den Eingeborenen. An der preußisch-russischen Grenze beraubte man vor einigen Jahren einen meiner Freunde, der sich zum medizinischen Examen in Warschau zu der Zeit vorbereitet hatte, als die Universität noch polnisch war, der sich aber, nachdem sie russisch geworden war, dem Examen unterwerfen musste, einer russisch geschriebenen russischen Grammatik, die er bei sich hatte, bloß weil der Zollbeamte das Buch nicht kannte.
Die russische Herrschaft ist nicht wie die preußische klug und einförmig; sie ist ungleichartig, widersinnig und häufig in ungeschickte Hände gelegt. Der Druck, der auf russisch Polen ruht, ist so stark, dass er nicht einen Monat ertragen werden könnte, wenn nicht ein großer Teil der Maßregeln planlos und sinnlos, andere zu kleinlich, um ausgeführt, andere durch Bestechung leicht abwehrbar, weitere so wenig scharfsinnigen Organen anvertraut, dass die Wirkung verscherzt wird, und wieder andere so verständigen und gebildeten Männern überlassen wären, dass sie nicht zur Anwendung kommen.
Ich war einer Einladung gefolgt, drei französische Vorträge im Rathause zu Warschau zu halten. Rücksichtlich dieser Vorträge hatte ich im voraus viele Schwierigkeiten. Sie mussten so früh fertig gestellt sein, dass sie handschriftlich einen Monat vor meiner Ankunft in Warschau vorliegen konnten, da sie einer doppelten Zensur unterworfen werden sollten, der gewöhnlichen und der besonderen für öffentliche Vorlesungen. Da es nun sicher war, dass sie auf unbestimmte Zeit an der Grenze festgehalten würden, falls man sie ohne weiteres mit der Post sandte, ward es notwendig, ein zuverlässigeres Beförderungsmittel zu finden. Durch Gefälligkeit einer Gesandtschaft gelang es, sie über Petersburg zu schicken. So kamen sie ohne weitere Verzögerung, als die durch den Umweg verursachte, an. Man machte zwei Abschriften und sandte sie den verschiedenen Zensuren ein, aber nachdem sie auf Französisch in zwei Instanzen durchgelesen worden waren, entstand ein paar Tage vor meiner Ankunft in Warschau das Hindernis, dass der bekannte Kurator des Unterrichtswesens, Herr Apuchtin, — derselbe, dem ein Jahr zuvor ein Student eine Ohrfeige gab, deren Wiederhall Bewegung und Tumult in der ganzen Stadt verursachte — im letzten Augenblicke alle drei Vorlesungen noch einmal in russischer Übersetzung verlangte. Sowohl diese, als auch die Durchsicht nahm natürlicherweise Zeit in Anspruch. Jedoch wurde zur Verwunderung verschiedener, keine Zeile gestrichen, obgleich die Vorträge nicht wenig enthielten, was, wie sich zeigte, die Zuhörer in Aufregung versetzte. Man sagte mir außerdem, dass die Zensurstrenge zuweilen durch die Nachlässigkeit oder Ritterlichkeit der Aufsicht neutralisiert werde; es scheint, als ob der im Saale anwesende Zensor nicht immer so genau darauf achtet, ob das, was gesagt wird, auch wirklich dasselbe ist, was der Betreffende in seinem Manuskript eingeliefert hat.
Es zeigt sich hier, wie in unzähligen anderen Fällen in Russland, dass ein Gebot oder Verbot, um unbedingt wirksam zu sein, noch ein ganzes System andrer Vorkehrungen erfordert. So besonders, wenn das Verbot, etwas drucken zu lassen, einen praktischen Zweck hat: Im Januar starb in Warschau der bekannte alte Dichter Odyniec, der getreue Freund und Jugendreisegefährte Mickiewicz's, eine politisch neutrale, eher konservative Persönlichkeit; aber da sein Name mit den Erinnerungen des Aufruhrs von 1830 und mit Polens literarischer Glanzzeit so nahe verknüpft war, da er außerdem ein so naher Freund Mickiewicz's, des berühmtesten Feindes der russischen Herrschaft gewesen, so bestrebte man sich durch die Zensur, Demonstrationen bei seiner Beerdigung zu verhindern. Mithin wurde verboten, die Zeit seines Begräbnisses bekannt zu machen, sowohl in den Zeitungen, als auch auf den gewöhnlich an den Straßen und vor den Kirchen angeschlagenen Plakaten, die hierüber Mitteilungen bringen. Das Verbot wurde natürlich befolgt, aber trotzdem begleitete ein Leichengefolge von 50.000 Menschen Odyniec zum Grabe.
