Das Tagebuch für Aline

Der Beweggrund - oder wenigstens die Gelegenheit - zu diesem endgültigen Bruch Paul Gauguins mit seiner Frau war - wie wir bereits erwähnt haben - der Tod seiner Tochter. Aline war sehr zart; sie hatte diesen perlmutterglänzenden und durchsichtigen Teint, dessen frische Farbe so trügerisch ist. Ihre blauen Augen, von langen, zuckenden Wimpern beschattet, ruhten auf Dingen und Menschen mit einem so reinen Ernst, einer so milden Güte und einer so ergebenen Entsagung, dass sie schon das frühzeitige Ende, das ihrer wartete, vorauszuahnen schien.

Betrachtet dieses liebenswerte Bild, dieses reine und anmutige Oval des Antlitzes, diese Haare, die man als weich und golden unter dem strengen Spitzentuch errat, das auch die schmalen, gebrechlichen, mädchenhaften Schultern einhüllt; diese Mitleid einflößende und etwas schmerzliche Falte um den Mund, und insbesondere diesen geheimnisvollen und tiefen Blick eines Wesens . . .


„das alles im voraus ahnte und niemals gelächelt hat“.

Erkennt man in diesem reizenden Antlitz nicht den sehnsüchtigen und träumerischen Ausdruck der „Wissenden“, dieser Kinder, die der Todesengel bereits mit seinem Flügel gestreift hat?

Gauguins Liebe zu seiner Tochter ist die stille, ruhevolle Episode, die erfrischende Oase in seinem gegen die sozialen Konventionen aufgewiegelten Dasein. Jeder Mensch, selbst der härteste, hat in seinem Herzen wenn man so sagen darf eine kleine blaue Blume . . . Gauguin, der (mit Ausnahme für seinen Sohn Clovis, um den er sich mit Hingabe während der Jahre des Elends in Paris kümmerte) sich kaum um seine anderen Kinder gesorgt zu haben scheint, bewahrte immer das Bild seiner Tochter Aline in seinem Herzen. Äußerlich war sie schön, - was nicht dazu angetan war, seiner Künstlerseele zu missfallen und innerlich war sie feinfühlend, auf ästhetische Fragen erpicht, wenig mitteilsam; in sich zurückgezogen, schweifte sie in der verzauberten Welt ihrer Phantasie umher, fern von der kalten und engherzigen Wirklichkeit. Während der seltenen und kurzen Augenblicke, wo Gauguin seine Familie wiedersah, hatte er lange Gespräche mit diesem Töchterchen, das von einer frühreifen Intelligenz und einer beinahe krankhaften Empfindsamkeit war. Er sprach ihr von seiner Kunst, er setzte ihr die Plane auseinander, über die er in seinem Hinbrütete, er entwickelte vor ihr sein Schönheitsideal. Und das junge Madchen begriff und billigte es. Von der ganzen Familie glaubte sie allein an die künstlerische Bestimmung ihres Vaters.

Niemals berührte sie der Zweifel. Ihr Vater hatte ihr seine glühende Überzeugung eingehaucht: sie wusste, dass sie die Tochter eines großen Malers war. Diese unbefangene Anbetung, die er in den Augen dieses Töchterchens las, stärkte wieder seinen Mut, und lange Zeit nachher, als er allein und krank, sich durch nagenden Zweifel niedergedrückt fühlte, rief er sich die tröstende Erinnerung an Aline wach . . .

In Tahiti kam ihm der Gedanke, ein ganzes Tagebuch für seine Tochter Aline zu verfassen. Er kaufte ein einfaches Heft; auf dessen Deckel zeichnete und malte er den stilisierten Kopf einer jungen Polynesierin mit Blumen in den Haaren. In großen Lettern war darauf das Datum 1898 geschrieben.

In diesem Heft findet sich von allem ein wenig, und man spürt, dass der Künstler da bunt durcheinander mit seinen Betrachtungen alles aufgezeichnet hat, was seine Tochter interessieren könnte. Da ist vorn auf der Schutzseite ein schlechter Nachdruck eines Gemäldes von Corot, einer Zeitschrift entnommen. . . . Die erste Seite enthält die Widmung:

„Dieses Tagebuch ist meiner Tochter Aline gewidmet.
Zerstreute Bemerkungen, ohne Folge, wie die Träume, wie das Leben, das ganz und gar aus Bruchstücken zusammengesetzt ist.“
[i]

Unmittelbar darunter hat Gauguin einen Bericht von Jean Dolent geklebt, der für ihn sehr lobend ist.

Gewiss war Gauguin stolz, aber nicht eitel. Eitelkeit ist armselig. Dennoch ist Gauguin, der einen richtigen Begriff seines Eigenwertes hatte, stolz darauf, seiner Lieblingstochter zu zeigen, dass er nicht der Farbenkleckser ohne Zukunft ist, den seine Familie in ihm zu sehen liebt.

Stolz auf diesen ästhetischen Verteidiger, nimmt Gauguin sich das Recht, seine Betrachtungen niederzuschreiben. Einige sind erschütternd. Der Mann, der für seine Kunst gelitten und schwer an ihr zu tragen gehabt hat, schrieb mit einer wilden Freude seine enttäuschten Gedanken über die moderne Kunst und über seine Zeitgenossen nieder.

Aufrichtig sind diese Betrachtungen schon! Während der Künstler sie verfasst, zaubert er vor sich hin ein sanftes und trauriges Gesicht seine Tochter. Er gibt also die Tiefe seiner Seele . . . Aber wer kann denn schwören, vollständig aufrichtig mit sich selbst zu sein? Es besteht immer ein Hintergrund von Komödiantentum . . . Wer weiß, ob Gauguin, trotz des vertraulichen Charakters dieses Tagebuches, nicht die Möglichkeit einer späteren Veröffentlichung ins Auge fasste? Das mag vielleicht den widerspruchsvollen Ton einiger seiner Betrachtungen erklären.

Gauguin, der dieses Tagebuch seiner Tochter Aline widmet, hatte hinzufügen können: [i]„Für meine Tochter, wenn sie zwanzig Jahre alt sein wird“
; denn die Dinge, die den Künstler beschäftigen, sind nicht derart, mit denen man für gewöhnlich die kleinen Mädchen unterhält, denen man noch das Brot in Scheiben schneidet.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Paul Gauguins Lebenskampf 1848-1903
Paul Gauguin 1848-1903

Paul Gauguin 1848-1903

Aline Gouguin

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Mette Sophie Gauguin

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