- 10 - „Ich war immer so sicher unter eurem Schutz,“ sagte Eva, „und doch hat stets etwas, das in grauer Ferne drohte, ...

„Ich war immer so sicher unter eurem Schutz,“ sagte Eva, „und doch hat stets etwas, das in grauer Ferne drohte, vor mir gelegen, ich wußte es nicht klar, nun aber weiß ich es, denn es ist an den hellichten Tag gekommen. Mein - der Mann, der mich einst weggegeben hat, hat sich angefunden. Mutter, Vater,“ sie schrie plötzlich auf, „wie seht ihr mich an? bin ich nicht euer Kind?“
„So leibhaftig, als wärst du unser Fleisch und Blut,“ sagte Frau Gellert. „Und der sollte uns von dir sepparieren? Der soll nur kommen.“ Sie strich heftig über ihre Schürze und warf ihre Haube auf dem Kopfe gerade.
„Was?“ rief Gellert und schlug hart auf den Tisch. „Der Lump, der dich verkauft hat? Er will dich wohl wieder verkaufen?“
„Schäme dich, Gellert, sieh sie nur an. Kind, zwischen uns ist und bleibt alles, alles, alles gut. - Nun also weiter. - Der Mann?“ -
„Er ist da, er ist hier im Orte, er sitzt bei Ollhöft in der Stube und wartet.“
„Wenn er hierher kommen sollte, will ich ihn Ballett tanzen lehren, daß er meint, er flöge just in die Wolken,“ rief der Schlachter grimmig.
„Schweig still, Gellert. Hier müssen wir Frauen allein reden. Weiter, Kind, nur weiter.“
„Ich weiß nicht, wie ich mich zu ihm stellen soll,“ sagte Eva. „Nein, ich weiß es wohl, aber ich kann es nicht, und mir kann keiner helfen.“
„Stellen? gar nicht stellen,“ murrte Gellert.
„Er ist ganz gebrochen .- - und er ist voll Reue - er weint -“
„Heuchelei!“ „Warum ist er nicht längst gekommen?“ „Er will dich nur ausnutzen.“
„Onkel Rektor hat ihn gesehen und meint, es sei Gefahr da, daß er draußen rasch vergeht, und daß dann eine große Schuld auf mich käme, und mein Herz sagt mir, daß ich ihn nicht verlassen darf“
„Sagt das dein Herz, Kind? sagt das gewiß und mit aller Klaretee dein kleines, warmes Herz?“
Eva nickte. „Ich glaube, ich könnte nie wieder ruhig sein, wenn -“
Frau Gellert entschied: „Sagt es das, so ist es richtig, obgleich ich es nicht verstehe.“
„Aber, Frau -“ warf Gellert ein.
„Schweig still, Gellert, du fluchst mir zu viel dabei. Kind, komm zu mir,“ sie streichelte sie zärtlich. „Du tust, was du mußt, und das ist gut. Wir wissen, daß du unser bist und bleibst, dein Herz ist so reich, daß deine Liebe auch für ihn noch die Fülle ausschütten kann und wird nicht arm dabei. Wir haben nicht solche Ressurzen, uns ist das Herz schon zu eng geworden, hier über diese Schwelle darf er nicht kommen, denn ich weiß gewiß, daß ich kampabel bin und ihn brüskiere.“
„Onkel Rektor will sich um ihn kümmern und ihn einstweilen auf die Kammer nehmen, die leer steht,“ sagte Eva.
„Auch das noch,“ rief Gellert, „so nahe sollen wir -“ Aber er verstummte vor einem strafenden Blick seiner Frau.