In solcher Ausübung erhalten Verbot und Zensur nur den Charakter unwirksamer Schikane. Sehr häufig auch der polnischen Presse gegenüber. Es geschieht oft, dass ein Artikel an einem bestimmten Tage von der Zensur verboten, aber einige Tage später dem Verfasser zur freien Benutzung zugestellt wird. Damit wird nur erreicht, dass die missliebigen Zeitungen nun später als die anderen rivalisierenden Zeitungen in Besprechung der Tagesereignisse kommen. Öfters geschieht es auch, dass ein Artikel bei einer Zeitung von dem Zensor verboten, jedoch von dem Zensor bei einer andern angenommen wird.
Den gleichen Charakter des zu keinem Nutzen Beschwerlichen, wie diese Form der Zensur, trägt das Passwesen. Ohne einen von dem russischen Konsulat in seiner Heimat bescheinigten Pass kommt der Reisende in Russland überhaupt nicht über die Grenze. Er wird, wie schon erwähnt, in dem Eisenbahnwagen abverlangt, wird in einem besonderen Baum in der Zeit geprüft, wo die Zolluntersuchung stattfindet, und man ist so besorgt, dass der Reisende ihn dem einen oder dem andern Sünder überlasse, dass er seinen Pass erst nach dem Einsteigen in den Zug zurückerhält, unmittelbar vor dem letzten Glockenläuten. Ein Polizeisoldat bringt die Pässe in einer hierzu eingerichteten Mappe mit alphabetisch eingeteilten Rubriken. Kaum ist man an seinem Bestimmungsort angekommen, so wird einem der Pass aufs neue abgefordert; er wird auf das Polizeibureau gebracht, dort während des ganzen Aufenthalts des Reisenden in der Stadt zurückbehalten, und man ergänzt die Aufklärungen, die er gibt, indem man durch die Hausdienerschaft den Fremden ausfragen lässt nach dem vollen Namen seiner Eltern, ob er verheiratet oder ledig sei, — der Unverheiratete wird für gefährlich angesehen — und über viele andere Dinge. Und dieser Pass, den man wiederum erst am Tage der Abreise ausgeliefert bekommt, wird wieder an der Grenzstation, die man bei der Rückreise passiert, eine Stunde lang geprüft.
Gleichwohl hat auch diese Wachsamkeit ein Loch, wodurch ihre Resultate ganz verloren gehen. Es wird nämlich gar kein Versuch gemacht, zu verifizieren, ob die in dem Passe genannte Person auch dieselbe ist, die ihn abgeliefert hat. Man hat selbstverständlich kein Mittel, zu erfahren, ob der Name der rechte ist; da die Pässe aber en bloc in einem Raume, wo die Reisenden sich nicht aufhalten, geprüft werden, untersucht man nicht einmal ob die Signalemente stimmen. Da es nun zu jeder Zeit ein leichtes ist, sich in Deutschland, Osterreich, England oder Frankreich einen Pass zu verschaffen, selbst zu Hause zu bleiben und einen Freund damit reisen zu lassen, entspricht auch hier der Gewinn nicht der Mühe und Beschwerlichkeit — nicht davon zu reden, dass täglich Hunderte, die keinen Pass besitzen, zu Fuß von Männern über die Grenze geführt werden, die man jedem bezeichnet, der sie braucht.
Ich hatte reichlich Gelegenheit, über diesen Stoff nachzudenken, während ich in langweiligem Warten zwischen Tee und Grog trinkenden Müßiggängern in dem schmutzigen Wartesaal zu Granica auf und ab ging, von Zudringlichen geplagt, die mir absolut mein österreichisches Geld in Rubel wechseln wollten, von andern Aufdringlichen getröstet, die mir erklären wollten, dass die Beamten mir gegenüber in ihrem vollen Recht gewesen waren; wenn meine Bücher auch dänische seien, gäbe dies keine Sicherheit ab. Wer könnte dafür einstehen, dass sie nicht „Berichte über den sozialistischen Kongress in Kopenhagen" enthielten!
Endlich erhielt ich das in meinem Koffer übrig Gebliebene zur freien Verfügung ausgeliefert, und ohne weiteres Konfiszierbares, als was ich im Kopfe hatte, kam ich nächsten Morgen in Warschau an.
Nun erhielt man Erlaubnis und Befehl auszusteigen. Als ein Reisender meinte, man könne Decken, "Überröcke und Ähnliches im Wagen liegen lassen, da man doch in einer Stunde wieder einsteigen würde unterrichtete ihn der kleine Pole über seinen Irrtum: „Alles muss mit herausgenommen werden; schon ein vergessener Regenschirm erregt Verdacht, und liegt ein Überzieher hier, so wird das Futter untersucht."
Das erste, was man in meiner Reisetasche fand, waren die zwei Nummern der Nouvelle Revue, worin ich im Wagen gelesen hatte.
„Was ist das?" sagte der oberste der uniformierten Zollbeamten auf deutsch.
„Was das ist!" antwortete ich, „das ist Nouvelle Revue."
„Ja, was ist das?" — „Eine französische Zeitschrift." — „Was steht darin?" — „Verstehen Sie Französisch?" frug ich. — „Nein." — „Ist hier jemand, der Französisch versteht?" — „Nein." — „Es steht allerlei darin; es sind zwei Nummern; jede enthält zehn Artikel. Es ist unmöglich mit ein paar Worten zu sagen, was darin steht.“ — „So nehmen wir sie; sie wird zur Zensur nach Warschau geschickt." — „Ist diese Zeitschrift verboten?" — „Alles, was ich nicht kenne, ist verboten, und ich kenne dieses Buch nicht." — Er begann in den Heften zu blättern, besah sie von vorn und hinten und schien nach Papieren zwischen den Seiten der unaufgeschnittenen Bogen zu suchen. Man erhielt den Eindruck, wie von den alten Lithographien, die einen großen Affen vorstellen, der den Mantelsack des Reisenden plündert und in seinen Büchern blättert.
„Haben Sie mehr von der Art?" — „Ja, mein Koffer ist halb mit Büchern gefällt." — Man wollte ihn öffnen, als ich gleichzeitig von einem Zollbediensteten den Ausruf: Revolver! hörte, den ich verstand, da er international ist. Man hatte in meiner Rreisetasche eine Pistole gefunden. Sie machte die Runde unter den Herren und wurde besehen. — Ob sie geladen sei? — Ja, mit sechs Kugeln. — Ob ich so gut sein wolle, die Kugeln herauszunehmen? — Ich lehnte auf das entschiedenste ab, so gut sein zu wollen. — „So müssen wir." Man nahm nun die Kugeln heraus und fand später auf dem Boden meines Koffers eine kleine Kugelschachtel, die zur Pistole gelegt ward.
Nun begann die eigentliche Untersuchung. Jedes Buch, jede Broschüre, wurde hervorgesucht und zur Seite gelegt; jede Zeitung, selbst die Zeitungen, die um meine Schuhe gewickelt waren, wurden herausgenommen, geglättet, zu Haufen gelegt. Man frag, in welcher Sprache die Bücher waren und was darin stand. Da meine Erklärung nicht genügend befunden wurde, nahm man sie mir alle und überreichte mir eine
Quittung für 15 Pfund Literatur. Gleichzeitig forderte man von mir drei Kübel für die Übersendung dieser Literatur nach Warschau. Ich hätte gern zu bestechen versucht, wenn mir nicht Polen früher gesagt hätte, dass man vor allen Dingen vermeiden müsse, an unrechter Stelle Bestechung zu versuchen. Ich konnte riskieren, dass man den Versuch als Beweis schlechter Absichten nahm. Vergebens betonte ich, dass ich in Warschau die Bücher, die man mir nahm, zu meiner Arbeit brauche. Vergebens machte ich die Betrachtung geltend, dass man mir doch wenigstens die dänischen Bücher und Zeitungen überlassen könne, da sich mit ihnen doch kein Schaden in Polen anrichten lasse, wo niemand Dänisch verstand. „In der Zensur versteht man alle Sprachen," war die Antwort. — „Ich nehme an, dass es wahr ist, obgleich ich meine Zweifel hege; aber den Zensor der Regierung, der russisch ist, kann ich ja nicht verführen, und die übrigen verstehen nicht die Sprache, also?' — „Das ist von Ihrem Gesichtspunkte aus richtig," lautete die Antwort, und man behielt aus dem eigenen Gesichtspunkte die Bücher. Im Haufen lag das dänisch-französische Lexikon von Sundby und Baruel; ich zeigte, dass es ein Diktionär war, dass die Worte in Kolonnen standen. Man zerbrach sich den Kopf darüber und schien zu überlegen. Endlich überreichte man mir nach reiflicher Überlegung den ersten Teil, die Buchstaben A — L, legte jedoch mit ernsten Mienen den Teil M — zur Literatur zurück, welche die Zensur prüfen sollte.