„Ich danke euch, Vater, Mutter, ich danke euch,“ rief Eva, „nun glaube ich, daß gewiß noch alles gut wird.“
Aber dieser Glaube sollte Eva doch bitter täuschen. Durch die Stadt ging es wie ein heimliches Entzügen über das neue Ereignis, manche entsannen sich des Thoms Ihlenpohl sehr wohl von seiner früheren Anwesenheit in der Stadt her, was der eine nicht wußte, wußte der andere, der und jener war dem Landstreicher auf seinen Geschäftsgängen draußen auf den Dörfern irgendwo begegnet, man legte zusammen und erfand dazu, was fehlte. Der Rektor, der die Kleinstädter kannte, redete im Gasthaus ganz offen
Und frei über die Sachlage und verhehlte nichts, ihm gegenüber schwieg man achtungsvoll und zuckte die Achseln. Aber alles, was man an Mißachtung und Spott über die neue Verbindung des Findelkindes besaß, lud man auf Eva ab. Ja, ja, sie hatte ja immer so seltsam getanzt, das Ballett saß ihr in den Gliebern, nun war es ihr bei Gellerts zu eng geworden und sie hatte sich den verlorenen Vater kommen lassen, wie lange würde es dauern, dann war sie fort, um irgendwo als Ballettmädchen wieder aufzutauchen. Doch nein, in diesen Zeiten gab es ja keine Ballette an Fürstenhöfen mehr, ei, dann würde sie mit dem herzugelaufenen Lumpen im Lande herumziehen und ihre Künste sehen lassen und endlich da angekommen sein, wohin sie schon längst gehört hätte.
Gern hätte man in den Schnapsläden den Fremden selbst vorgenommen, um ihn über seine Pläne auszuhorchen, aber man konnte ihm nicht beikommen. Nur in des Rektors Begleitung wagte er einen längeren Aufenthalt in freier Luft, sonst schlich er scheu über die Straßen und verbarg sich eilig wieder und arbeitete daheim eifrig an der Abschrift eines Schillerschen Dramas, das sich der Rektor geliehen hatte, linierte auch recht gewandt Papier und schrieb leichtleserliche Noten. Höchstens dann, wenn er irgendwo im Hause helfen konnte, kam er herunter, es war ihm bald eine Freude, noch zu sollst etwas außer abschreiben sich anstellen zu lassen; so konnte er denn auch einstmals Mademoiselle Clothilde eine Handreichung tun.
Es handelte sich nur um das Anbringen einer Wäscheleine auf dem Hofe, bei dem er bereitwillig zusprang, und dann fand es sich, daß die beiden sich rasch verstanden; Ihlenpohl sammelte sein Französisch und seine Würde und seine Erinnerungen an die große Zeit vor der Revolution, Mademoiselle war damals in Paris gewesen und hatte das Ballett gesehen. Ob sie sich des Signor Tomilo Pollini erinnerte? Nein, nicht mehr genau, aber der Tänzerin Madeleine Guimard noch ganz deutlich. Und nun wurde der Gedankenaustausch über das versunkene Glück, der auf dem Hofe begonnen war, in der Stube fortgesetzt, im Eifer gab die Dame einige Takte, die ihr noch in Erinnerung waren, an, wie elektrisiert schnellte Ihlenpohl auf und stand in Tänzerhaltung mit leuchtenden Augen. Sie sahen nicht das Komische, das im beiderseitigen Gebaren lag, sie sahen weiter hinaus und ließen den Glanz der alten Zeit bereitwilligst in diese Stube der Kleinstadt leuchten. Das Ende war, daß beide seufzend in die Wirklichkeit zurückkehrten und Mademoiselle in ihrer Gutherzigkeit dem einstigen Signor Pollini einen Taler in die Hand steckte, und daß dieser in der Dämmerung hinausschlich und im Schnapsladen eingefangen wurde und stark betrunten nach Hause zurückkehrte. Das blieb weder Trautmann noch Eva verborgen, und sie brachten schnell genug heraus, wer die Schuld hatte. Clothilde weinte herzzerbrechend vor Eva und bekannte, daß sie zu nichts brauchbar wäre, ihre Welt wäre versunken, sie lebte in der Fremde und wünschte nur, daß sie erst aus dieser gegangen wäre, versprach auch, daß es nicht lange mehr dauern sollte und daß sie dann nach ihrem Tode erst an Eva ein wenig ihre Schuld abtragen könnte. Der Rückfall des Landstreichers wurde sehr schlimm, er erlag wieder völlig dem Schnaps; um ihn sich zu verschaffen, bestahl er seinen getreuen Wächter gern um einige Schillinge, wenn es nur anging. Manchmal kamen die Augenblicke, wo der Rektor sich in trauriger Erkenntnis sagte, daß der Mann trotz aller zartfühlenden Fürsorge Evas schwerlich auch nur an der Oberfläche zu halten wäre; sobald der Frost gewichen, würde er wohl wieder sich aufmachen, um dann irgendwo draußen spurlos zu versinken.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!