„Wann und wie kann ich nun all dies wieder bekommen?" — „Was die Bücher betrifft, so wenden Sie sich an die Zensur, Sie haben ja Ihre Quittung. Für die Pistole erhalten Sie keine Quittung. Aber reichen Sie — auf einem ganzen Bogen Papier — ein Gesuch an den Generalgouverneur ein, um die Erlaubnis sie besitzen zu dürfen, dann gibt er, falls er will, dem Zollbureau in Warschau den Befehl, sie an Sie auszuliefern, wenn Sie sich dorthin wenden."*)
So erhielt man sofort von der Grenze an das Gefühl, dass man sich von jetzt an außerhalb des Bereichs der eigentlichen europäischen Zivilisation befand.
Schon in einer so geringen Sache, wie der Zollaufsicht, verspürte man die zwei Hauptkennzeichen bei der Masse russischer Vorsichtsmaßregeln: das Drückende und das Inkonsequente. Hätte ich das Verbot, eine Pistole in der Reisetasche zu tragen, gekannt, so hätte ich sie nur in der Tasche zu tragen brauchen, denn die Taschen werden nicht untersucht. Hätte ich gewusst, dass es verboten sei, fremde Bücher mit sich zu führen, so hätte ich sie nur von Wien an einen Buchhändler in Warschau zu senden brauchen, und sie wären ohne Aufenthalt in meine Hände gelangt.
*) Er gab während meines Aufenthalts in Warschau, trotz Gesuches, nicht diesen Befehl. Als ein Freund von mir nach meiner Rückkehr nach Kopenhagen sich in meinem Namen an die Kanzlei des Generalgouverneurs wandte, mit dem Ersuchen um Auslieferung oder Zusendung jener am Vergießen von Menschenblut unschuldigen Waffe, erhielt er folgende Antwort: Er müsse 1. sich von mir eine von dem russischen Konsulat in Kopenhagen bekräftigte Vollmacht verschaffen, 2. eine Bittschrift dem Generalgouverneur einliefern, um Erlaubnis bitten, den genannten Revolver über die Grenze des Weichsellandes zu senden, 3. nach erlangter Erlaubnis das Zollwesen in Granica auffordern, die Pistole zur Hauptzollstelle nach Warschau zu senden, 4. diese per Post nach Kopenhagen schicken und in der Kanzlei des Generalgouverneurs die Beweise abgeben, dass diese Sendung wirklich stattgefunden habe.
Die Regierungsbefehle sind nicht streng genug, und doch so streng, dass die untergeordneten Behörden aus Furcht vor Entlassung gezwungen werden, ihren Auftrag so brutal, wie unverständig auszufuhren. Die Ungereimtheiten, die mir an der Grenze begegneten, treffen stets den Fremden, zuweilen sogar den Eingeborenen. An der preußisch-russischen Grenze beraubte man vor einigen Jahren einen meiner Freunde, der sich zum medizinischen Examen in Warschau zu der Zeit vorbereitet hatte, als die Universität noch polnisch war, der sich aber, nachdem sie russisch geworden war, dem Examen unterwerfen musste, einer russisch geschriebenen russischen Grammatik, die er bei sich hatte, bloß weil der Zollbeamte das Buch nicht kannte.
Die russische Herrschaft ist nicht wie die preußische klug und einförmig; sie ist ungleichartig, widersinnig und häufig in ungeschickte Hände gelegt. Der Druck, der auf russisch Polen ruht, ist so stark, dass er nicht einen Monat ertragen werden könnte, wenn nicht ein großer Teil der Maßregeln planlos und sinnlos, andere zu kleinlich, um ausgeführt, andere durch Bestechung leicht abwehrbar, weitere so wenig scharfsinnigen Organen anvertraut, dass die Wirkung verscherzt wird, und wieder andere so verständigen und gebildeten Männern überlassen wären, dass sie nicht zur Anwendung kommen.
Ich war einer Einladung gefolgt, drei französische Vorträge im Rathause zu Warschau zu halten. Rücksichtlich dieser Vorträge hatte ich im voraus viele Schwierigkeiten. Sie mussten so früh fertig gestellt sein, dass sie handschriftlich einen Monat vor meiner Ankunft in Warschau vorliegen konnten, da sie einer doppelten Zensur unterworfen werden sollten, der gewöhnlichen und der besonderen für öffentliche Vorlesungen. Da es nun sicher war, dass sie auf unbestimmte Zeit an der Grenze festgehalten würden, falls man sie ohne weiteres mit der Post sandte, ward es notwendig, ein zuverlässigeres Beförderungsmittel zu finden. Durch Gefälligkeit einer Gesandtschaft gelang es, sie über Petersburg zu schicken. So kamen sie ohne weitere Verzögerung, als die durch den Umweg verursachte, an. Man machte zwei Abschriften und sandte sie den verschiedenen Zensuren ein, aber nachdem sie auf Französisch in zwei Instanzen durchgelesen worden waren, entstand ein paar Tage vor meiner Ankunft in Warschau das Hindernis, dass der bekannte Kurator des Unterrichtswesens, Herr Apuchtin, — derselbe, dem ein Jahr zuvor ein Student eine Ohrfeige gab, deren Wiederhall Bewegung und Tumult in der ganzen Stadt verursachte — im letzten Augenblicke alle drei Vorlesungen noch einmal in russischer Übersetzung verlangte. Sowohl diese, als auch die Durchsicht nahm natürlicherweise Zeit in Anspruch. Jedoch wurde zur Verwunderung verschiedener, keine Zeile gestrichen, obgleich die Vorträge nicht wenig enthielten, was, wie sich zeigte, die Zuhörer in Aufregung versetzte. Man sagte mir außerdem, dass die Zensurstrenge zuweilen durch die Nachlässigkeit oder Ritterlichkeit der Aufsicht neutralisiert werde; es scheint, als ob der im Saale anwesende Zensor nicht immer so genau darauf achtet, ob das, was gesagt wird, auch wirklich dasselbe ist, was der Betreffende in seinem Manuskript eingeliefert hat.
Es zeigt sich hier, wie in unzähligen anderen Fällen in Russland, dass ein Gebot oder Verbot, um unbedingt wirksam zu sein, noch ein ganzes System andrer Vorkehrungen erfordert. So besonders, wenn das Verbot, etwas drucken zu lassen, einen praktischen Zweck hat: Im Januar starb in Warschau der bekannte alte Dichter Odyniec, der getreue Freund und Jugendreisegefährte Mickiewicz's, eine politisch neutrale, eher konservative Persönlichkeit; aber da sein Name mit den Erinnerungen des Aufruhrs von 1830 und mit Polens literarischer Glanzzeit so nahe verknüpft war, da er außerdem ein so naher Freund Mickiewicz's, des berühmtesten Feindes der russischen Herrschaft gewesen, so bestrebte man sich durch die Zensur, Demonstrationen bei seiner Beerdigung zu verhindern. Mithin wurde verboten, die Zeit seines Begräbnisses bekannt zu machen, sowohl in den Zeitungen, als auch auf den gewöhnlich an den Straßen und vor den Kirchen angeschlagenen Plakaten, die hierüber Mitteilungen bringen. Das Verbot wurde natürlich befolgt, aber trotzdem begleitete ein Leichengefolge von 50.000 Menschen Odyniec zum Grabe.
In solcher Ausübung erhalten Verbot und Zensur nur den Charakter unwirksamer Schikane. Sehr häufig auch der polnischen Presse gegenüber. Es geschieht oft, dass ein Artikel an einem bestimmten Tage von der Zensur verboten, aber einige Tage später dem Verfasser zur freien Benutzung zugestellt wird. Damit wird nur erreicht, dass die missliebigen Zeitungen nun später als die anderen rivalisierenden Zeitungen in Besprechung der Tagesereignisse kommen. Öfters geschieht es auch, dass ein Artikel bei einer Zeitung von dem Zensor verboten, jedoch von dem Zensor bei einer andern angenommen wird.
Den gleichen Charakter des zu keinem Nutzen Beschwerlichen, wie diese Form der Zensur, trägt das Passwesen. Ohne einen von dem russischen Konsulat in seiner Heimat bescheinigten Pass kommt der Reisende in Russland überhaupt nicht über die Grenze. Er wird, wie schon erwähnt, in dem Eisenbahnwagen abverlangt, wird in einem besonderen Baum in der Zeit geprüft, wo die Zolluntersuchung stattfindet, und man ist so besorgt, dass der Reisende ihn dem einen oder dem andern Sünder überlasse, dass er seinen Pass erst nach dem Einsteigen in den Zug zurückerhält, unmittelbar vor dem letzten Glockenläuten. Ein Polizeisoldat bringt die Pässe in einer hierzu eingerichteten Mappe mit alphabetisch eingeteilten Rubriken. Kaum ist man an seinem Bestimmungsort angekommen, so wird einem der Pass aufs neue abgefordert; er wird auf das Polizeibureau gebracht, dort während des ganzen Aufenthalts des Reisenden in der Stadt zurückbehalten, und man ergänzt die Aufklärungen, die er gibt, indem man durch die Hausdienerschaft den Fremden ausfragen lässt nach dem vollen Namen seiner Eltern, ob er verheiratet oder ledig sei, — der Unverheiratete wird für gefährlich angesehen — und über viele andere Dinge. Und dieser Pass, den man wiederum erst am Tage der Abreise ausgeliefert bekommt, wird wieder an der Grenzstation, die man bei der Rückreise passiert, eine Stunde lang geprüft.
Gleichwohl hat auch diese Wachsamkeit ein Loch, wodurch ihre Resultate ganz verloren gehen. Es wird nämlich gar kein Versuch gemacht, zu verifizieren, ob die in dem Passe genannte Person auch dieselbe ist, die ihn abgeliefert hat. Man hat selbstverständlich kein Mittel, zu erfahren, ob der Name der rechte ist; da die Pässe aber en bloc in einem Raume, wo die Reisenden sich nicht aufhalten, geprüft werden, untersucht man nicht einmal ob die Signalemente stimmen. Da es nun zu jeder Zeit ein leichtes ist, sich in Deutschland, Osterreich, England oder Frankreich einen Pass zu verschaffen, selbst zu Hause zu bleiben und einen Freund damit reisen zu lassen, entspricht auch hier der Gewinn nicht der Mühe und Beschwerlichkeit — nicht davon zu reden, dass täglich Hunderte, die keinen Pass besitzen, zu Fuß von Männern über die Grenze geführt werden, die man jedem bezeichnet, der sie braucht.
Ich hatte reichlich Gelegenheit, über diesen Stoff nachzudenken, während ich in langweiligem Warten zwischen Tee und Grog trinkenden Müßiggängern in dem schmutzigen Wartesaal zu Granica auf und ab ging, von Zudringlichen geplagt, die mir absolut mein österreichisches Geld in Rubel wechseln wollten, von andern Aufdringlichen getröstet, die mir erklären wollten, dass die Beamten mir gegenüber in ihrem vollen Recht gewesen waren; wenn meine Bücher auch dänische seien, gäbe dies keine Sicherheit ab. Wer könnte dafür einstehen, dass sie nicht „Berichte über den sozialistischen Kongress in Kopenhagen" enthielten!
Endlich erhielt ich das in meinem Koffer übrig Gebliebene zur freien Verfügung ausgeliefert, und ohne weiteres Konfiszierbares, als was ich im Kopfe hatte, kam ich nächsten Morgen in Warschau an.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Polen. Beobachtungen und Erwägungen. Erster Eindruck (1885)
Warschau 006 St. Johann-Kirche
Warschau 007 Freistehender Glockenturm der Marienkirche
Warschau 008 Augustiner-Kirche (St. Martin), Inneres
Warschau 009 Bernhardiner-Kirche, Inneres
Warschau 010 Kathedrale. Grabmal der Herzöge von Masovien Stanislaw und Janusz
Warschau 011 Kathedrale. Christus am Kreuz
Warschau 012 Kgl. Schloss mit Sigismundus-Säule
Warschau 013 Rathaus am Altmarkt (abgebrochen)
Warschau 014 Kathedrale. Grabmal des Kastellans Zaliwski
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